Heute ist San Francisco bekannt für astronomische Mieten, Tech-Bros und extreme soziale Ungleichheit. In den Neunzigern genossen junge Menschen hier die letzte unbeschwerte Zeit der für ihre Offenheit berühmten Westküstenmetropole, so auch die Fotografin Chloe Sherman. Als Kunststudentin fing sie an, die lesbische und queere Szene San Franciscos zu fotografieren.
Inspiriert von den Fotos Del LaGrace Volcanos von der Londoner Lesbenszene hielt Sherman ihre eigene Welt aus Femmes, Butches, Punks und Studs fest und füllte ein ganzes Regal mit 35mm Negativen. Eine Auswahl davon gibt es aktuell in der Ausstellung Renegade San Francisco: The 1990s in der Schlomer Haus Gallery in San Francisco zu sehen. Wir haben mit Sherman über den Einfluss der Szene gesprochen, die sie in ihren Bildern dokumentiert hat.
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VICE: Wie wichtig sind historische Darstellungen von lesbischen Frauen für jüngere Generationen?
Chloe Sherman: Ich habe mich ursprünglich als Künstlerin der Fotografie zugewandt, weil ich meine Community zeigen wollte. Rückblickend sind die Bilder allerdings weitaus kraftvoller als queere Geschichte. Queere Geschichte zeigt neuen Generationen Erfahrungen, in denen sie sich wiederfinden, die sie nachahmen oder gegen die sie auch rebellieren können.

Wie war die Szene damals?
Ich kann nur aus eigener Erfahrung sprechen – manche Freundinnen sagen, es sei keine gute Zeit gewesen –, aber wie die Riot-Grrrl-Bewegung in Portland und Seattle waren die Neunziger in San Francisco eine prägende Zeit. Die Mieten waren verhältnismäßig günstig, also strömten junge queere Menschen, Außenseiter, Künstlerinnen und andere in die Stadt, um frei zu sein und einander zu finden. Der Mission-District war voller Bars, Clubs, Tattooläden, Kunstgalerien, Cafés, Buchläden und von Frauen geführten Unternehmen. Eine neue Feminismuswelle schloss Gender-bending und die Butch/Femme-Kultur in ihre Arme.

Was sind deiner Meinung nach die größten Unterschiede zwischen Lesben damals und heute?
Wir wussten immer, dass wir zu einer besonderen Zeit an einem besonderen Ort lebten. Aber damals gab es vielleicht einen noch viel größeren Bedarf, sich gegenseitig zu unterstützen – eine Art Rettungsleine zu bilden. Heute ist es normaler, sich als lesbisch, schwul, trans oder queer zu outen. Aber natürlich haben nicht alle die Möglichkeit und das Geld, um an Orte zu ziehen, an denen man sich sicherer fühlt.
Wir leben hier in den USA momentan in einer wirklich verstörenden Zeit. Immer mehr konservative Gesetze werden verabschiedet, die die Rechte von Frauen und LGBTQIA-Personen einschränken. Wir sind nur einen Wimpernschlag davon entfernt, wieder ein repressives und gefährliches Land zu werden. Deswegen ist die Gemeinschaft so wichtig. Wir brauchen einen Ort, an dem man sich treffen, Spaß haben, man selbst sein und kreativ zu sein kann.

Butches und Femmes spielen in deinen Arbeiten eine große Rolle. Wie wichtig war diese Dynamik und Ästhetik damals?
Es gab Butch/Femme-Stile, aber nicht ausschließlich. San Francisco kann nachts eiskalt sein und tagsüber heiß oder nebelig. Alle gehen überall zu Fuß hin oder fahren mit dem Fahrrad. Entsprechend bestand die Kleidung aus Kampfstiefeln, Lederjacken und Schlüsselketten.
Die jungen Menschen wandten sich in den 90ern vom US-Mainstreamfeminismus der 80er ab, bei dem einem noch jede Aneignung von maskulinen Attributen Verachtung eingebracht hätte. Für eine Generation, die die Regeln zu Geschlechtsidentitäten einreißen wollte, war das eine Einschränkung. Es gab eine Rebellion. Rückblickend war das allerdings eine Wertschätzung der harten Arbeit der vorangegangenen Generationen, die diesen Schritt erst möglich gemacht hatten. Deswegen ist es wichtig, dass junge Menschen heute ein Bild von der Vergangenheit bekommen, damit sie sehen, wie lange es etwas bereits gibt. Du lebst vielleicht in einem kleinen Dorf und denkst, dass du die erste queere Person bist, und dann schaust du dich um und checkst, dass das schon seit 25 oder 30 Jahren passiert.
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