1.875. Das ist die Anzahl von Menschen, die in der ersten Hälfte dieses Jahres auf der Flucht übers Mittelmeer ertrunken sind. SOS Humanity ist eine NGO, die versucht, diese Zahl zu verringern. Leider ist das nicht so einfach, weil die lebensrettende Arbeit tagtäglich von europäischen Behörden erschwert wird. Raphael Schumacher ist Fotograf und Seenotretter und war von Mitte Juni bis Mitte Juli dieses Jahres auf dem Rettungsschiff Humanity 1. Die Aufnahmen aus seiner Fotoreihe all numbers end sind ein kleiner Auszug aus seiner Zeit an Bord.
Auch bei VICE: Was kostet die Flucht nach Europa?
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VICE: Wo ist diese Fotoreihe entstanden?
Raphael Schumacher: Wir haben vom Heimathafen der Humanity 1 in Syrakus abgelegt. Von dort aus sind wir Richtung Tunesien gefahren und haben uns in internationalen Gewässern aufgehalten. Und da sind die meisten Fotos entstanden.
Wie viele Boote mit Geflüchteten habt ihr gefunden?
Neun. Das hört sich vielleicht gar nicht so viel an, aber wir konnten auf dieser Mission 400 Menschenleben retten.
Bist du als Fotograf oder als Retter mitgefahren?
Beides. Die Crew besteht zu einer Hälfte aus einer professionellen Schiffscrew und zur anderen Hälfte aus Freiwilligen, die eine Ausbildung haben, die an Bord wichtig ist. Wir haben zum Beispiel einen Arzt, eine Hebamme, eine Psychologin und einen Übersetzer an Bord. Ich bin als Fotograf mitgefahren, habe aber zu 80 Prozent der Zeit geholfen. Ich hatte wenig Zeit, um mich künstlerisch auszutoben. Ich konnte kein Bild einrichten oder die Motive planen. Ich habe aus der Hüfte geschossen, wenn es zeitlich gerade ging.
Wie läuft eine Rettung ab?
Wir drehen unsere Runden in dem Gebiet, in dem sich Boote mit Geflüchteten befinden könnten. Wenn wir ein Boot finden, steigen wir vom Mutterschiff in kleinere Rettungsboote um. Wenn wir nah genug an den Geflüchteten sind, stellen wir uns vor, überreichen Rettungswesten und bringen die Geflüchteten in Sicherheit.
Und dann bringt ihr die Geflüchteten zum nächsten Hafen?
Schön wärs. Nachdem eine Rettung gemeldet wurde, bekommt man von den Behörden einen sicheren Hafen zugewiesen. Dieser Hafen ist quasi nie der nächstgelegene. Und darin besteht die Schikane. Die Wege, die wir bis zu diesen sicheren Häfen zurücklegen müssen, dauern manchmal bis zu vier Tage. In dieser Zeit entfernen wir uns weit vom Rettungsgebiet und können niemandem helfen. Am Hafen angekommen verlassen die Geretteten das Schiff und wir legen die 4-Tages-Strecke erneut zurück, um wieder in das Rettungsgebiet zu gelangen. Das sind acht Tage, in denen wir komplett raus sind und niemandem helfen können. Das ist ein vollkommen absurder Prozess, aber wir können nichts machen. Wenn wir entgegen der Verordnungen handeln würden, wäre das illegal.
Wie haben die geretteten Menschen auf dich gewirkt?
Überwiegend traumatisiert. Und da geht es nicht um die Flucht über das Mittelmeer, sondern um die Zeit davor, also um die Zeit in ihren Heimatländern. Auf ihren Zwischenstationen wie Tunesien und Libyen werden diese Menschen systematisch verfolgt, vertrieben und verprügelt. Schutzsuchende sind dort rassistischen Anfeindungen, Gewalt von Seiten der Behörden und brutalen Abschiebepraktiken ausgesetzt. Grundsätzlich haben all diese Menschen sehr viel Leid erlebt. Viele möchten darüber sprechen, viele andere haben traumatische Ereignisse aber auch komplett verdrängt und können sich nur schwer erinnern. Andere sind einfach sehr traurig und wieder andere erleichtert, dass sie aus dem Meer gerettet wurden. Grundsätzlich sind aber auch alle sehr hoffnungsvoll. Wenn man fragt, was sie sich für die Zukunft wünschen, sagen eigentlich alle: Peace.
Welches Schicksal geht dir bis heute nicht aus dem Kopf?
Einmal sind wir mitten in der Nacht auf ein Boot mit Geflüchteten gestoßen. Es war etwa 0 Uhr und es hat richtig gestürmt, weshalb die Wellen sehr hoch waren. Zum Glück haben wir das Boot gefunden, sonst hätten die Menschen darauf die Nacht wahrscheinlich nicht überlebt. Ich wollte gerade kurz verschnaufen und mich ausruhen und dann war das Boot plötzlich mitten im Sturm vor uns. Das war absurd. Wir sind dann ganz schnell auf unsere Schnellboote gestiegen. Weil die Wellen so hoch waren, haben wir keine Rettungswesten ausgeteilt, was wir eigentlich immer zuallererst machen. Aber wenn sich die Menschen auf dem Boot vorgebeugt hätten, wären sie womöglich gekentert, weil Wasser übergeschwappt wäre. Normalerweise erklärt man den Menschen natürlich auch die Situation, aber in dieser Nacht haben wir alle so schnell wie möglich auf unsere Rettungsboote gezogen.
Auf dem Boot war unter anderem eine Frau, die im neunten Monat schwanger war. Ich habe auf ihren kugelrunden Bauch geguckt und wie sie da mitten im Meer bei riesig hohen Wellen in diesem Boot saß. Als die Frau in Sicherheit war, haben bei ihr die Wehen eingesetzt. Sie wurde dann notevakuiert und von der italienischen Küstenwache nach Lampedusa gebracht.
Weißt du, wie es der Frau heute geht?
Nein, das weiß ich von keiner geretteten Person. Sobald die Menschen auf unser Schiff kommen, bekommen sie eine Nummer. Alles läuft anonym ab. Es wäre ein zu großer bürokratischer Akt, alle Menschen namentlich festzuhalten. Außerdem schützen wir so ihre Persönlichkeitsrechte. Wenn die Menschen das Schiff verlassen, bekommen sie von den italienischen Behörden eine neue Nummer zugewiesen. Deshalb heißt meine Fotoreihe auch all numbers end. Wenn alle Geretteten nur irgendwelche Nummern sind, werden sie natürlich total entmenschlicht.
Welches Foto aus der Reihe findest du am stärksten?
Ich finde das Schwarzweißfoto sehr stark, auf dem einer der Geretteten seine Augen ganz weit aufreißt. Das triggert mich irgendwie. Ich habe diesen Ausdruck so oft in den Gesichtern der Menschen gesehen. Ich kann diesem Blick gar keine eindeutige Emotion zusprechen. Manchmal haben die Menschen so geguckt, wenn sie panische Angst hatten, manchmal, wenn sie total erleichtert und manchmal, wenn sie euphorisch waren. Auf jeden Fall gucken so Menschen, die gerade etwas sehr intensiv fühlen.
Warum ist diese Fotostrecke wichtig?
Ich möchte auf diese menschengemachte Tragödie hinweisen. Ich glaube, dass unser Gehirn irgendwann auf Durchzug schaltet, wenn es ein und dieselbe Meldung immer und immer wieder vorgesetzt bekommt. Aber es sterben nun einmal täglich Menschen im Mittelmeer. Das sind die Konsequenzen der menschenverachtenden Abschottungspolitik der EU. Ich hoffe, dass meine Fotos eine menschlichere Perspektive auf die durchnummerierten, anonymen Geflüchteten ermöglicht.
Hat sich irgendwas in dir geändert, nachdem du bei einer Seenotrettung dabei warst?
Als ich den Menschen geholfen habe, ist mir die Sinnlosigkeit meiner eigenen Sorgen bewusst geworden. Auf dem Schiff habe ich die Mitteilung darüber bekommen, dass ich einiges an Steuern nachzahlen muss. Das hat mich in dem Moment total genervt und dann dachte ich: Moment, das ist total irrelevant. Oder, wenn ich den Bus verpasse und mich darüber aufrege. Bullshit. Das sind alles keine echten Probleme. Mir ist klar geworden, dass ich echt Glück hatte, dass ich auf diesem Fleck Erde geboren wurde und nicht woanders.
Ich fühle mich seit der Mission generell ein bisschen deplatziert. Ich hatte heute zwei Calls mit ehemaligen Crewmitgliedern, die immer noch struggeln und alles irgendwie noch verarbeiten müssen. Auch Wochen später. Das sind Erfahrungen, die einen nicht so schnell loslassen.
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