Zugfahrten, das weiß jeder, der schonmal in einem überfüllten ICE gesessen hat, sind oft nur mit Alkohol zu ertragen. Was wir bisher aber nicht wussten: dass es nicht nur uns so geht, sondern auch den Leuten, die dafür bezahlt werden, im Zug zu sitzen – den Lokführern.
Das legt zumindest eine aktuelle Meldung nahe: Am Dienstagabend wurde ein Lokführer mit 2,49 Promille aus der Spitze seines ICEs gezogen, nachdem er einfach an der ehrwürdigen Stadt Wittenberg vorbeigerauscht (höhö) war, in der er eigentlich hätte halten sollen. Das berichtet die Mitteldeutsche Zeitung. Die Bahn selbst hat den Vorfall bisher weder bestätigt noch geleugnet, sondern laut der Zeitung nur erklärt, es habe da eine “Verzögerung im Betriebsablauf” gegeben. Was natürlich eine ganze Menge Fragen aufwirft. Fangen wir mit der offensichtlichsten an:
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1. Wie kam der Alkohol in den Zugführer?
Durch den Mund! Jaha, sehr witzig, das ist mir schon klar, aber: Der Zug kam aus Hamburg, was bedeutet, dass er schon mindestens zweieinhalb Stunden unterwegs gewesen sein musste (so lange dauert das, ich habe das nachgeschaut). Was wiederum bedeutet, dass der Lokführer entweder
a) schon vor seinem Einstieg in Hamburg so viel gesoffen hatte, dass er zweieinhalb Stunden später immer noch auf 2,49 Promille kam, oder
b) dass er sich während der Fahrt mit relativ sportlicher Geschwindigkeit genug Zeug reingeknallt hat, um in zweieinhalb Stunden auf 2,49 Promille zu kommen.
Beides ist beeindruckend, allerdings nicht auf die gute Art. Um auf 2,49 Promille zu kommen, muss ein 40-jähriger Mann (1,75 Meter groß, 80 Kilo schwer) mehr als sieben große Biere trinken, sagt dieser Promillerechner. Das sind aber oft nur Richtwerte – jemand, der viel Alkohol gewohnt ist, kann oft deutlich mehr trinken, bevor er diese Konzentration erreicht. Und seien wir ehrlich: Irgendetwas sagt uns, dass ein Typ, der sich mit 2,5 Promille im Blut noch zutraut, seinen Zug zu fahren, vielleicht kein totaler Novize beim Saufen ist. Und das bringt uns zur nächsten Frage:
2. Wieso … wieso hat das niemand bemerkt?
Wir wissen nicht, wie die kollegialen Verhältnisse unter Bahn-Menschen so sind, aber: Sieht niemand den Zugführer, bevor er in die Kabine* steigt? Die Kabine, in der er dann einen über 600 Tonnen schweren, mit Menschen befüllten Zug auf 250 km/h beschleunigen kann?
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Und wenn ihn niemand beim Einsteigen beobachtet hat – vielleicht macht der Mann das nicht zum ersten Mal, vielleicht hat er eine clevere kleine Routine entwickelt, um ungesehen in seine Kabine zu schlüpfen und dann nur noch über Funk mit seinen Kollegen zu kommunizieren –, kommt dann auch später nie mehr irgendjemand in diese Kabine? Niemand, der einfach reinschneit und mal nachfragt, ob der Jochen auch einen Kaffee will, ups sorry, jetzt bin ich gegen deine Bierdosen getreten, nichts für ung– ALTER!!!! WARUM SIND HIER ÜBERALL BIERDOSEN, JOCHEN? JOCHEN? BIST DU BEWUSSTLOS? SAG MAL BIST DU BESCHEUERT? DU STEUERST GERADE EINEN ÜBER 600 TONNEN SCHWEREN, MIT MENSCHEN BEFÜLLTEN ZUG MIT 250 km/h DURCH SACHSEN-ANHALT, OH MEIN GOTT WIE BREMST MAN HIER WIR SIND GLEICH IN LEIPZIG OH MEIN GOTT OH MEIN GOTT!
Offenbar nicht.
3. Wie gehen die Wittenberger damit um, dass sie einfach vergessen wurden?
Wittenberg, Wolfsburg, Göttingen, Uelzen – alle diese Orte, das hat Spiegel Online etwas hämisch zusammengetragen, haben etwas gemeinsam: Sie werden gerne mal von Zugführern vergessen, und zwar auch von nüchternen.
So hart das klingt: Das war nicht das erste Mal, dass ein ICE einfach an Wittenberg vorbeigedonnert ist – das letzte Mal war erst 2017, und da musste der Zugführer dann zurücksetzen und sich wahrscheinlich auch über Bordfunk entschuldigen bei all den Wittenbergern, die da rauswollten, und da stellt sich natürlich schon die Frage: Wie gehen diese Menschen damit um? Was macht das mit einem, wenn einem so unmissverständlich vorgeführt wird, dass der eigene Wohnort – und damit ja irgendwie auch die ganze Existenz – anderen so dermaßen egal ist, dass sie sie komplett vergessen?
Denn eins ist klar: Leuten, die in Berlin, London oder New York wohnen, denen passiert sowas nie. Das passiert nur Wittenbergern, Wolfsburgern, Göttingern und Leuten aus dieser anderen Stadt, deren Namen ich bereits vergessen habe.
Vielleicht ist das aber auch in Ordnung. Vielleicht sind die Menschen, die in solchen Städten leben, auch genau die Sorte Mensch, der sagt: Gut so! Passt mir sehr gut, wenn ihr einfach vergesst, dass es meine Stadt und mich und meine Familie und meine ganze Existenz gibt. Mit euch arroganten Großstadt-Arschlöchern will ich gar nichts zu tun haben! Uns geht es sehr gut in Wittenberg, bleibt ihr nur weg!
Und dann bauen sie sich still und geduldig riesige Landschaften für Modelleisenbahnen in ihre Keller, in denen sämtliche Gleise nur Wittenberg, Wolfsburg, Göttingen und Uelzen verbinden, während die Modellversionen von Berlin, München und Hamburg völlig isoliert, brach und unangebunden in der Plastiklandschaft herumliegen und auch nie entstaubt werden, so dass sie mittlerweile aussehen wie winzige Totenstädte. Und so gefällt das den Wittenbergern, da lachen sie dann ein leises, bitteres Lachen in ihren Kellern, diese zivilisationsfeindlichen Freaks!
4. Oder war das sogar … ABSICHT?
Wisst ihr, wofür Wittenberg bekannt ist? Euch natürlich nicht, aber eben gebildeten Menschen?
Dafür, dass Luther hier 1517 seine Thesen an die Kirchtür angeschlagen und damit die Reformation ausgelöst haben soll. Der Stadt ist das so wichtig, dass sie sich 1938 offiziell in “Lutherstadt Wittenberg” umbenannt hat.
Wär es also nicht auch möglich, dass der Lokführer Katholik ist und dass er, vom Alkohol zum Glaubenskrieger aufgepeitscht, mit voller Absicht an der Stadt vorbeiraste? Um sich zu rächen für eine historische Entwicklung, die man ja durchaus kritisieren kann – immerhin hat sie uns den Dreißigjährigen Krieg, das Königreich Preußen und (noch schlimmer!) den protestantischen Arbeitsethos eingebrockt! Sind alle diese Dinge wirklich besser als ein bisschen harmloser Ablasshandel? Just saying!
5. Wie oft passiert sowas?
Wie eingangs erklärt, hat die Bahn sich etwas schmallippig darauf beschränkt, “Verzögerungen im Betriebsablauf” als Grund für die Verspätung anzugeben, die der Vorfall verursacht hatte. Was natürlich sofort die Frage aufwirft: Ist das Bahnsprech für “Der Lokführer ist voll wie Tausend Haubitzen”? Bedeutet es das jedes Mal, wenn wir das hören? Ist das der Grund für die regelmäßigen Verspätungen im deutschen Bahnnetz? Und wenn Ja: Sollte die Bahn vielleicht mal darüber nachdenken, warum ihre Angestellten während der Arbeit betrunken sein wollen?
Wir wissen es nicht. Wir haben der Bahn aber geschrieben und sie um Aufklärung gebeten. Sobald wir etwas von denen hören, sagen wir euch hier Bescheid. Bis dahin verabschieden wir uns von allen Lesern, sagen Dankeschön für ihre Zeit bei VICE und Tschüss und auf Wiedersehen!
Update vom 10.1.2019, 16.40 Uhr: Die Bahn hat uns mittlerweile geantwortet und bestätigt, “dass der Lokführer des ICE 993 Dienstagabend in Bitterfeld abgelöst wurde.” Sie bestätigen zwar immer noch nicht direkt, dass der Mann besoffen war (das hat mittlerweile aber die Bundespolizei getan), aber fügen trotzdem hinzu, dass “im Führerstand unserer Züge gilt ganz klar die Null-Promille-Grenze” gelte und Zuwiderhandlungen “umgehend und streng geahndet” würden. “Der Mitarbeiter wird bis auf Weiteres nicht mehr eingesetzt.” Tut uns leid, Jochen.
*Das richtige Wort für die Kabine ist eigentlich “Führerstand”, aber das ist mir zu sperrig, deshalb verzichte ich bewusst darauf. Schreibt mir doch einen bösen Leserbrief, Bahn-Nerds!
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