Als der dreijährige Aylan Kurdi im September letzen Jahres tot am Sandstrand lag, verbreitete sich sein Foto wie ein Lauffeuer. Ähnlich wie das nackt vor Napalmbomben fliehende Mädchen im Vietnamkrieg wird er in unser kollektives Gedächtnis als eine Ikone der Grausamkeit eingehen. Das mediale Interesse war enorm. Aberhunderte Berichte aus aller Welt, in Frankfurt wurde der Junge als 120 Quadratmeter großes Graffiti von den Künstlern Oguz Sen und Justus Beckeran an einer Wand verewigt, selbst der momentane Papst für engagierte Kunst, Ai Weiwei, ließ es sich nicht nehmen, mit der Nachstellung des Motivs einen (leeren) Kommentar zu setzen:
Vor wenigen Tagen nun veröffentlichte die deutsche Seenotrettung Sea-Watch ebenfalls ein Foto von einem toten Kind. Es war diesmal noch jünger, ein Säugling, rausgefischt aus dem Mittelmeer. Das Baby soll sich auf einem Boot mit 350 Flüchtlingen aus Libyen befunden haben, das auf dem Weg nach Italien kenterte. Auf dem Foto hält ein freiwilliger Helfer das Kind im Arm, Sea-Watch erklärt, warum es sich für die Veröffentlichung entschied: “Wenn wir solche Bilder nicht mehr sehen wollen, müssen wir dafür sorgen, dass es sie nicht mehr gibt.” Damit will die gemeinnützige Initiative ihrer Forderung nach Einrichtung von neuen Fluchtrouten Ausdruck verleihen, die einen “legalen und sicheren Eintritt in die EU” ermöglichen. Seitdem Landwege wie die Balkanroute dicht gemacht werden, fliehen die Menschen wieder zunehmend über die gefährliche See.
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Nun könnte man meinen, dass das mediale Echo auf den toten Säugling ähnlich hohe Wellen schlagen würde, wie es bei Aylan Kurdi der Fall war, stattdessen ähneln die Reaktionen einem Sturm im Wasserglas. Es gibt ein paar Online-Berichte, etwas Facebook hier, wenig Twitter da, aber eine zweite 120 Quadratmeter Graffiti-Wand wird es wohl nicht mehr geben. Warum? Warum fällt unser aller Reaktion so still aus? Und wie ist diese Stille zu bewerten—gut oder schlecht?
Sie als weiteres Zeichen der Entmenschlichung zu lesen, wäre eine Möglichkeit. Gewohnheit ist eine subjektive Notwendigkeit, heißt es bei Hegel und als Europa vor einem Jahr von den flüchtenden Menschenmengen auch emotional überrumpelt wurde, half die Gewohnheit über die Zeit hinweg selbst mit diesem Grauen umzugehen. Gewohnheit macht alles erträglich, sogar kenternde Flüchtlingsboote. In dem Sinne wäre der ertrunkene Säugling nur eine weitere Kerbe im Grauen, das zum Alltag wurde.
Oder es liegt am fehlenden Namen. Der stiftet Identität und sie wiederum ist wichtig, wenn Empathie gelingen soll. Auf der einen Seite hatten wir da Aylan Kurdi, mit seinem rotem T-Shirt und der blauen Hose, der an den Prachtstrand von Bodrum, dem türkischen Saint-Tropez, herangespült wurde (welch’ Kontrast!) und auf der anderen Seiten haben wir einen nackten, namen- und elternlosen Menschenrohling, der im Niemandsland umhertrieb. Ein Kind ohne Eigenschaft kann nur schwerer Mitgefühl erwecken. Aylan Kurdi dagegen hatte noch eine außerordentliche Geschichte hinter sich: Sein Vater soll angeblich selbst ein Schlepper von Flüchtlingen gewesen sein. Tragischer geht es kaum. Das junge Leben von Aylan Kurdi war schicksalsschwer beladen, Baby X kam überhaupt nicht mal dazu, eins zu haben.
Aber vielleicht ist das alles nur Quatsch und entspringt einer zu verbitterten Weltsicht, wie sie in ihrem quengelnden Ton sonst nur auf Montagsdemos zu finden ist; denn wer sagt, dass unser aller Reserviertheit nicht nobel und ein Ausdruck von Pietät sein kann? Schweigende Anteilnahme—oder sogar stiller Protest, weil die Leute einfach angepisst sind, emotional immer wieder mit solchen Bildern geködert zu werden. Womöglich stehen die guten Absichten, die Sea-Watch mit diesem Foto bezwecken wollte, dem Effekte des Fotos selbst im Wege, und es kann deshalb nicht seine volle Kraft als Sinnbild für eine historische Schieflage entwickeln, weil es diese Schieflage durch die Inszenierung zu sehr erzwingt. Andererseits ist es völlig makaber, in solchen Fällen von Authentizität zu sprechen, zumal sich die Frage stellt, was denn unauthentisch an einem toten Säugling auf dem Arm eines um Gefasstheit ringenden Helfers sein soll.
Und doch kommen wir um diese und ähnliche Fragen nicht umhin, weil sie uns irgendwann zu Antworten führen könnten, wie in Zukunft mit solchen Bildern umzugehen ist. Und sei es nur von der Seite von uns Medien aus, denn bis heute besteht keine Einigkeit darüber, ob und wie solche Fotografien publiziert werden sollten: Der Tagesspiegel zum Beispiel bringt sie unretuschiert heraus. Dieser Einstellung liegt vermutlich die gleiche Überzeugung zu Grunde, wie sie Sea-Watch selbst besitzt und zwar, dass nur die ungeschminkte Wahrheit die Menschen wachrütteln kann. Auf der anderen Seite gibt es auch genügend gute Argumente, die Geschichte nicht so aufzuziehen, wie der Tagesspiegel es tat. Ein Königsargument wird es in dieser Sache sowieso nicht geben, was nicht bedeutet, dass darüber nicht diskutiert werden sollte.
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