Elena Anosova hat ihre Teenagerjahre in einem russischen Internat verbracht. “Es war eine abgeschottete Gemeinschaft mit eigener Hierarchie und Regeln”, sagt sie. Diese Erfahrung hat sie zu einer Arbeit über Frauen in russischen Arbeitslagern inspiriert.
In Russland hat es lange Tradition, männliche und weibliche Gefangene als kostenlose Arbeitskräfte einzusetzen. Die heutigen “Strafkolonien” sind direkte Nachfolgeinstitutionen des sowjetischen Gulags der 1930er Jahre. Sie sind die verbreitetste Form der Strafanstalt im ganzen Gebiet der ehemaligen Sowjetunion.
Videos by VICE
Die Fotografin Elena Anosova hat Zugang zu einigen dieser Frauenkolonien bekommen und die Insassinnen fotografiert. Hier erzählt sie, was sie gesehen hat und warum in Russland so viele Frauen in Gefängnissen landen.
VICE: Ursprünglich hattest du geplant, Internate zu fotografieren. Warum der Wechsel zu Gefängnissen?
Elena Anosova: Die Zeiten haben sich geändert. Die Internate sind heute viel besser als in den 90ern, als ich dort war. Ich habe dann also nach etwas anderem gesucht und bin schließlich bei den Strafkolonien gelandet.
Wie hast du Zugang zu diesen Orten bekommen?
Acht Monate hat es gedauert, die Erlaubnis zu bekommen. Viele Menschen haben mir dabei geholfen. Außerdem haben die Gefängnisverwaltungen gemerkt, dass ich keine Journalistin bin. Das hat extrem geholfen. Im August 2014 habe ich die erste Anstalt besucht, aber ich arbeite immer noch an Teilen des Projekts.
Wie sieht ein russisches Frauengefängnis aus?
Oft ist eine Strafkolonie der einzige Arbeitgeber in kleinen abgelegenen Dörfern. Auf eine Kolonie für 900 Gefangene kommt manchmal ein Dorf mit nur 400 Einwohnern. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ich fotografiert habe, waren vor allem junge Frauen und Männer, die aus den Städten in die Dörfer zurückgekehrt waren, um sich um ihre Eltern zu kümmern. Einige dieser Familien arbeiten seit Generationen im Gefängnissystem.
Dazu gibt es diesen Kontrast. In der Kolonie leben die Gefangenen auf engstem Raum, draußen herrscht unglaubliche Weite und man trifft kaum auf andere Menschen.
Auch bei VICE: Die Geschichte eines erzwungenen Geständnisses
In den Frauengefängnissen ist fast die Hälfte der Belegschaft weiblich, inklusive der Direktorinnen. Alle Insassinnen arbeiten, vor allem für die Textilindustrie. Es sind abgeschlossene Orte mit eigenen Hierarchien. Es herrscht ständig viel Gewalt, die sowohl vom Personal als auch den Mithäftlingen ausgeht.
Laut Berichten von Journalisten und Menschenrechtsaktivistinnen ist Folter in russischen Haftanstalten an der Tagesordnung. Allein dieses Jahr sind sechs Menschen gestorben. Dazu kommen noch 15 weitere, die an Elektroschocks gestorben sind, zwölf weitere sind erstickt oder erdrosselt worden.
Wie haben die Insassinnen auf dich reagiert?
Die ersten paar Wochen habe ich gar keine Fotos gemacht. Wir haben nur geredet, Tee getrunken und uns aneinander gewöhnt. Einige der Insassinnen sahen in mir eine Freundin, andere eine Schwester oder eine Tochter. Ich war von Anfang an ehrlich und habe ihnen gesagt, dass ich die Fotos für ein persönliches Projekt mache. Ich habe nicht so getan, als würde mein Projekt ihre Welt verändern. Für mich war es eine Art Bewältigungstherapie und sie haben sich bereit erklärt, daran teilzuhaben.
Gibt es ein Muster, warum diese Frauen im Gefängnis landen?
In Russland haben wir ein ernsthaftes Problem mit häuslicher Gewalt und Gewalt im Allgemeinen. Es ist in unserer Gesellschaft verpönt, Familienangelegenheiten außerhalb der Familie zu besprechen. Die Gewalt kann sich also über eine lange Zeit vollziehen, bis es die Frauen nicht länger ertragen.
Mich hat die Geschichte einer Großmutter schockiert, die den Mann ihrer Tochter getötet hat. Er hatte ihre Tochter ständig geschlagen und den beiden fünfjährigen Enkelinnen die Arme gebrochen. Die Frau erinnert sich nicht mehr daran, wie sie ihn umgebracht hat.
Mein Land ist immer noch sehr traditionell, sehr patriarchisch. Das lässt sich vor allem auf dem Land beobachten. Wir haben dieses Sprichwort: “Schläge bedeuten Liebe.” Es ist traurig, aber bei uns ist das eine akzeptierte Sichtweise.
Für die Fotos sollten manche Frauen ihre Lieblingsgegenstände präsentieren. Was hast du da so gesehen?
Viele verschiedene Sachen, weil die Frauen ja alle anders sind. Manche zeigten mir Blumen, um die sie sich kümmern, andere hingegen Dinge, die ihnen von zu Hause zugeschickt wurden: Bücher, Bibeln, Katzen, Deko.
Du warst in drei verschiedenen Gefängnissen. Verhielten sich die Frauen in den unterschiedlichen Einrichtungen anders?
Ich besuchte drei Strafkolonien, eine für Ersttäterinnen, eine für Wiederholungstäterinnen und eine für Verurteilte mit moderaten Strafen. Es ist wichtig, die Ersttäterinnen von den Rückfälligen fernzuhalten, weil man immer aufeinander abfärbt.
In dem Lager für die Wiederholungstäterinnen hatten die Frauen weniger Hoffnung für ihre Zukunft. Viele von ihnen stehen in den Porträts mit leeren Händen da, weil sie entweder nichts mehr haben oder sich laut eigener Aussage für nichts mehr interessieren.
Was hast du durch dein Projekt gelernt?
In Russland fehlt die Grundlage, um die Menschen zu unterstützen, die aus dem Gefängnis entlassen werden. Viele von ihnen haben nichts mehr – weder einen Ort zum Wohnen noch Menschen, die ihnen helfen. Ihnen haftet ein Stigma an, sie gelten als kriminell. Ohne Job sind sie oft gezwungen, weitere Verbrechen zu begehen, um sich irgendwie durchzuschlagen. Sie wollen ihren Eltern nämlich auch nicht auf der Tasche liegen.
Ich habe diese Fotos geschossen, um darauf aufmerksam zu machen, dass diesen Frauen nach ihrer Freilassung dabei geholfen werden muss, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Wir müssen die Öffentlichkeit mehr darüber informieren, was in den Gefängnissen abgeht. Uns fehlt es an Toleranz, Mitgefühl und Bewusstsein.
Welches Gefühl hattest du nach so vielen Besuchen in verschiedenen Gefängnissen?
Was mir richtig naheging: Auch im Gefängnis hören diese Frauen nicht auf, Mütter, Schwestern, Lehrerinnen, Freundinnen, Großmütter oder einfach hübsche Mädchen zu sein.