Der Weg vom Bahnhof Frauenfeld zum Festivalgelände des gleichnamigen Openairs ist wohl allen HipHop-Fans so bekannt, wie der Weg vom Bett zum Kühlschrank. Gäbe es das HipHop-Openair nicht, würde sich wohl kein Schwein für die Kleinstadt Frauenfeld interessieren. Wir wagen den Schritt weg vom schlammigen Zeltplätzen und überteuertem Festivalbier – denn wir wollen wissen, was Frauenfeld zu bieten hat, wenn es nicht gerade die HipHop-Hauptstadt ist.
Der Abend beginnt richtig gesittet – am grössten Glühweinstand der Kleinstadt. Bereits um 21 Uhr torkeln warm eingepackte Frauenfelder und Frauenfelderinnen laut johlend an uns vorbei und drängen sich in die schier endlose Schlange vor der Weihnachtsbar. Der Glühweinstand ist um diese Zeit der Hotspot der Stadt. Wir stossen mit heissen Glühweinstiefeln mit Daif an, der uns heute Nacht durch seine Hood führt. Das dumpfe Klirren der Tassen läutet unsere Nacht in Frauenfeld ein.
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Schon bald sind wir von Daifs Freunden umgeben, die sich mit ihrem dampfenden Glühwein in unsere Runde stellen. Darunter Tommy. Auf die Frage, was er an Frauenfeld mag, antwortet er: “Hier arbeiten die Kulturschaffenden auf dasselbe Ziel hin – nämlich, Frauenfeld zu beleben”, sagt er. Dadurch erlebe vor allem die hiesige Live-Musikszene eine grosse Vielfalt und die Events seien meist sehr gut besucht. “In einer kleinen Stadt musst du die Szene selbst machen”, ergänzt Daif, der sich frierend an seine warme Tasse klammert.
Wir schlürfen die letzten kühl gewordenen Tropfen aus unseren roten Stiefeln. “Wow, du grinst aber schön!”, lallt der Typ hinter mir direkt in mein Ohr. Er heisst Toby und steht sichtlich nicht zum ersten mal heute Abend für einen Glühwein an. Im nächsten Moment torkelt Toby einige Schritte rückwärts in ein lachendes Grüppchen rein. Die junge Frau neben ihm beobachtet die Szene und lacht. “Wollt ihr einen Cupcake?”, fragt sie in die Runde. Alle lehnen etwas verdutzt aber dankend ab.
Dieser etwas kontextlose Gesprächseinstieg endet in einer philosophischen Debatte über Glück, Mut und irgendwas mit Hamsterrädern. Klassischer Glühwein-Talk. Uns zieht’s in die nächste Bar, also schlendern wir der menschenleeren Strasse entlang Richtung Dreiegg.
Wir steuern direkt das Fumoir der Bar an. Das Dreiegg ist ab 21 und führt normalerweise ziemlich strenge Alterskontrollen durch. Doch heute Abend kommen wir rein, ohne unseren Ausweis zeigen zu müssen. “Die wollen halt keine Kids hier drin”, erklärt Daif. Wir setzen uns an den langen Stammtisch und bestellen ein Bier. Der Raum ist spärlich beleuchtet – blass schimmernde, farbige Lämpchen an der schwarzen Wand und eine grosse Discokugel sind die einzigen Lichtquellen, die unsere Ecke der Bar erhellen. “Praktisch jeder Abend fängt hier an”, sagt Daif. “Und wenn du herkommst, kennst du ganz bestimmt jemanden.”
Seine Aussage bestätigt sich Sekunden später: Ein bekanntes Gesicht taucht hinter Daif auf. Es ist Tommy, der sich spontan zu uns setzt. “Ich bin euch gefolgt”, sagt er mit einem schelmischen Grinsen und schlürft an seinem grossen Bier.
Welchen Einfluss hat das Openair auf das Frauenfelder Nachtleben? “Die lokalen Events und das Openair laufen nebeneinander. In den Läden hat’s mehr Leute, sonst merkt man in der Stadt vom Openair nicht viel”, sagt Tommy. Wir unterhalten uns über lokale Bands aus Winterthur und Frauenfeld. Die Welt ist winzig, denn offenbar habe ich Daifs Band Franky Four Fingers auch schon live gesehen.
MUNCHIES-Video – Der grösste Bierkeller der Welt
Die Bar füllt sich langsam. Es ist 22 Uhr und housiger Elektro-Sound setzt ein. Da stösst eine Frauenfelder Prominenz zu uns. Johannes Eiholzer ist mit seinen 28 Jahren einer der jüngsten Stadtratskandidaten. Seine Partei hat den grandiosen Namen Chrampfe und Hirne, auch simpel “CH” genannt. Die Partei setzt sich unter anderem auch aktiv für eine lebendige Kulturszene in der Stadt ein. Immer wieder werfen uns umstehende Gäste neugierige Blicke zu – doch diesmal nicht wegen der blitzenden Kamera. Johannes’ hundertfach vergrössertes Gesicht ziert nämlich gerade mehrere Plakate in der Altstadt.
Wir nutzen diese Gelegenheit, um mit ihm über die politische Stimmung in der Stadt zu quatschen. “Die Leute hier sind grösstenteils tolerant und nicht so polarisiert wie im restlichen Thurgau”, sagt der Jungpolitiker. “Die Stadt hat die PEGIDA Schweiz in Frauenfeld verboten, weil sie auf die noch viel grössere Gegendemo keinen Bock hatte. Ich finde, das widerspiegelt die Stimmung hier ziemlich gut.”
Wir schauen uns im Raum um. Sind die Fumoirs hier immer so gross? “Es gibt ein Gesetz – natürlich”, erklärt Daif. “Sobald eine Bar grösser als 80 Quadratmeter ist, braucht sie ein separates Fumoir.” Doch die Bars versuchen, dieses Gesetz zu umgehen, indem sie ihre Räume absichtlich etwas kleiner bauen. Nach weiteren zwei Gläsern, verlassen wir etwas beschwippst die dunstige Bar.
Auf dem Weg zur Eventhalle KAFF machen wir kurz Halt in deren Büro. Das gesamte Haus wird als Zwischennutzung für soziale und kulturelle Projekte vermietet. Wir lernen Anna kennen, die für’s KAFF arbeitet.
Im rötlich beleuchteten Raum stossen wir mit Prosecco in Plastikbechern an und machen uns zu viert auf den Weg zum KAFF. Die Altstadt ist menschenleer. “Sie wollten die Altstadt eigentlich ein bisschen beleben”, erzählt Anna. “Doch statt Bars oder Clubs haben sie einfach neue Läden hingestellt. Gentrifizierung eben.”
Im KAFF angekommen, bestellen wir uns erstmal was Koffeinhaltiges. Die bevorzugte Mate-Alternative der lokalen Hipster heisst Disco Limo und putscht ganz schön auf. Gut so, schliesslich haben wir noch eine lange Nacht vor uns.
Auf der nebligen Tanzfläche bewegen sich höchstens 15 Leute zum House-Sound des rund 40-jährigen DJs. Rotierende Scheinwerferlichter erinnern an die erste Elektro-Party, die man mit 16 endlich besuchen durfte. Von der man dann um Mitternacht von Mutti abgeholt wurde. Nach fünf Minuten auf dem Floor einigen wir uns auf eine Zigarettenpause.
Wie alle Raucherinnen und Raucher wissen: Die richtige Party steigt in der Raucherecke. Hier treffen wir Johannes wieder an und auch Oli wechselt mit uns ein paar Sätze. Oli arbeitet seit etwa einem halben Jahr im KAFF als Barkeeper und schätzt die vielfältige Szene in Frauenfeld. Bei ihm bestellen wir auch gleich unseren zweiten Drink: den Moschtblock.
Der Moschtblock ist ein gefährlicher Mix aus Thurgauer Apfelmost und Büffelgraswodka – ein Klassiker, wie man uns sagt. Der schmeckt nicht nur, sondern haut auch ordentlich rein.
Zweiter Tanz-Versuch. Wir platzieren uns etwas gehemmt auf die geräumige Tanzfläche und versuchen in den Vibe einzutauchen. Nach einer halben Stunde erzwungenen Kopfnickens stehen wir wieder draussen. Diesmal treffen wir Nico, der anbietet, uns zur nächsten Party zu fahren. Kaum gesagt, sitzen wir in seinem Auto und machen uns auf den Weg zum Hotel Domicil. Es ist 1.00 Uhr. Die Strassen sind immer noch leer.
Im Domicil steigt eine privat organisierte Technoparty. Schon ein komisches Gefühl, in ein einigermassen nobles Hotel rein zu torkeln. Auch hier läuft House. Doch diesmal mit bisschen mehr Techno-Einflüssen als zuvor. Mit einem kühlen Bier in der Hand stellen wir uns in die umfunktionierte Hotel Lobby vor das DJ Pult. Von der Decke hängen grün und violett beleuchtete Papierquallen. Das Licht verwandelt den Saal in eine Art Gewächshaus – doch statt blühenden Pflanzen finden wir einen Haufen glücklicher Raver vor.
Der Sound gefällt mir immer besser. Wir tanzen, lachen, führen auf der Terrasse tiefgründige Gespräche und werden von irgendwelchen Leuten umarmt. So. viel. Liebe! “Das einzig nice hier ist der Kontrast zwischen dem Partylicht und der Konferenzsaal-Beleuchtung”, sagt Daif, sichtlich nicht ganz so begeistert von der Party, wie ich es bin. Deshalb bleiben wir auch nicht allzu lange. Nach einem weiteren Bier und einem Wodka-Lemon rufen wir ein Taxi.
Vor der Garderobe beobachten wir einen lauten Streit, der draussen in einer Schlägerei mit der Security endet. Grosses Ghetto in der kleinen Stadt. Zum Glück kommt schon bald unser Taxi um die Ecke gebogen.
Letzte Station: Schlosskeller. Schon beim Betreten des Clubs dröhnt uns der HipHop-Soundtrack von Step Up entgegen. “Fuck, das ist einfach der Kommerz-Club dieser Stadt mit überteuertem Super Bock!”, brüllt uns Daif entgegen und holt uns ein Super Bock.
Hier ist der Vibe definitiv ein anderer. Frauen in knappen Röcken, Männer mit eng anliegenden Shirts in weissen Sneakers und nach hinten gekämmten Frisuren. Es dauert keine zehn Minuten, bis sich genau so ein Kerl in unsere kleine Runde einnistet und sich mit Antanzen versucht. Der DJ legt weiterhin 2000er HipHop auf. Da hilft nur noch Alkohol. Wir haben unser Zeitgefühl schon längst verloren. Es dürfte etwa 4.00 Uhr sein. Wir flüchten ins Fumoir. “Was machst du da? Schreibst einen Song?”, lallt ein vorbeigehender Typ in die Runde, wartet aber nicht auf eine Antwort sondern torkelt lachend weiter.
Wir haben auch gelacht. Warum? Keinen Schimmer. Aber es war bestimmt lustig.
Die lange Nacht in Frauenfeld wird im Backstage des KAFF abgerundet, wo praktisch alle Leute, die wir kennengelernt haben, wieder zusammenfinden und einen Joint rumreichen. Das rötliche Licht und die LoFi-HipHop-Beats, die aus den grossen Lautsprechern wummern, sorgen für die perfekte After-Party-Atmosphäre. Sogar der angehende Stadtrat trägt seine langen Haare offen.
Letzter Zug? Schon lange weg. Zum Glück gibt’s da einen Schlafsaal, in dem wir unseren heranschleichenden Kater begrüssen dürfen. Nach etwa zwei Stunden Schlaf rollen wir uns aus unseren Kajütenbetten und fahren etwas zerstört Richtung Zürich.
Die verschiedenfarbigen Stempel auf unseren Handgelenken sind so zahlreich, dass man meinen könnte, wir seien durch die Strassen einer Grossstadt gezogen. Wagt man einen Schritt in dieses Städtchen rein, merkt man schnell: Frauenfeld hält viel mehr bereit als der Weg vom Bahnhof zum Festivalgelände.
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