Es ist Freitagmorgen, kurz nach fünf Uhr. Auf der Rückbank eines verbeulten Toyota Corolla verlassen wir gerade die afghanische Hauptstadt Kabul. Unser lokaler Fixer, der auf dem Vordersitz Platz genommen hat, dreht sich zu uns – einem dreiköpfigen Journalistenteam – und mustert uns mit einem prüfenden Blick. Er will sichergehen, dass wir richtig gekleidet sind für den bevorstehenden Trip in die von der Terrorgruppe Taliban kontrollierten Gebiete Afghanistans.
Unser Fahrer, ein kleiner, stämmiger Afghane mit weißem Bart und einem komischen Sinn für Humor, beäugt mich durch den Rückspiegel und ruft “Kandhari!” – eine Anspielung auf meine Klamotten ganz im Kandahar-Stil, die ich zur Tarnung tragen soll: einen hellbraunen Salwar Kamiz, ein grünes Halstuch und eine dazu passende Kopfbedeckung, auch Sindhi genannt.
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Die einzige Frau in unserer Crew, VICE-News-Korrespondentin Hind Hassan, wurde angewiesen, eine traditionelle, blaue Burka zu tragen – also ein religiöses Kleidungsstück, das den ganzen Körper verhüllt und das Frauen in Afghanistan außerhalb der eigenen vier Wände tragen müssen. So verlangen es die Taliban.
Wir sind auf dem Weg in die Provinz Wardak, einem strategisch wichtigen Gebiet mitten in Afghanistan und quasi dem Korridor zur Hauptstadt Kabul. Um dorthin zu kommen, fahren wir westwärts auf einem von Kampfspuren gezeichneten Straßenabschnitt names National Highway 1. Dieser verbindet Kabul und Kandahar, einer Großstadt im Süden Afghanistans und die Geburtsstätte der Taliban-Bewegung.
Vor uns taucht ein kleiner Konvoi an Geländefahrzeugen der Afghanischen Nationalarmee auf, der einen nahegelegenen Stützpunkt mit wichtigem Nachschub versorgen soll. Plötzlich bewegt sich der Konvoi nur noch im Schneckentempo vorwärts, und in der darauffolgenden Stunde bekommen wir einen furchterregenden Einblick in den Alltag der Zivilbevölkerung, die in Wardak lebt und gefangen ist im Kreuzfeuer eines schrecklichen Kriegs, mit dem sie eigentlich nichts zu tun hat.


Uns wird gesagt, dass die Taliban planten, den Armee-Konvoi anzugreifen. Die Soldaten gehen in Deckung, sie verteilen sich zwischen den angestauten Bussen und Taxis – darunter auch unser Fahrzeug. Eine Taktik, die auch von den Taliban stammen könnte. Während wir uns im Schneckentempo vorwärts bewegen, schießen die Soldaten in die Vegetation in der Ferne – denn man weiß, dass sich die Taliban dort häufig verstecken.
Die Einführung ins Taliban-Gebiet
“Ab diesem Checkpoint ist alles Taliban-Gebiet”, sagt unser Fixer. Ab jetzt sind wir komplett abhängig von einer kleinen Gruppe Taliban-Kämpfer auf Motorrädern, die in den nächsten Tagen unsere Guides sind. Jeglicher Kontakt zu unserem Sicherheitsteam in Kabul ist untersagt, und Tracking-Geräte dürfen wir auch nicht dabeihaben.

Wenige Kilometer von der Hauptstraße entfernt befindet sich Arab Shah Khel, eine kleines Bergdorf mit weitläufigem Friedhof, der fast bis zum Maximum voll ist – eine Erinnerung an den Preis des längsten Kriegs der USA: Seit 2001 sind mehr als 47.000 afghanische Zivilisten durch die Gefechte umgekommen.
“Hier wird täglich gekämpft. Kugeln treffen unsere Häuser und es gibt Explosionen, wenn wir schlafen”, erzählt der 25-jährige Amrullah, während er vorm Grab seiner Schwester Naseebah steht. Sie wurde getötet, als eine verirrte Mörsersalve in ihrem Haus einschlug. “Meine Schwester war eine sehr freundliche und kluge Frau. Und dann musste sie dieses Schicksal erleiden.”
Im nahegelegenen Dorf Mali Khel, bricht der 28 Jahre alte Safiullah in Tränen aus, als er von dem Moment erzählt, in dem ein angeblicher Luftschlag die örtliche Moschee zerstört haben soll. “Die Amerikaner haben unseren Koran und unsere Moschee beleidigt. Das ist wie Mekka für uns”, sagt er.


Im zweiten Stock der Moschee ist die Zerstörung immens. Junge Kinder werden angewiesen, im Schutt nach Fetzen des Korans und anderen religiösen Texten zu suchen. “Ich kann alles verzeihen, aber nicht das. Das ist mein Herz und alles, an das ich glaube”, sagt Nematullah, einer der Dorfältesten.
Umgeben von einer Gruppe Dorfbewohner erzählt Safiullah, wie er mitten in der Nacht vom Krach der Drohnen aufgeweckt worden sei, die durch den Nachthimmel schwirrten. Kurze Zeit später sei die Moschee getroffen worden. “Das ist kein Frieden”, sagt er und deutet auf ein Stück Granatsplitter, das er am Ort der Zerstörung gefunden hat. “Das ist Terror.”

Wir haben einen Waffenexperten kontaktiert, der für uns die Fotos von dem Bombenteil analysieren soll. Laut Amnesty International sei das Metallstück ein Teil des Flügelbaus einer lasergelenkten GBU-12-Bombe – auch bekannt als MK82 und sowohl von der US-amerikanischen als auch von der afghanischen Luftwaffe eingesetzt. Sticker deuten darauf hin, dass die Bombe im März 2020 vom US-amerikanischen Waffenhersteller Raytheon gebaut wurde. Einen Monat zuvor hatten die USA ein historisches Friedensabkommen mit den Taliban geschlossen.
In einem Statement gegenüber VICE weist ein Vertreter des US-Militärs den Vorwurf zurück, dass die US-Streitkräfte den Luftschlag auf Mali Khel durchgeführt hätten. Das afghanische Militär hat auf unsere wiederholte Bitte um eine Stellungnahme nicht geantwortet.


“Das wird alles von der Marionetten-Regierung in Kabul durchgeführt”, sagt Kommandant Khadem und bezieht sich dabei auf die immer häufiger werdende Gewalt der letzten Monate. “Die Behörden in Kabul greifen immer öfter an, ohne überhaupt zu prüfen, ob es in den betroffenen Gebieten überhaupt Taliban gibt.”
Khadem ist unser Betreuer für den Rest des Tages. Weil wir Journalisten aus dem Westen in einem feindlich gestimmten Land sind, wurde er angewiesen, uns weit weg von den radikaleren Taliban zu halten. Wir treten eine vierstündige Autofahrt durch Flussbetten und über Berge an. Danach müssen wir durch Schlammfelder wandern, um endlich unser abgelegenes Safehouse zu erreichen. Dort verbringen wir die Nacht.

Am nächsten Morgen dürfen wir uns mit Kommandant Khatab treffen, einem Taliban-Befehlshaber im Bezirk Band-e-chak. Er ist komplett schwarz gekleidet und wird von vier Männern flankiert, die mit Kalaschnikow-Sturmgewehren bewaffnet sind. Er wirkt wegen unserer Anwesenheit ziemlich aufgebracht und spricht während unseres Treffens kaum.
“Wir wollen die amerikanische Demokratie nicht”, sagt Naweed, ein Unterkommandant der Taliban in Band-e-chak. “Die demokratischen Prinzipien, die die USA hier eingeführt haben und den Leuten aufzwingen, schaden den Afghanen nur.”


Da sich das US-Militär bald komplett aus Afghanistan zurückgezogen haben wird, befürchten viele Afghaninnen und Afghanen, dass die Taliban alles wieder wie vor dem Krieg machen werden: Frauenrechte einschränken und mit einer unglaublich strengen Auslegung der Scharia über die Gesellschaft herrschen. Als wir ihn genau darauf ansprechen, weicht Kommandant Khatab der Frage schnell aus.
“Hört auf zu filmen! Stop!”, sagt Khatab und lacht. Dann bricht er das Interview ab und weist uns an, die Kameras wegzupacken und nach Kabul zurückzukehren.
Das Leben unter den Taliban
Sechs Monate später steht die Amtseinführung des jetzigen US-Präsidenten Joe Biden kurz bevor, und wir werden erneut nach Wardak eingeladen, um dort drei Tage mit den Taliban zu verbringen. Die Sicherheitslage hat sich allerdings deutlich verschlechtert, die Terrorgruppe ist nun drauf und dran, große Teile Afghanistans zu übernehmen und mit Gewalt wieder an die Macht zu kommen. Man schätzt, dass die Taliban nun mehr als 50 Prozent des Landes entweder kontrollieren oder zumindest darum kämpfen. In über 70 Bezirken haben sie komplett das Sagen. Und es werden von Woche zu Woche mehr.

“Jede Woche platzieren wir Sprengsätze für die vorbeikommenden Militärkonvois”, erzählt Mojibulrahman, ein Taliban-Kämpfer und Bombenbauer. Während er eine Limoflasche mit Sprengstoff befüllt, gibt er damit an, afghanische Soldaten getötet zu haben: “Ich habe sie in die Luft gejagt. Bis in den Himmel.”
Die Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung haben sich festgefahren, und die NATO-Streitkräfte werden bald nicht mehr zur Unterstützung da sein. Deswegen scheint es so, als stünden die Taliban so kurz davor wie noch nie, ihr altes Herrschaftssystem wieder zu etablieren, mit dem sie Afghanistan schon mal unter Kontrolle hatten – bevor sie 2001 durch die von den USA angeführte Offensive entmachtet wurden.

“Afghanistan funktioniert gerade nach dem System, das die Amerikaner gebracht haben. Das können wir nicht akzeptieren”, sagt Kommandant Hamas – umgeben von rund 20 Kämpfern – auf einer Erhöhung mit Blick über das Tangi-Tal. “Wenn sie uns sagen, dass hier wieder das islamische System herrscht, dann sind wir bereit, unsere Waffen niederzulegen und unserem islamischen System zu dienen.”
Die Taliban behaupten, dass sie nicht mehr die gleiche brutale Terrororganisation wie früher seien, die berüchtigt dafür war, Frauen zu unterdrücken, jungen Mädchen die Schuldbildung zu verweigern, Diebe mit dem Abhacken der Hand zu bestrafen, Leute öffentlich auszupeitschen und Frauen, die des Ehebruchs schuldig gesprochen wurden, zu Tode zu steinigen.


“Es ist doch so, dass sich in Afghanistan kein muslimischer Mensch – egal ob Mann oder Frau – vor einem islamischen System fürchten muss. Denn dabei geht es um Frieden, Zusammengehörigkeit und Wohlergehen”, behauptet Hamas.
Unsere Taliban-Guides sind richtig erpicht darauf, uns zu zeigen, wie sich die Terrorgruppe angeblich weiterentwickelt hat. Sie zeigen uns den Basar eines Dorfs, wo junge Männer in aller Öffentlichkeit rauchen und Volleyball spielen – alles Dinge, die die Taliban früher noch untersagten, jetzt aber in manchen Gegenden erlauben.

Während man uns ein Bild der Heiterkeit und Offenheit vermitteln will, ist es dennoch offensichtlich, dass sich in anderen Aspekten des afghanischen Alltags nichts verändert hat. Es sind nur wenige Frauen draußen zu sehen, und Fernsehen, Musik und Spiele sind weiterhin verboten. Bewaffnete Taliban patrouillieren die Straßen entlang und achten strikt darauf, dass ihre Ordnung eingehalten wird. Die Gesellschaft wird durch Angst, Gewalt und Einschüchterung kontrolliert.
Die Scharia bestimmt alles
Das politische Ziel der Taliban-Bewegung ist schon immer die Erschaffung eines islamischen Staates gewesen, der auf einer fundamentalistischen Auslegung der Scharia basiert. Das islamische Gesetz wird dabei von Ad-hoc-Gerichten durchgesetzt.
“Wir haben militärische Pflichten und gesellschaftliche Pflichten”, sagt Kommandant Tawakul. “Wenn wir von einem Verbrechen mitbekommen, identifizieren wir zuerst den Dieb oder einen Verdächtigen, und geben ihm dann bei einem Verhör die Chance, alles zu gestehen – ohne Zwang oder Gewalt.”

Auseinandersetzungen werden von mobilen Richtern geklärt – in manchen Fällen aber auch von Taliban-Kommandanten, die in Eigenverantwortung die in ihren Augen passende Strafe aussprechen können.
“Nach dem Geständnis folgt die Gerichtsverhandlung”, sagt Tawakul. “Unsere Gerichte sind wie Gremien. Sie setzen sich aus Gelehrten wie Muftis und Verwaltungsmitgliedern zusammen. Die beraten sich, und ihre prinzipientreue Urteile basieren dann auf Büchern und beinhalten Bestrafungen gemäß dem Koran.”

Wir bekommen so noch nie da gewesenen Zugang und dürfen exklusiv bei der ersten Anhörung eines Manns dabei sein, dem neben anderen Vergehen vorgeworfen wird, Schafe von einem Hirten geklaut zu haben. Der Angeklagte wurde Tage zuvor verhaftet und war seitdem ohne jegliche Rechtshilfe in einem Taliban-Gefängnis eingesperrt.
Mehrere Taliban-Kämpfer – darunter auch der 27-jährige Kommandant, der die Verhandlung leitet – umkreisen den Mann und zwingen ihn, in die Handykamera des Kommandanten zu blicken und auszusagen.

“Sag die Wahrheit, oder wir schlagen dich zusammen! Welche Schafe hast du mitgenommen und wohin hast du sie gebracht?”, ruft Tawakul, während er dem Mann eine Ohrfeige gibt, durch die ihm die Mütze vom Kopf fliegt. “Sag, dass du sie gestohlen hast!”
“Ich habe sie gestohlen”, sagt der Angeklagte.
“Wie viele Diebstähle hast du sonst noch begangen?”, fragt Tawakul und hält sein Smartphone dem Mann direkt ins Gesicht.
“Ich habe sonst nichts gestohlen”, antwortetet der Mann flehend. “Wenn ihr etwas anderes beweisen könnt, dann hackt mir die Hand ab.”

Die erste Anhörung ist damit vorbei, das aufgezeichnete Geständnis des Manns wird sein Schicksal sehr wahrscheinlich besiegeln. Ein Richter der Taliban wird nun nach Wardak reisen, um das finale Urteil zu fällen – was in diesem Fall wohl entweder ein öffentliches Auspeitschen oder eine abgehackte Hand bedeutet.
“Alles, was wir gelernt haben, jede unserer Taten und unser gesamtes Verhalten entsprechen den Vorgaben des Koran und der Scharia. Mehr ist da nicht”, sagt Tawakul.

Trotz der brutalen Urteile und der Scheinprozesse findet diese Form der Justiz in der afghanischen Bevölkerung in gewissem Maße Unterstützung, weil sie als weniger korrupt empfunden wird als das Justizsystem der afghanischen Regierung.
Es besteht kein Zweifel daran, dass die Taliban ihre Form der Justiz gerne in Kabul und in ganz Afghanistan sehen würden. Die Frage ist jetzt, ob die Terrorgruppe es schafft, die Regierung und den Rest des Landes davon zu überzeugen – egal ob mit Gewalt oder ohne.
An Eifer und Hingabe mangelt es diesbezüglich leider nicht. “Bis wir ein Übereinkommen mit der afghanischen Regierung erzielen”, sagt Taliban-Kommandant Tawakul, “wird der Krieg weitergehen.”
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