Drängeln und Brust zeigen: Wie ich mich für ein ‘Boiler Room’-Video zum Vollidiot machte

Um gefilmt zu werden, tut man alles und vergisst dafür oft komplett jede Scham. Das ist inzwischen sogar gesellschaftlich akzeptiert. Man muss nur durch eine Großstadt laufen und wird dank Vloggern oder spontanen Fashion-Shoots unter Umständen direkt zum Teil eines Filmsets. Vielleicht passt das berühmte Boiler Room-Konzept deswegen auch so gut in unsere selbstverliebte Welt: Kameras halten sowohl die DJs als auch das Publikum fest und dank Livestreams sind die Sets dann für die ganze Welt zu sehen. Und wenn die Party vorbei ist, werden die Aufnahmen online gepostet und sind für immer gespeichert.

Wenn die Boiler Room-Kamera angeht, passiert etwas mit den Leuten: Sie verwandeln sich von normale in wahnsinnige Partygänger. Normalerweise sieht man in der ersten Reihe hinter dem DJ immer irgendjemanden, der sich nicht zusammenreißen kann und ins Spotlight drängen muss. Mit irrem Blick und Schaum vor dem Mund schubst diese Person dann die anderen Anwesenden zur Seite, schreit herum und will unbedingt den DJ berühren – was man halt so macht, wenn man sich vor der Kamera in Szene setzen will.

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Vor Kurzem war ich selbst bei einer Boiler Room-Veranstaltung auf dem Dekmantel-Festival in Amsterdam und hatte mir vorher fest vorgenommen, dort meine fünf Minuten Ruhm in der ersten Reihe abzugreifen. Ich wollte herausfinden, ob die Auftritte vor der Kamera nur eine Rolle sind, die die Leute spielen, oder es wirklich einen unstillbaren Wunsch nach Aufmerksamkeit gibt, der in diesem Moment Überhand nimmt. Folgendes ist dabei passiert:

16:25 Uhr: Hallo Leute, ich bin jetzt da!

Mein Boiler Room-Experiment beginnt sofort, als ich das Dekmantel-Gelände betrete. So richtig freue ich mich nicht auf meine Aufgabe, also will ich sie so schnell wie möglich hinter mich bringen. Wegen meiner Größe von knapp 1,95 Metern bin ich es schon gewöhnt, bei Konzerten genervte Blicke auf mich zu ziehen, wenn ich mich etwas weiter nach vorne stelle. Um der Star einer Boiler Room-Übertragung zu werden, darf ich gegenüber dem Publikum aber keine Gnade zeigen. Hoffentlich zeigen die Anwesenden Verständnis.


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Um mich in Stimmung zu bringen, kippe ich ein Bierchen runter und binde mir ein buntes Bandana um den Kopf. Dann atme ich noch mal tief durch und stürze mich in die Menge. Um mich zwischen den ganzen Menschen durchzuschlängeln, muss ich mich manchmal wie eine Krabbe seitwärts bewegen. Leider ist es nicht möglich, die partywütigen Leute komplett unversehrt zu lassen. Als ich jemandem zum ersten Mal auf die Zehen trete, entschuldige ich mich noch höflich. Je näher ich zur magischen Kamera komme, desto weniger Mitleid zeige ich aber, wenn ich mit meinem Ellbogen mal wieder gegen einen Kopf stoße. Das hier muss wohl die natürliche Auslese sein, die im Boiler Room stattfindet: Mitfühlende Menschen schaffen es nie bis ganz nach vorne zum DJ.

16:36 Uhr: Werde ich schon gefilmt?

Irgendwo in der dritten Reihe bleibe ich hängen. Vor mir steht eine junge Frau, die mir immer wieder wütende Blicke zuwirft, wenn ich versuche, mich sanft an ihr vorbeizuschieben. Und vor ihr tanzt noch ein Pärchen, das optisch auch direkt aus dem Film Matrix stammen könnte. Alle drei sind aber ziemlich klein, vielleicht bin ich ja schon im Livestream zu sehen?

Ich schaue auf meinem Handy nach und finde so heraus, dass ausgerechnet der DJ genau zwischen mir und der Kamera steht. Ich versuche, meinen Kopf zwischen den Leute vor mir durchzustecken, aber das klappt nicht wirklich. Der Matrix-Typ findet das auch ziemlich scheiße. Es gibt also nur eine Lösung: Ich muss mich doch weiter nach vorne kämpfen. Ein Kollege, der vom Büro aus den Livestream verfolgt, schreibt mir eine Nachricht: “Ich sehe dich.” Wird doch.

Hier bin ich zum ersten Mal zu sehen (Alle Fotso: Screenshots via YouTube aus dem Video “Boiler Room x Dekmantel 2018” von Boiler Room)

16:48 Uhr: Mama, ich bin im Fernsehen!

Die junge Frau vor mir ist inzwischen gegangen und nur noch das Matrix-Pärchen steht zwischen mir und meinem Ruhm. Inzwischen sehe ich auch die Kamera, aber die filmt die ganze Zeit nur die Hände des verdammten DJs. Ich packe meine auffälligsten Moves aus und diese Taktik scheint zu fruchten: Die Kamera fährt mich einmal von oben nach unten ab – und das fühlt sich richtig gut an. Ich werfe ein paar Handküsse in Richtung der ganzen Stubenhocker, die sich den Feed von zu Hause aus anschauen. Ich habe es geschafft!

Küsschen für die Menge

16:53 Uhr: Die Verwandlung in ein Monster

Die Leute, die den Livestream kommentieren, bemerken mich jetzt auch. Anscheinend ist mein Schrei nach Aufmerksamkeit kaum zu überhören. “Der große Typ ist wie Godzilla kurz vorm Angriff auf die erste Reihe”, schreibt ein User in den Chat.

Godzilla.

16:56: Ich habe es nach ganz vorne geschafft!

Der DJ arbeitet zum Höhepunkt seines Sets hin. Angeheizt von der Musik, schreie ich wie wild herum und übe mich enthusiastisch in Fistpumps. Der Build-up dauert jedoch ziemlich lange und ich gerate fast ein wenig außer Atem. Länger als 20 Sekunden lang so herumzuzappeln, sieht dumm aus, aber vor dem Höhepunkt plötzlich aufzuhören, ist noch viel schlimmer.

Ich als Fistpump-König.

Während ich mit meiner Faust in die Luft boxe, springt der Typ neben mir auf und ab. Und als der Beat endlich dropt, startet er einen Moshpit. Falls er sich damit in die erste Reihe befördern will, geht sein Plan nicht auf, denn ich (und nicht er) ernte die Früchte des von ihm verursachten Chaos’. Das Matrix-Pärchen wird in den Strudel gezogen, während ich mich mit einer eleganten Pirouette befreien kann. Als ich mein Bandana richte, merke ich:

Ich bin ganz vorne!

Es ist kaum zu beschreiben, was in diesem Moment in meinem Kopf vorgeht. Ich verspüre ein wildes, wahnsinniges Gefühl und muss plötzlich der ganzen Welt meine Brust zeigen – immerhin bin ich dieses Jahr schon ein Mal ins Fitnessstudio gegangen.

Ich zeige meine Brust.

Ich knöpfe mein Hemd auf und gebe mit meinen Diva-Moves wirklich alles. Das bemerkt auch der Kameramann, der mich voll in seinen Fokus nimmt. Der Moshpit-Mann ist sich meiner Überlegenheit ebenfalls bewusst und setzt mir seine Mütze auf. Keine Ahnung, wie ich damit aussehe – aber das ist auch egal, denn in diesem Adrenalinrausch kann ich alles tragen.

Der DJ gibt mir genau den Soundtrack, den ich brauche. Ich will ihn umarmen und mache einen kleinen Schritt nach vorne. Alle um mich herum schreien und tanzen. Alle, bis auf einer.

“Geh mal ein bisschen zurück!” Etwas Spucke fliegt aus meinem Mund, als ich einen weiteren Knopf meines Hemds aufknöpfe. “‘Zurück’ habe ich gesagt!” Irgendein Typ mit Mikrofon drückt sich zwischen mich und den DJ und tut so, als würde er die Welt regieren. Als die Musik langsam ausgeht, kündigt er die weiteren DJs an. Meine Euphorie ist plötzlich wie verpufft und meine Mundwinkel gehen nach unten. Mein Moment ist vorbei. Ich nehme die Mütze meines Nebenmanns vom Kopf. Sie ist braun, nicht wirklich meine Farbe. Leicht gebückt verlasse ich das Zelt.

17:05 Uhr: Die Selbstreflexion

Draußen setze ich mich auf einen Baumstumpf und verspüre nur noch Reue und Scham. Das Rampenlicht hat mich in einen Irren verwandelt. Ich war kurzzeitig nicht mehr ich selbst. Und mein schamloses, idiotisches Verhalten ist jetzt für alle Ewigkeiten im Internet zu sehen. Immerhin habe ich eine Sonnenbrille getragen.

Identified Patient, es tut mir leid. Dein Set war echt geil, aber mein eigener Ruhm hatte in diesem Moment Vorrang. Ich entschuldige mich hiermit auch bei allen Menschen, denen ich bei meiner Reise in die erste Reihe auf die Zehen getreten bin. Sorry an die junge Frau, die vor mir stand, und an das Matrix-Pärchen. Und es tut mir ebenfalls leid für die Leute zu Hause. Ich überlege, ob ich einen reumütigen Entschuldigungs-Vlog aufnehmen soll – aber ich befürchte, dass ich mich dadurch auch nicht besser fühlen werde.

Im Folgenden kannst du dir den wohl peinlichsten Moment meines Lebens in voller Länge anschauen:

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