Illustration von einer männlichen Figur, die von Pizza, Kuchen und Sportgeräten umgeben ist
Menschen

Die geheime Welt von Männern, die unter Essstörungen leiden

Muskelsucht ist ein gefährlicher Zwang, über den zu wenig gesprochen wird.
Giorgia Cannarella
Bologna, IT
Juta
illustriert von Juta

Vor einiger Zeit stolperte ich über den besten Artikel über Körperkult, den ich bis dahin gelesen hatte. Der amerikanische Schauspieler Matthew McGorry, bekannt für seine Rolle als Gefängniswärter in Orange Is The New Black, hat ihn auf Medium veröffentlicht. Er spricht darin ganz offen über seine Essstörung. Nachdem er an Gewicht zugenommen hatte, sagten ihm Freunde und Kollegen oft, dass er so keine Hauptrollen bekommen würde. "Für eine lange Zeit glaubte ich, moppelig zu sein sei das Schlimmste. Männer sollen robust, stark und schroff sein.” 

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McGorrys Erfahrung erinnert uns daran, dass Essstörungen nicht nur Frauen betreffen. "In Italien sind ungefähr fünf bis zehn Prozent der Menschen mit Anorexie männlich", sagt Ernährungswissenschaftlerin Viviane Valtucci. In Nordamerika seien die Statistiken ähnlich. "Es gibt keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern, wenn es um Heißhungeranfälle geht. Dann gibt es Bigorexia, die Muskelsucht, den krankhaften Zwang, einen muskulösen Körper zu haben. "Das ist keine klassifizierte Gesundheitsstörung, aber sie ist real und sie betrifft hauptsächlich Männer."

Genauso wie Anorexie ist Bigorexia eine körperdysmorphe Störung – eine krankhafte Obsession mit dem eigenen Körper und seinen (subjektiv wahrgenommenen) Mängeln. Während Anorexie einen immer dünner werden lässt, ist Bigorexia die ständige Sorge, nicht muskulös oder fit genug zu sein. Der britische National Health Service hält fest, dass eine körperdysmorphe Störung zu Depression, Selbstverletzung und Suizid führen kann. 

Körperkult ist ein fundamentaler Teil der Diät- und Wellnesskultur. Selbst persönliche Ziele, die in einem gesunden Rahmen liegen, können ungesunden oder unrealistischen ästhetischen Ansprüchen zu Grunde liegen – zum Beispiel, ein bestimmtes Prozent an Körperfett zu erreichen. Paleo- und Keto-Diäten werden als männlich angesehen, weil man sie mit der Ernährung von Neandertalern assoziiert. Männer, die sich in idealisierte Körperformen meißeln wollen, unterziehen sich ihnen häufig. Langfristig sind sie aber sehr schädlich – insbesondere, wenn sie mit Anabolika kombiniert werden. 

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"Toxische Maskulinität kreiert unrealistische Körperideale", sagt Giuseppe Magistrale vom Apulischen Zentrum für Essstörungen über seinen persönlichen Kampf mit seinem Körper. 

Giuseppe beschreibt seine Erfahrung in der Gemeinschaft der Bodybuilder so:  "Es war eine Welt, die mir ein Gefühl von Macht und Geborgenheit gab. Zu der Zeit teilte ich alles in ´´richtige Körper ´´ und falsche Körper ein. Wir waren obsessiv, wenn es um Gewicht und Körperfettanteil ging. Einmal schrieb ein Typ in einem Fitnessforum, 'Ich weiß nicht, ob ich ein Mädchen um ein Date fragen will, bevor mein Arm 44 Zentimeter misst'. Alles drehte sich um unsere Körper."

Dieses Erlebnis klingt vielleicht extrem, aber Giuseppe weist auch auf die früheren Warnzeichen hin, auf die Männer achten können. "Die Alarmglocken fangen bei mir an zu schrillen, wenn jemand seinen Körper über alles verändern möchte, Freundschaften vernachlässigt und zwanghaftes Verhalten an den Tag legt. Das Problem liegt nicht darin, fit sein zu wollen, sondern zu denken, dass sich alle deine Probleme lösen, wenn du fit bist. Man versucht, einem Körpergefühl zu entfliehen, das nie weggeht."

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Männer fragen seltener um Hilfe

Giuseppe benennt aber auch noch ein zusätzliches Problem: "Wenn Männer zur Therapie gehen, dann meistens aus anderen Gründen. Die Besessenheit mit Fitness entwickelt sich meist später." Er spricht aus Berufserfahrung. Ernährrungsexpertin Valtucci stimmt ihm zu: "Frauen haben heutzutage mehr Vorbilder, um ihre Körper akzeptieren zu lernen als Männer. Deswegen leiden die still. Ein Hilferuf kommt eher von besorgten Müttern und Freundinnen."

Ein Mann, der etwas gegen dieses Problem unternimmt, ist Riccardo Onorato, auch bekannt als Guy Overboard. 2012 startete er einen Fashion Blog für Männer. Danach traf er auf weibliche Blogger aus der Body Positivity Bewegung. Ihm fiel auf, dass sie alle das Gleiche durchmachten – beispielsweise keine Klamotten in ihrer Größe zu finden. Er entschied sich, offen darüber zu sprechen. Riccardo wollte dadurch andere Männer animieren, auch über ihre Beziehung zwischen ihren Körpern und ihren Emotionen nachzudenken. "Es ist wichtig, meine männliche Stimme einzubringen. Es zeigt, dass man verletzlich sein und Zweifel über sich selbst und seinen Körper haben kann, aber trotzdem ein Mann ist," sagte er. 

Onorato zufolge spielt sexuelle Orientierung ebenfalls eine Rolle in der problematischen Beziehung zur "Männlichkeit". Für schwule Männer kann es noch schwieriger sein, die Idee des sogenannten perfekten männlichen Körpers loszulassen. "Wir leben in einer Welt, die immer noch zu homophob ist, als dass Schwule sich als Männer frei und sicher fühlen können," sagt er. Das verstärkt körperdysmorphe Störungen und ungesundes Essverhalten bei schwulen Männern. Der amerikanischen Gesellschaft für Essstörungen zufolge identifizieren sich 42 Prozent der Männer mit einer Binge-Eating-Störung, also ausgeprägten Heißhungerattacken, als schwul, obwohl Schwule nur fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen. 

"Wir kämpfen gegen ein System aus Privilegien und Diskriminierung, das abgeschafft werden muss," erklärt Riccardo Onorato. "Männer erzählen sich Geschichten über Fitness, die die Prämisse haben, manche Körper seien besser als andere. Das bedeutet Unterdrückung für alle, die nicht in diese kulturelle Norm hineinpassen."

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