Politik

Warum wir eine unabhängige Kontrolle der Polizei brauchen

In vielen europäischen Ländern gibt es eine unabhängige Kontrollinstanz, die gegen Polizisten ermittelt. Bei uns nicht. So könnte sie aussehen.
Schwarz vermummte Polizisten laufen mit hochgehaltenen Schutzschilden während der G-20-Proteste in Hamburg über eine Straße.
Hamburger Polizisten beim G-20-Gipfel Bild: imago images | ZUMA Press

Es sollte eigentlich längst Konsens sein, was SPD-Chefin Saskia Esken am Montag gegenüber der Funke-Mediengruppe gefordert hat: Ein unabhängiges Gremium, das Gewalt- und Rassismusvorfälle bei der Polizei überwacht und aufklärt.

"Auch in Deutschland gibt es latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte", sagte sie. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, "der polizeiliche Korpsgeist spiele eine größere Rolle als die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern". Sie hat Recht. In Sachen Transparenz bei Polizeigewalt ist Deutschland nämlich noch ein Entwicklungsland.

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Es stimmt natürlich, dass der Großteil der deutschen Polizistinnen besonnener agiert als ein auf einen imaginären Krieg gebürsteter US-Cop. Aber es geht eben nicht um das ganz besonnene Tagesgeschäft, sondern um die Fälle, in denen dennoch etwas passiert.

Betroffene und Hinterbliebene können eine gründliche Aufklärung in den allermeisten Fällen vergessen. Manchmal werden sie einfach ignoriert, im schlimmsten Fall kriminalisiert oder lächerlich gemacht.

Nach dem Tod von Oury Jalloh, der in einer Polizeizelle in Dessau unter mysteriösen Umständen verbrannte, hat die zivilgesellschaftliche Oury Jalloh-Initiative bei ihren Ermittlungen feststellen müssen, dass sich deutsche Institutionen gegenseitig decken. Und nicht nur im Fall Jalloh wurde systematisch vertuscht und eine unabhängige Aufklärung behindert. Die Kampagne für Opfer von rassistischer Polizeigewalt hat zwischen 1990 und 2020 bislang 159 Fälle in Deutschland recherchiert, bei denen Menschen in Polizeigewahrsam ihr Leben ließen.

Belegt sind auch Fälle, in denen Spezialeinsatzkräfte offenbar einfach nur gerne Krieg spielen wollen und völlig unverhältnismäßige Gewalt anwenden. Wer sich zum Beispiel mit Verhaftungen vor größeren Cybercrime-Strafverfahren beschäftigt, kommt nicht drumrum: Die Einsätze sind oft überzogen hart und der Korpsgeist – also der unbedingte Zusammenhalt gegenüber Kritik von "außen" – in der Polizei schreckt sogar manchmal Verteidiger ab, unverhältnismäßige Gewalt zur Anzeige zu bringen.

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In einem Fall schmiss 2017 ein schwer bewaffnetes Sondereinsatzkommando mit Blendgranaten die Scheiben einer Autowerkstatt ein, um einen Verdächtigen zu überwältigen, dessen einziges Tatmittel ein Computer war. Dass der Mann unbewaffnet ist und dazu noch alleine, war vollkommen klar – schließlich hatte man ihn über Wochen aus nächster Nähe beobachtet. Der Fall wurde nicht zur Anzeige gebracht. Der Mann wurde wegen der Verbreitung von Kinderpornografie festgenommen und später auch verurteilt. Ein verdeckter Ermittler des BKA sagte später am Rande des Prozesses: "Klar hatten die da Bock drauf, richtig draufzuhauen."

Es kann einem aber auch passieren, dass man ein Polizeirevier mit Beulen und Einblutungen verlässt, ohne dass man überhaupt einer Straftat verdächtigt ist. Das soll die Dolmetscherin Elena S. 2011 in München am eigenen Leib erfahren haben.

Erstes Problem: Korpsgeist und Kennzeichnung

Noch immer werden Beschwerden gegen die Polizei vor allem intern geführt. Mit viel Glück gibt es ein Disziplinarverfahren, wahrscheinlicher ist: Es gibt ein bisschen Ärger vom Chef, dann deckt er dich am Ende doch. Klar ist: Wer selbst schon mal zum Opfer von unrechtmäßiger Polizeigewalt geworden ist, hat das Vertrauen in die Institution verloren. Das dann in einer Polizeidienststelle zur Anzeige zu bringen und darauf zu hoffen, dass Polizisten gegen Polizisten ermitteln – wer würde da noch dran glauben?

Erschwerend für die Aufklärung ist der Korpsgeist – Polizisten halten zusammen. Dass sie gegeneinander aussagen, kommt selten vor. Persönliche Verantwortung? Die übernimmt die Polizei doch eher selten, wenn man sie in hierarchischen Strukturen verlaufen lassen kann.

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Aufklärung darf nicht daran scheitern, dass die Täter noch nicht mal zu erkennen sind. Selbst die Kennzeichnungspflicht ist in Deutschland noch nicht in allen Bundesländern eingeführt, Nordrhein-Westfalen hat sie sogar wieder zurückgenommen – mit der abenteuerlichen Begründung von NRW-Innenminister Herbert Reul, man wolle ein "wichtiges Zeichen für mehr Respekt für Beamte" setzen und die Kennzeichnung sei eh nicht nötig gewesen, weil "die Polizei hierzulande ein riesiges Vertrauen genießt".

Wer bei einer Demo kaum Gesichter der Beamten erkennen kann, wird ohne die Kennzeichnung später wohl kaum belegen können, welcher der gut gepolsterten Menschen mit Helm aus den eng geschlossenen Reihen plötzlich Bock auf Prügeln bekommen hatte. Selbst mit einem Videobeweis kommt man da nicht weit.

Zweites Problem: Nähe der Justiz zur Polizeiarbeit

Von systematischen Menschenrechtsverletzungen wie in den USA kann in Deutschland keine Rede sein. Trotzdem: Amnesty International berichtet schon seit über einem Jahrzehnt in jährlichen Reports, dass genauso viele Anzeigen wegen Körperverletzung gegen deutsche Polizistinnen und Polizisten erstattet werden wie gegen andere Bürger.

Aber: Wenn es um die Ermittlungen geht, klafft da plötzlich ein Graben. Denn nur zwischen drei und fünf Prozent der beschuldigten Polizeibeamten werden auch angeklagt. 95 Prozent aller Verfahren gegen Polizistinnen und Polizisten werden komplett eingestellt – viel mehr als bei Verfahren gegen andere Berufs- oder Bevölkerungsgruppen.

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Das Problem ist, dass die Staatsanwaltschaften eine gewisse Nähe zur Polizeiarbeit pflegen, denn sie sind auf die Polizei zur Ausübung ihrer Aufgaben angewiesen. Klar, dass da ein Ungleichgewicht entsteht und der Zeugenaussage eines Polizisten zumindest unbewusst mehr Glauben und Gewicht eingeräumt werden kann.

Drittes Problem: Die Argumente der Polizei überzeugen nicht

Polizeigewerkschaften lehnen eine externe Kontrolle mit der Begründung ab, es gäbe schon genug Möglichkeiten, sich zu beschweren. Das mag ja sein. Aber ohne Aufklärung und Ermittlungsbefugnisse der Stelle kann man sich die Beschwerde leider sparen. Polizisten wollten nicht unter Generalverdacht gestellt werden, heißt es oft. Die Frage ist doch aber: Wer tut das? Wenn sich alle vorbildlich verhalten würden, gäbe es umso weniger für das Kontrollgremium zu tun.

Der polizeiliche Abwehrreflex mag auf echter Angst vor Diffamierung beruhen, überzeugend ist er aber nicht. Ganz besonders, weil Erfahrungen gezeigt haben, dass Kontrollsysteme nicht für falsche Anschuldigungen ausgenutzt werden bis hin zur Überlastung des Systems. Ein Beispiel: Seitdem die Kennzeichnungspflicht in Hessen eingeführt wurde, sind die Strafanzeigen gegen Beamte im Dienst sogar rückläufig.

In anderen Ländern funktioniert es doch auch

Eine demokratisch legitimierter Polizei braucht also dringend Checks and Balances. Deutschland ist aber trotzdem eines der wenigen europäischen Länder, die kein unabhängiges Gremium zur Ermittlung gegen Polizeigewalt haben – das kritisiert auch immer wieder der EU-Kommissar für Menschenrechte scharf. Dabei müsste man das Rad wirklich nicht neu erfinden: Es gibt unabhängige Kontrollinstanzen unter anderem in Finnland, Belgien, Portugal und Großbritannien.

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England hat durchweg positive Erfahrungen mit der Kontrollstelle IPCC gemacht, berichtet der IPCC-Vorsitzende Nicholas Long gegenüber Amnesty International. Nicht nur haben sich nach anfänglichem Zähneknirschen die Polizisten daran gewöhnt, dass ihnen die Zivilgesellschaft auf die Finger schaut, sondern der bestmögliche Nebeneffekt trat ein: Das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizeiarbeit ist gestiegen.

Das Wichtigste können wir uns von der IPCC abgucken, denn: So eine Beschwerdestelle muss zuallererst unabhängig sein, und zwar auch finanziell – damit ihr in Sparzeiten oder als Sanktionierungmaßnahme nicht die Kohle und damit auch die Handlungsmacht entzogen werden kann.

Das zweite Schlagwort in diesem Zusammenhang ist "commuity-led policing". Das bedeutet, dass die Zivilgesellschaft die Ermittlungsprozesse überwachen, anfechten oder, bei gravierenden Fällen von unrechtmäßiger Polizeigewalt, auch selbst in die Hand nehmen kann. Eine Beschwerdestelle, deren Hauptaufgabe das Beschweren ist, aber nicht das Ermitteln, ist zahnlos und damit nutzlos.

Und letztlich spielt es natürlich auch eine Rolle, wie divers die Besetzung dieses Überwachungssystems eigentlich ist. Mindestens müssen sich darin Leute wiederfinden, die selbst eher von Polizeikontrollen betroffen sind – zum Beispiel aufgrund der Hautfarbe.

Bonuspunkte gäbe es für eine öffentlich zugängliche Aufarbeitung, so dass sich die Politik, eine Stadtverwaltung und die Medien ein Bild darüber machen können, was in der Polizei passiert.

Die Aufklärung muss also unparteiisch und unabhängig sein. Und sie muss schnell passieren. Alles nicht so wild: Letztlich sind das genau die Rechtsstaatsprinzipien, die für alle unsere Staatsorgane gelten. Bei einer Institution wie der Polizei, die sich durch so viel Stolz und Zusammenhalt in ihrer Arbeit auszeichnet, müsste man doch eigentlich sagen: Lass machen, wir haben nichts zu verbergen.

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