Die Autorin sitzt in einem Trainingsanzug auf ihrem Bett und wirft Pokémon-Karten in die Luft, da sie sich in diesem Text Kindheitsträume erfüllen will.
Alle Fotos: Rebecca Rütten
Menschen

Ich habe eine Woche lang alle Dinge getan, die ich als Kind nicht durfte

Piercing, Süßgetränke bei McDonald's, Froot Loops: Es ist Zeit, unabhängig zu werden.

Irgendwann bin ich alt geworden und mache kaum noch etwas zum ersten Mal. Jedes Erlebnis ist die Wiederholung von diesem anderen Erlebnis in 2011 oder 2013 oder 1999. Meinen ersten Kuss hatte ich im Sommer 2011 und seither hatte ich noch ein paar mehr. Keinen ersten, aber einen zweiten, dritten, hundertsten. Und auch viele langweilige Dinge, die mit dem Erwachsenwerden oder dem Alleinewohnen einhergehen, habe ich schon mehr als einmal gemacht. Die Hausverwaltung anrufen, einen Zahnarzttermin vereinbaren, einen Zahnarzttermin absagen, die Zahnarztrechnung bezahlen, einen Plastikbehälter unter meine tropfende Heizung stellen.

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Als Kind stand ich vor diesem Berg an Jahren, einem großen Stapel vieler erster Male. Nur stellte ich mir die ziemlich viel spannender vor. Diese Woche lebe ich das Leben, das ich mir als Kind vorgestellt habe, und mache alle Dinge, die ich als Kind nicht machen durfte und mir jetzt als 24-Jährige einfach so erlauben kann.


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Eltern wollen Stillsein und Stillsitzen und ich will das Gegenteil, nämlich Lärm, Lärm, Lärm. Süßgetränke waren deshalb bei uns zu Hause etwas für Geburtstage, Weihnachten, Silvester. Mittlerweile habe ich auch schon mal an einem ganz normalen Freitag oder Dienstag eine Schorle getrunken. Ja, krass! Doch an eine Regel habe ich mich, wenn auch nicht bewusst, bis heute gehalten. Zu Fast Food trinke ich keine Softdrinks. Es kommt immer mal wieder vor, dass ich die unsympathischste Person bei IKEA bin, weil ich den Becher, der mit dem Hotdog-Menü kommt, immer mit Wasser auffülle. Und das, obwohl ich weiß: In Pappbecher mit Plastikbeschichtung kommt Cola, Sprite, Fanta – alles, was den Zahnschmelz geil angreift – und nicht irgendein vernünftiges Wasser.

Mein Vater bestellte mir und meiner Schwester immer ein Wasser zu unserem Happy Meal. Wasser bei McDonald's schmeckt falsch. So sehr ich hier auf dem fettigen, dunkelroten Polster sitzen wollte, so wenig wollte das Sprudelwasser aus diesem McDonald's Becher getrunken werden. Zumindest glaubte ich, das rauszuschmecken. Heute will ich diese Regel brechen. Aber vielleicht ist das Leben in den seltensten Fällen so toll wie die Kombination aus Pommes und einem halben Liter Cola. Und vielleicht ist es gut, wenn man das schon mit fünf lernt. Aber heute ist das Glas ganz voll.

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Die Autorin hält sich zwei McDonald's-Becher mit Cola vor ihr Gesicht.

Meine kalten Finger greifen um die zwei vollen McDonald's-Becher, die viel kleiner sind, als ich sie mir vorgestellt habe. Ich hatte mir amerikanische Becher vorgestellt in Größe "verstopfte Arterien". Dieses überzeichnete Bild von 1,5-Liter-Bechern, das Pseudo-Dokus wie Supersize Me propagieren. Die beiden Becher fühlen sich in meinem Griff trotzdem an wie Trophäen. Wie Formel-1-Champagner, wie Musik-Awards, die Stars in ihren Armen stapeln. Ich trinke keinen von beiden ganz aus.

Was ich als Kind wollte neben Zucker, waren Dinge aus der Werbung oder eine Kombination aus beidem. Neben dem Barbie-Kleiderschrank erinnere ich mich am besten an die Frühstückscerealien-Werbung. Als Kind war mein Frühstück eigentlich nie eine besonders gesunde Mahlzeit: Schokoaufstrich und Toast. Trotzdem waren Frosties, Choco Krispies oder Smacks nie auf unserem Frühstückstisch. Ich habe mir noch nie einfach so eine Packung gekauft, diese Erziehungsmaßnahme hielt also lange über meinen Auszug hinaus an. Bei anderen Leuten zu Hause ergriff ich die Möglichkeit, wenn immer sie sich bot: Cini Minis im Vorratsschrank oder Honey Loops auf dem Frühstückstisch.

Die Autorin hält vier Packungen Müsli in ihren Armen.

Im Supermarkt greife ich die Packungen, die ich als Kind am liebsten wollte: Chocos, Smacks, Froot Loops und Frosties. Ich stelle die vier Packungen auf meinen Kühlschrank, weil sie nicht alle in den Schrank passen. Da auf dem Kühlschrank sehen die Packungen fast etwas verboten aus. Ich entscheide mich für eine Mischung aus Chocos und Froot Loops für meine erste Schale. Ich überlege mir, wie viel mehr ich wohl brauchen würde, um meine Badewanne zu füllen.

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Am nächsten Tag nehme ich weitere Verbote in Angriff. Sonnencreme riecht immer wie die "Badi Rotmonten", das Freibad meines Viertels in der Schweiz. Wahrscheinlich riechen alle Freibäder nach Sonnencreme, aber an jenem Nachmittag vor etwa 17 Jahren roch es in der "Badi Rotmonten" so nach Sonnencreme, wie es nur in der "Badi Rotmonten" nach Sonnencreme riechen konnte.

Manche wissen: Alles passiert aus einem Grund. Schicksal, Fremdbestimmung. Ich weiß nicht, ob schon so viel Spiritualität in meinem siebenjährigen Körper steckte, doch an diesem Sommernachmittag und an vielen anderen waren es drei Sesamcracker, die einem allmächtigen Wesen im Himmel am nächsten kamen und mir den Beginn meines Nachmittags ruinierten.

"Du hast doch gerade etwas gegessen oder? Bevor du ins Wasser kannst, musst du jetzt noch eine halbe Stunde warten."

Doch liegen dieser Regel überhaupt wissenschaftliche Belege zugrunde? Schon 1961 wurden Forschungen angestellt um herauszufinden, ob es sich dabei nicht einfach nur um einen Mythos handelt. Während in Deutschland die "Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft" an der Regel festhält, haben sich andere Länder schon davon abgewendet. "Die aktuellen Informationen deuten darauf hin, dass Essen vor dem Schwimmen nicht zum Ertrinkungsrisiko beiträgt und Ratschläge dazu als Mythos verworfen werden können", zitiert der SPIEGEL das Amerikanische Rote Kreuz.

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Nach einer Schüssel Froot Loops fahre ich zu einem Schwimmbad in meiner Nachbarschaft, um dort nicht zu ertrinken. Hier riecht es nicht sanft nach Sonnencreme, Rasen und Sommer. Es ist Dezember. Vielleicht ist dieser Unabhängigkeitskampf nichts für schönes Wetter. Die Luft im Schwimmbad riecht chlorig. Ich steige ins Becken und habe das Gefühl, alle verlorenen Halbestunden aufzuholen. Die halbe Stunde in Italien auf einem Steinstrand mit einer Aprikose im Magen und LSF 50 im Gesicht. Oder die am Fluss Tagliamento nach einem Stück Pizza aus einem italienischen Supermarkt. Wir mussten uns die Plastikschuhe, die wir wegen der scharfen Steine trugen, an unseren Knöcheln festbinden, damit die Strömung sie nicht von unseren Füßen zog. Die Froot Loops in meinem Magen spüre ich nicht.

Zurück in meiner Wohnung will ich fernsehen. Keine Ahnung, warum es direkt vor dem Fernseher gemütlicher ist als auf der Couch. Der Aufforderung, mich weiter weg vom Fernseher zu setzen, kam ich als Kind widerwillig nach. Die Mutter einer Freundin hatte mir mal gesagt, dass die Augen viereckig werden, wenn man zu nah vor dem Bildschirm fernschaut. Sie hatte gesagt: "Weißt du, ich habe diese Freundin, die hat so nah am Fernseher ferngesehen, dass ihre Augen viereckig wurden. Und weißt du, was dann passiert ist? Sie hat bei einem Schönheitswettbewerb mitgemacht und wurde zur hässlichsten Frau der Welt gekürt." Und dann wusste ich: Ich will für immer hässlich sein.

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Die Autorin liegt auf dem Bauch auf einem Teppich vor ihrem Fernseher und schaut die Simpsons.

Also setze ich mich heute in meinem Wohnzimmer vor den kleinen Fernseher, den wir manchmal aufstellen, um Wahlen zu schauen oder Bachelor, und werde hässlich. Ich schaue Simpsons, weil das immer das erste war, was lief, wenn das Kinderprogramm zu Ende war. Vielleicht liegt es an einer frühen Altersweitsichtigkeit, aber ich kann diesem Fernseherlebnis nicht abgewinnen.

Ich wusste nie genau, worum es bei Pokémon eigentlich geht. Doch ich wusste, dass ich unbedingt auch Karten haben wollte. Meine Cousine schenkte mir eine Karte. Ich war so stolz darauf, dass ich sie in eine Box mit wertvollen Dingen legte, die ich gefunden hatte: ein Paninibild mit goldenem Rand und eine schmutzige Medaille mit einem eingravierten Sprinter, die mein Vater beim Rasenmähen vor unserem Haus gefunden hatte. 

Auf eBay schreibe ich Verkäuferinnen an, die Pokémonkarten anbieten. 

Die Autorin hält einen Stapel Pokémon-Karten.

Ein Verkäufer lässt mich noch am selben Nachmittag vorbeikommen. Seine Mutter sei zu Hause und wird mich in Empfang nehmen. Er schreibt: "Ich lege zusätzlich noch paar doppelte Karten von mir dazu. Wäre das in Ordnung?"

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Als mir die Mutter die Pokémon-Karten überreicht, frage ich mich, ob sie mir ansieht, dass ich keine Ahnung davon habe, ob sie sich fragt: "Was will sie denn damit?" Keine Ahnung. Zu Hause klemme ich eine in den Rahmen des Badezimmerspiegels, weil ich ein bisschen stolz bin.

Das letzte, was noch übrig bleibt, ist etwas, wovor ich sogar ein bisschen Angst habe. Mit 15 wollte ich ein Nasenpiercing. Und dann wurde ich irgendwann älter und wollte keins mehr. Von meinem My-Chemical-Romance-Shirt sind schon vor Jahren die Ärmel abgefallen, deshalb will ich kein Nasenpiercing mehr. Eigentlich will ich auch sonst kein Piercing. Aber weil ich mir für keine Form der Recherche zu schade bin, google ich, was ich mir denn nun piercen soll, wenn ich kein Nasenpiercing mehr will. Ich entscheide mich für ein Helix-Piercing, das am äußeren Rand des Ohrs durch Knorpel gestochen wird. Ich bin nur selten mutig und dann meistens aus Versehen. Ein Termin bei einer Piercerin scheint nicht wie ein Versehen.

Die Instrumente der Piercerin liegen aufgereiht auf einem Tablett. Desinfektionsmittel, Nadel, Stecker, Schere.

Ich sitze auf der Liege, während sie ihre Instrumente bereit legt, und bin froh, dass sie mein nervöses Lächeln unter meiner Maske nicht sehen kann. In meiner Jackentasche habe ich eine Pokémon-Karte als Glücksbringer. Sie ist geduldig und ruhig.

Ich frage sie, welches Piercing sie am liebsten sticht, weil ich es wissen will, aber wahrscheinlich auch, um uns von meiner Nervosität abzulenken. Nippelpiercings.

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Als sie die Nadel ansetzt, soll ich einatmen und dann langsam ausatmen, während sie die Spitze durch mein Ohr drückt. Mein Ohr pocht nach dem Stich, als sie den Stecker einsetzt und auch als sie ihn festschraubt. Die Piercerin erklärt mir, dass ich jetzt für die nächsten Monate nicht auf dem rechten Ohr schlafen soll. Auf der Liege ist mir schwindelig.

Im Vordergrund des Bilds sitzt die Autorin, in ihr rechtes Ohr sticht die Piercerin gerade eine Nadel.

In der U-Bahn nach Hause wird mir dreimal schlecht und ich muss zweimal aussteigen, weil ich zu sehr darüber nachgedacht habe, wie die Piercerin ein Loch durch Knorpel gebohrt hat. Wahrscheinlich ist es ganz gut, dass ich mit 15 meinem schlechten Kreislauf und der damit einhergehenden mangelnden Coolness nicht ins Auge blicken musste. Ich fühle mich wie neu – und so, als hätte ich noch einiges vor mir als diese neue Person.

Die Autorin schaut auf nach links, ihre Haare werden mit einer Klammer zurückgehalten, um das Piercing an ihrem Ohr zu zeigen.

Dieses Piercing ist so gar nicht ich. Und ich bin gespannt herauszufinden, wer es ist. Als ich vor ein paar Tagen ein Buch gegoogelt habe, stand in der Beschreibung: "…transports the reader to a sunnier, dreamier, more reckless time and place." Und während ich so in der U-Bahn stehe und versuche, mich nicht zu übergeben, habe ich das Gefühl, dass ich genau da hin fahre. Ich fühle mich kitschig und aufgeregt.

Kann man auch als 24-Jährige etwas noch so ungezügelt wollen wie eine Siebenjährige eine Cola zum Happy Meal? Hoffentlich. Vielleicht will ich jetzt immer mal wieder unvernünftige Dinge. Zu Hause wartet eine Schüssel Frosties auf mich.

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