In dieser Küche darf nie ein Messer verschwinden

Dieser Artikel stammt aus unserer Redaktion in Zürich.

S.* ist Gefängniskoch, seit zehn Jahren. Noch nie sei etwas Schlimmes passiert, erzählt er gleich als erstes, “bis letzte Woche”. Zwei Häftlinge seien aneinandergeraten. “Der eine hat dem anderen seine Kaffeetasse frontal ins Gesicht geschlagen. Wir haben einige Zeit gebraucht, um das Ganze wieder zu putzen”, so S. “So ein Vorfall macht mir wieder bewusst, dass ich hier in einem Gefängnis bin.”

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S. ist Familienvater. Mit seinen grau-melierten Haaren und dem Dreitagebart sieht er freundlich aber streng aus. Wer sich mit S. unterhält, hat automatisch Respekt vor ihm. Es ist nicht sein Tonfall, sondern vielmehr was er sagt. Er weiss, wovon er spricht. Mit der Arbeit im Knast hat der Koch das Privileg und die Bürde zugleich, in die psychischen Abgründe tausender Menschen zu blicken. Er kocht nicht nur für sie, sondern hört auch ihren Problemen zu. Er nimmt Anteil an ihrem Schicksal und muss gleichzeitig auf der Hut vor Angriffen bleiben. Denn in der Küche dürfen die sechs Insassen, die S. seine “Küchenjungs” nennt, sämtliche Messer benutzen.

Der Innenhof im Untersuchungsgefängnis Zürich
Der Innenhof vor der Küche im 102-jährigen Gefängnis Zürich

Um sieben Uhr morgens beginnt die Schicht. Die Insassen, die in der Küche arbeiten, haben sich alle freiwillig zum Dienst gemeldet. In der Untersuchungshaft herrscht im Gegenzug zum Schweizer Strafvollzug keine Arbeitspflicht. Neben der Abwechslung vom Gefängnisalltag hat der Küchendienst aber einen weiteren Vorteil: Wer hier arbeitet, darf täglich duschen. “Oben”, wie S. die Zellenblöcke nennt, wird nur zweimal in der Woche geduscht. Für die restliche Hygiene muss ein Waschbecken in der Zelle reichen. Warmwasser gibt’s dort keines.


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Aber nicht jeder, der sich meldet, kriegt auch einen Job. “Bevor man in der Küche arbeiten darf, muss man sich oben bewähren”, sagt S. Nach einem dreitägigen Probearbeiten entscheidet vor allem das Team, ob der Neuling in der Küche arbeiten darf: “Schlussendlich entsteht auch hier unter den Insassen eine Gruppendynamik, zu der man passen muss.” Kocherfahrung müsse niemand mitbringen, ein paar Grundkenntnisse würden reichen. S. muss sich “sowieso mit Händen und Füssen erklären”, im Gefängnis werden über 100 Sprachen gesprochen: “Ich kann eine davon gut und das ist Schweizerdeutsch”.

In der U-Haft gilt die Unschuldsvermutung. “Das bringt das persönliche Verhältnis auch ein wenig ins Gleichgewicht”, sagt S. “Man kann sich zwar einreden, fair und unvoreingenommen zu sein, aber das geht nicht. Wenn man das Delikt kennt, ist es als Familienvater zum Beispiel bei gewissen Straftaten schwierig.” Nichtsdestotrotz empfindet er auch oft Mitgefühl mit Häftlingen: “Es gibt Leute, die zeigen nicht so stark, wie es ihnen geht. Anderen merkst du an, dass sie wie Hunde leiden. Die zerreisst es schier.” Die Gespräche mit den Küchenjungs seien oft privat, drehen sich eher nicht um die Straftaten, die ihnen zur Last gelegt werden. Bei den meisten gehe während der Inhaftierung im Privatleben viel kaputt, erzählt S. “Hier siehst du viel Scham, Finanzprobleme, Trauer, Wut und Sehnsucht.”

Gefängniskoch S. in seiner Küche

Wenn das Team stimmt und die Arbeitsverteilung ohne Stress oder Langeweile verläuft – “wenn sie nichts mehr zu tun haben, fangen sie an Blödsinn zu machen” – herrscht auch im Gefängnis mal gute Stimmung. “Wir lachen viel in der Küche”, sagt S. “Aber natürlich muss man da auch aufpassen, dass man die Distanz zum Häftling wahrt.” Der Küchenchef und seine Sous-Chefin tragen zu ihrer Sicherheit Personenschutzgeräte. Befindet sich das Gerät, das wie ein überdimensionaler Schlüsselhänger mit rotem Buzzerknopf an der Hose von S. baumelt, in einer waagrechten Position, geht es automatisch los. Die zwei Kameras in der Küche dienen nur der Beweisaufnahme: “Schnelle Hilfe gewährleisten die nicht, es braucht immer eine Reaktionszeit”, erklärt S.

Die Sous-Chefin bereitet das Abendessen vor. Es gibt Fleischkäse.
Zum Abendessen gibt es an diesem Tag Fleischkäse

“Oft sind wir verwundert, dass nicht mehr passiert”, sagt er. Grösstenteils seien die Arbeitstage in der Gefängnisküche ruhig. Irgendein Gegenstand aus der Küche tauche immer wieder im Zellenblock auf, “meistens sind das Lebensmittel oder vielleicht auch mal ein Löffel.” Bei den Messern passen S. und die Sous-Chefin aber besonders auf. “Vor allem die kleinen Rüstmesser verschwinden ab und an im Abfall”, die Insassen würden sie dann in der Pause aus dem Container fischen, um sie in ihre Zellen zu schmuggeln. “Aber spätestens wenn es zurück in die Zelle geht, merken wir das dann beim Filzen schon.”

Gemaltes Bild für das Gefängnis Zürich: Das Wappentier der Stadt ist ein Löwe

Obwohl er täglich mit potentiellen Straftätern arbeitet, fühlt sich S. nicht unwohl in der Gefängnisküche. “Ein Vorfall hat mich mal sehr berührt: Zwei Insassen waren kurz davor, aufeinander loszugehen. Ein Dritter, ein wahrer Koloss von einem Mann, ging in die Mitte und hat den einen, ohne etwas zu sagen, einfach auf den Tisch gedrückt, um die Situation zu entschärfen. Das war der Moment, an dem ich merkte: Die helfen einem!” Ein guter Tag sei es aber immer erst dann, wenn er und seine Arbeitskollegin unversehrt nach Hause gehen können, sagt S. “Angst darf man keine haben, Respekt dafür umso mehr.”

* Name auf Wunsch des Protagonisten abgekürzt

Frühstück im Gefängnis Zürich
Das Frühstück für den nächsten Tag wird bereits am Nachmittag davor abgegeben

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Das Untersuchungsgefängnis Zürich im Überblick

Bis zu rund 153 Männer und Frauen sitzen mitten in der Stadt Zürich in Untersuchungshaft. Im Durchschnitt verbringen sie dort laut Statistiken der Gefängnisleitung rund drei Monate. “Erlebt haben wir von einer Minute bis zu vier Jahren eigentlich alles”, so Gefängnisleiter Fritz Hösli zu MUNCHIES. Arbeiten die Insassen in der Küche, erhalten sie in den ersten drei Monaten 10 Franken (rund 8,50 Euro) pro Tag, wenn sie länger dort arbeiten gibt es 12 Franken (rund 10 Euro).

Zellentür mit offener Klappe

Der Kanton gibt vor, dass in dieser Anstalt pro Tag und Insasse rund 7 Franken (rund 7,80 Euro) für die Verpflegung ausgegeben werden dürfen – davon müssen drei Mahlzeiten am Tag bezahlt werden. Gekocht wird im Gefängnis international. Auch auf Lebensmittelallergien, Religion und verschiedene Ernährungsformen wird in der Gefängnisküche geachtet. Im Durchschnitt gibt es einen Veganer unter den Insassen, auch für den wird gesorgt. Der Menüplan, der sich alle fünf Wochen wiederholt und mit einem Sommer- und Winterplan abgewechselt wird, wurde von einer Ernährungsberaterin begutachtet und abgenommen. S. aber sagt: “Du kannst dich so zwei, drei Jahre ernähren. Aber es gäbe definitiv Besseres. Die Gerichte hier sind klar zu kohlenhydratlastig, als dass das auf längere Dauer gut ist.”

Gegessen wird in der Untersuchungshaft in der Zelle. Mittags um 11 Uhr bei offener Türe, das Abendessen wird um 16:30 Uhr durch die Klappe ausgegeben. Das Frühstück wird den Insassen bereits um 16 Uhr abgepackt gegeben und besteht aus Kaffee, Zucker, Kaffeerahm, Brot, Butter und Konfitüre. Einen Wasserkocher haben die Insassen auf der Zelle.

Essen im Knast: So sieht Gefängnisessen aus
Links: Rindsgehacktes mit Hörnli, Käse und Apfelmus für rund 1,90 Franken pro Portion (rund 1,60 Euro). Rechts: Hühnerschenkel an Rosmarinjus mit Butterspätzli und Frucht für rund 2,30 Franken pro Portion (rund 1,90 Euro) | Fotos mit freundlicher Genehmigung von S.

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