Politik

Gefängnisse sind teuer, ungerecht und gefährlich – reißt sie ein!

Eine Person schaut hinter Gittern hervor in die Freiheit

Als ich noch ein Mädchen war, musste ich einmal ins Gefängnis, na ja fast. Ein guter Freund meiner Eltern, ein Staatsanwalt, zeigte meinem besten Freund und mir die Säle des Amtsgerichts und auch die Zellen im Keller. Ich erinnere mich an einen langen Gang, von dem links und rechts Türen abgingen. Wände und Boden waren aus glattem Spritzbeton, der sich nicht entscheiden konnte, ob er grau oder grün sein wollte. Die Zellen waren eng und düster, ich glaube, eine Pritsche stand darin. Wahrscheinlich auch ein Waschbecken, vielleicht ein Klo. So zeichnet zumindest meine Erinnerung das Bild; ich bin nicht sicher, ob die Details stimmen.

Woran ich mich aber sicher erinnere, sind die Gefühle, die dieser Gang in mir erweckte. Beklemmung. Grusel. Nie nie nie wollte ich in so einer Zelle leben müssen. Wenn ich heute darüber nachdenke, war wohl genau das der pädagogische Zweck hinter diesem Besuch.

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Seit Ende des 18. Jahrhunderts ist das Gefängnis der zentrale Ort der Strafe in Europa. Zwar wurde die Freiheitsstrafe immer humaner, indem Architekten die Anstalten freundlicher gestalteten oder Psychologen neue Therapien einführten. Aber das Konzept, Menschen zur Strafe wegzusperren, blieb.


Außerdem bei VICE: Zu Besuch in einem Gefängnis, aus dem niemand ausbrechen will


Doch durch die Corona-Pandemie wird dieses Konzept nun so stark infrage gestellt wie noch nie zuvor. Viele Menschen auf engem Raum festzuhalten, ist unzumutbar. Soziale Distanzierung bleibt Häftlingen verwehrt. #stayathome hat eine bittere Ironie, immerhin gefährdet sie Inhaftierte. Länder wie der Iran oder die Türkei haben Tausende Menschen freigelassen – wenn auch sicher nicht aus humanen Erwägungen.

Dennoch: Es erscheint während einer Pandemie als nicht mehr legitim und nachvollziehbar, Menschen einzusperren. Aber ist das sonst, in normalen Zeiten, anders?

Verglichen mit den Strafen, wie sie bis zum 18. Jahrhundert in Europa üblich waren, wirkt die Freiheitsstrafe selbst in graugrünen Gefängniszellen human. Damals luden Herrschende Bürgerinnen und Bürger zu großen Festen ein, bei denen sie Straffällige körperlich quälen ließen. Die Zunge durchbohren, mit Pferden vierteilen, auspeitschen: Die Menschen hatten sich ein unfassbares Repertoire an Grausamkeiten ausgedacht. Ließen sie Kriminelle am Leben, brannten sie ihnen oft ein Zeichen ins Gesicht – brandmarkten sie für den Rest ihres Leben. Resozialisierung? No way.

Heutzutage ist die Resozialisierung, also das Zurückführen eines Straftäters in die Gesellschaft, laut Strafvollzugsgesetz der Sinn des Freiheitsentzugs. Faszinierend, wie stark sich das Verständnis von Mensch und Staat innerhalb einiger Jahrhunderte verändert hat: Aus dem unverbesserlichen Kriminellen wurde einer, der im Grunde seines Herzens gut ist. Und aus dem rachsüchtigen Staat einer, der den Menschen mit Strenge zu einem gesetzestreuen Wesen erzieht.

Klingt schön, läuft aber nicht. 2016 veröffentlichte das Bundesjustizministerium die Ergebnisse einer Langzeitstudie: Jeder zweite Entlassene wird demnach innerhalb von neun Jahren wieder straffällig. Die sogenannte Rückfallquote ist damit deutlich höher als in anderen Ländern wie etwa Norwegen. Da liegt sie bei 20 Prozent. Und eine Erhebung aus den USA zeigt: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch nach einer Haftstrafe erneut verurteilt wird, ist nur minimal kleiner als nach einer Bewährungsstrafe. Wozu also überhaupt Menschen wegsperren?

Kosta gehört zu den vielen Menschen auf diesem Planeten, die zur Welt gekommen sind und einfach Pech hatten. Arme Familie, Eltern früh gestorben, auf der Straße gelebt, sich mit Drogen benebelt. Trotz allem beendete Kosta die Schule, fand Arbeit. Sein Leben lief gut. Dann kam er ins Gefängnis.

Wenn ich über den Sinn von Gefängnissen nachdenke, lande ich immer bei Kosta. Ich lernte ihn vor ein paar Jahren kennen. Kosta gehört zu den vielen Menschen auf diesem Planeten, die zur Welt gekommen sind und einfach Pech hatten. Arme Familie, Eltern früh gestorben, auf der Straße gelebt, sich mit Drogen benebelt. Trotz allem beendete Kosta die Schule, fand Arbeit. Sein Leben lief gut. Dann kam er ins Gefängnis. Er hatte geklaut, um sich Heroin und Koks leisten zu können. Er verlor Job und Wohnung, hatte nach seiner Freilassung keine Perspektive, verschwand in der Drogenszene und landete wieder im Gefängnis. Diesmal, weil er mehrfach ohne gültigen Fahrschein in der U-Bahn erwischt wurde.

Kosta erschien mir wie ein gebrochener Mann. Einer, der Unterstützung gebraucht hätte, aber Härte erfahren hat. Anstatt dass er durch seine Zeit im Gefängnis wieder in die Gesellschaft zurückgeholt wurde, drängte man ihn weiter aus ihr heraus. Kosta wurde nicht resozialisiert. Er wurde desozialisiert. Arbeiten wolle er gehen, erzählte er, aber niemand stelle einen Ex-Knacki an.

Kosta trägt zwar kein Brandzeichen im Gesicht, aber den Knast im Lebenslauf. Was unterscheidet seine Verdammnis von der vor 250 Jahren?

Seit vielen Jahren äußern sich vor allem zwei Männer regelmäßig zu Fragen des Strafvollzugs: Bernd Maelicke und Thomas Galli. Maelicke ist Jurist und Sozialwissenschaftler und hat das Buch Das Knast-Dilemma geschrieben. Der Jurist Thomas Galli war selbst viele Jahre Direktor einer JVA – und plädiert nun dafür, die Haftstrafe abzuschaffen. Beide skizzieren die Probleme der Haft: Gefangene lernen nicht, sich in der Welt zurechtzufinden, sondern passen sich den Strukturen der Haftanstalt an. Dort bilden sich Subkulturen, es herrscht Gewalt. Gefangene stumpfen entweder ab, werden zynisch oder aggressiver. Manche knüpfen gar Kontakte zu anderen Kriminellen, die sie anders nie kennengelernt hätten. Therapien und Unterstützung sind zu selten. Der Übergang aus dem Knast in die Freiheit erfolgt oft in wenigen Tagen – kaum Zeit, um die Entlassenen auf ein eigenständiges Leben vorzubereiten. Wer aus dem Gefängnis kommt, hat selten eine Perspektive.

Maelickes und Gallis Schilderungen passen mit Kostas Erfahrung zusammen. Er kam ohne Job, aber mit etwas Geld raus. Doch das jagte er sich schneller in seine Venen, als jemand “Wiedereingliederung” sagen kann.

Es kommt mir unverhältnismäßig vor, dass Kosta überhaupt in den Knast musste. Strafe und Stigma haben ihn stärker geschädigt, als er mit seinen Vergehen – Klauen und Schwarzfahren – Schaden angerichtet hat. Gerade in diesen Tagen erscheint es mir geradezu absurd, dass Menschen wegen so etwas sitzen: Wenn man Häftlinge von einem Tag auf den nächsten aus dem Gefängnis entlassen kann, weil sie für die Gesellschaft keine Bedrohung darstellen – wieso sitzen sie dann überhaupt hinter Gittern?

Dort sitzen längst nicht nur Schwerverbrecher, Mörder oder Vergewaltiger. Ein Blick in eine Übersicht vom Statistischen Bundesamt verrät: Die meisten Menschen wurden zu Gefängnisstrafen von bis zu zwei Jahren verurteilt. Sie haben also zum Beispiel geklaut oder müssen eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen, weil sie eine Geldstrafe nicht zahlen konnten. Klassische Armutsdelikte. Die Freiheitsstrafe trifft zum größten Teil Menschen, die gesellschaftlich eh schon schlechter gestellt sind – und sich keinen guten Strafverteidiger leisten können.

In der US-amerikanischen Gefängnisforschung beschreibt der Ausdruck “Punishing the poor”, also “Bestrafung der Armen”, dass vor allem die sozioökonomische Herkunft von Menschen bestimmt, ob sie einmal im Knast landen. Genau wie etwa die Hautfarbe, Stichwort Racial Profiling.

Vor dem Gesetz mag jeder Mensch gleich sein. In der Realität verfestigt die Freiheitsstrafe soziale Ungleichheiten.

Es ist also ziemlich egal, ob Virus oder kein Virus: Gefängnisse gefährden die Zukunft ihrer Insassen. Das ist kein neuer Gedanke. Der Soziologe Michel Foucault beschreibt, dass die Diskussion um die Sinnhaftigkeit der Haftstrafe so alt ist wie das Gefängnis selbst. Wieso stecken wir immer noch so viele Menschen rein?

Vielleicht, weil Menschen auf Vergeltung stehen, weil Gemeinschaften glauben, ein Anrecht auf Rache zu haben. Es steckt noch ein Teil des Bürgers in uns, der früher vom Rang aus die blutigen Martern des Königs anfeuerte. Ich nehme mich davon nicht aus: Als ich gesehen habe, wie der Sexualverbrecher und Filmregisseur Harvey Weinstein zu seiner Haftstrafe abgeführt wurde, habe ich Justicia ein High Five gegeben. Ich kann mir kaum vorstellen, wie sehr der Drang nach Rache in jemandem lodert, der erleben musste, dass einem geliebten Menschen etwas angetan wurde.

Man gewinnt wohl kaum Wählerinnenstimmen mit der Idee, Strafjustiz liberaler zu gestalten. Im Gegenteil: Medien wie Politiker diskutieren eher über die Verschärfung der Gesetze denn über ihre Lockerung. Und auch die Frage, wie Resozialisierung besser gelingen könnte, hat die Regierung nicht auf dem Radar. Das Wort taucht im aktuellen Koalitionsvetrag nicht einmal auf.

Eine Prise Feigheit gehört wohl auch zu den Gründen, warum wir noch so vielen Menschen ihre Freiheit rauben. Ähnlich wie bei der Drogenpolitik: Da zeigen die Erfahrungen liberalerer Länder seit Jahren, dass der regressive Kurs mehr Schaden als Nutzen bringt – trotzdem trauen sich Politiker nicht, über Entkriminalisierung nachzudenken.

Gönnen wir uns in diesen tristen Tagen doch ein bisschen Utopie. Wie könnte Deutschland ohne Gitter aussehen?

Es ist das Jahr 2025. Der junge Kosta hat keine Kohle mehr für Koks. Er steckt in einem O2-Shop ein paar Handys in seine Tasche und verlässt den Laden, ohne zu bezahlen. Das hat er öfter schon gemacht, erwischt wurde er nie. Dieses Mal hat er Pech: Der Alarm geht los, Security hält ihn fest, die Polizei kommt.

Kosta wird nicht nur eine Verteidigerin, sondern auch ein Sozialarbeiter zur Seite gestellt. Gemeinsam mit der Besitzerin des O2-Shops und einem gerichtlichen Mediator verhandeln sie darüber, wie Kosta seine Tat durch gemeinnützige Arbeit wiedergutmachen könnte. Das geht, seit vor zwei Jahren die Justiz reformiert wurde. Kleinere Delikte wie eben Diebstähle oder Drogenbesitz wurden aus dem Strafgesetzbuch gestrichen, Ersatzfreiheitsstrafen wurden abgeschafft. Kosta hat mit seinem Diebstahl keine Straftat, sondern eine Ordnungswidrigkeit begangen.

Kosta und die Besitzerin des O2-Shops einigen sich darauf, dass er eine Woche lang Blätter vor dem Laden wegfegt und eine weitere Woche dabei hilft, Bücher in die richtigen Regale der Stadtbücherei zu räumen. Die Verteidigerin hält die Maßnahme für angemessen. Also geht Kosta eine Woche lang vor seiner Arbeit in einem Restaurant zum Laden, um Blätter zu fegen. Nach Feierabend sortiert er Bücher in der Bibliothek. Sein Chef kriegt nichts von der Maßnahme mit, Kosta behält seinen Job und seine Wohnung.

Der Sozialarbeiter bleibt drei Monate an Kostas Seite. Er soll herausfinden, welche Unterstützung Kosta gebrauchen kann, um kein weiteres mal zu klauen. Braucht er ein Coaching, um einen besseren Job zu finden? Sollte er umziehen, um sich aus seinem alten Umfeld zu lösen? Will er einen Entzug machen?

Wir schreiben das Jahr 2030. Lukas kommt in die 8. Klasse einer Realschule. Gern geht er da nicht hin. Manchmal lässt er es auch bleiben. Seine Eltern merken es eh nicht vor lauter Streit. Wenn seine Klassenlehrerin meckert, hört er nicht zu. Er hat das Gefühl, keiner versteht ihn – außer dem Sozialpädagogen, der seine Klasse betreut. Er kennt ihn schon seit der 5. Klasse.

Als der Staat die Justiz reformiert hat, hat er auch ein flächendeckendes System für soziale Arbeit an Schulen eingeführt. Seitdem wird jede Klasse nicht nur von einer Klassenlehrerin, sondern auch von einem Sozialarbeiter oder -pädagogen betreut.

Dem Sozialpädagogen kann Lukas von seinen Problemen erzählen. Er hilft ihm, Lösungen zu finden, klärt Dinge mit seinen Eltern, mit Lehrerinnen, mit Ämtern. Er ist Teil eines Netzes, das soziale Ungleichheiten abschwächen und diejenigen auffangen soll, die sonst keine Unterstützung kriegen. Bevor sie gegen ein Gesetz verstoßen.

Das Jahr 2040. Sarah lebt in einem 20 Quadratmeter großen Zimmer in einer WG. Vor ihrem Fenster stehen Pflanzen, in ihrem Regal einige Bücher. Sie wäscht ihre Kleidung, sie kauft ein, sie kocht für sich und vier Tage die Woche geht sie arbeiten. Wäre um das Dorf, in dem sie lebt, nicht eine große Mauer mit Stacheldraht, würden durch die Straßen nicht regelmäßig Sicherheitsleute patrouillieren, niemand würde ahnen, dass Sarah vor ein paar Jahren einen Menschen getötet hat.

Die Gefängnisse wurde eingerissen, statt ihnen wurden Dörfer gebaut. Statt in Zellen wohnen die Inhaftierten dort in Zimmern, statt auf Fluren in Wohnungen. Sie werden von jenem Leben, in das sie entlassen werden sollen, nicht vollkommen entwöhnt.

Das mag wie eine weltfremde Utopie klingen. So weltfremd ist sie aber nicht. Vorbild dieser Überlegung ist Bastøy in Norwegen, eine Justizanstalt auf einer Insel, auf der es keinen Stacheldraht gibt, dafür aber einen Strand.

Seit Sarah, zurück zur Utopie, in der Resozialisierungs-WG wohnt, hat sie jeden zweiten Tag eine Therapiesitzung. Eine Sozialarbeiterin besucht die WG täglich. In einem halben Jahr kann Sarah zurück auf die andere Seite der Mauer ziehen. Ihren Job kann sie dann weitermachen, denn sie arbeitet sowieso schon außerhalb der JVA. Zusammen mit der Sozialarbeiterin sucht sie eine Wohnung. Sie wird Sarah auch in den kommenden zwei Jahren begleiten, am Anfang mit wöchentlichen, später mit monatlichen Treffen.

Die Rückfallquote in Deutschland ist auf 12 Prozent gesunken.

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