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Die Geschichte des NASA-Wissenschaftlers, der einst für die Nazis Raketen baute

Er war der letzte noch lebende Wissenschaftler, der einst an Nazi-Raketen gearbeitet hatte: Am Dienstag, dem 5. Juni, berichtete die Associated Press, dass Georg von Tiesenhausen in seinem Zuhause in Alabama gestorben ist. Er wurde 104 Jahre alt. Der Forscher wurde einst von den US-Amerikanern im Zuge der geheimen Operation Paperclip in die USA gebracht und als NASA-Forscher rekrutiert.

Von Tiesenhausen hatte sein Leben der Raketenforschung gewidmet. Mehr als drei Jahrzehnte lang hatte er für die NASA gearbeitet; eines seiner Projekte war etwa die Plattform, die die gigantischen Saturn-V-Raketen zu ihrer Startrampe gebracht hatte. Jene Rakete, mit der alle bemannten Mondlandungen gemeistert wurden. Am bekanntesten ist von Tiesenhausen aber wohl für seinen Konzeptentwurf des Lunar Rovers, der bei den letzten drei bemannten Apollo-Missionen auf dem Mond zum Einsatz kam.

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Bevor er für die NASA arbeitete, lernte von Tiesenhausen sein Handwerk als Raketen-Ingenieur in der sogenannten Heeresversuchsanstalt Peenemünde, dem wichtigsten Waffenlabor der Nazis. “In das Areal von Peenemünde zu kommen, war eine der größten Überraschungen meines Lebens”, sagte von Tiesenhausen in den 1980ern in einem Fernsehinterview.

Wie von Tiesenhausen im wichtigsten Waffenlabor der Nazis landete

Peenemünde ist vor allem bekannt als Domäne des wegweisenden Raketenwissenschaftlers Wernher von Braun, der die Heeresversuchsanstalt als technischer Direktor leitete. Von Tiesenhausen arbeitete an der Entwicklung von Testständen und der V2-Rakete mit. Die V2 ist bekannt als erste Langstreckenrakete der Welt.

Von Braun war schon vor Beginn des Zweiten Weltkriegs in die NSDAP eingetreten und Mitglied der SS. Von Tiesenhausen kam 1943 in von Brauns Team, nach einer Reihe überraschender Wendungen. Mitten in seinem Studium wurde von Tiesenhausen in die Wehrmacht einberufen, wie die Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg über ihren ehemaligen Studenten berichtet.

“Wir standen 40 Kilometer westlich von Moskau”, zitiert die Hochschule den Forscher. Weil die Nazis aber Ingenieure brauchten, schickten sie von Tiesenhausen wieder zurück. Das nationalsozialistische Deutschland zog damals Tausende Wissenschaftler von der Front ab. “Ich hatte sehr gute Zensuren, alles andere hätte mich sofort wieder zurück an die Ostfront gebracht”, erinnerte sich von Tiesenhausen Jahre später an die Entscheidung.

Auf dem Versuchsgelände in Peenemünde arbeiteten aber nicht nur Wissenschaftler. Die Nazis setzten auch mehrere Tausend Zwangsarbeiter ein und errichteten zu diesem Zweck in Peenemünde ein Außenlager des Ravensbrückener Konzentrationslagers. Die Häftlinge mussten unter anderem körperlich besonders anstrengende Bauarbeiten auf dem Gelände erledigen und sollten auch gezwungen werden, die spätere Montage der Raketen zu unterstützen.

Dass die Forscher genau wussten, wer ihre Arbeit unterstützte, zeigt sich schon darin, dass Wernher von Braun das Lager mit der speziellen Bezeichnung Häftlingslager F1 bedachte. Gewohnt haben die Zwangsarbeiter eingepfercht in einem kleinen Keller unterhalb einer Fertigungshalle. Innerhalb von weniger als einem Jahr sind mindestens 171 Zwangsarbeiter verstorben, wie eine Verbrennungsliste eines nahegelegenen Krematoriums belegt. Die genaue Zahl von weiteren Opfern ist nicht bekannt. Auch weil die Nazis in den Monaten vor Kriegsende dazu übergingen, die Leichen in einem Massengrab auf dem Gelände zu verscharren.

Die Raketen des Forschers sollten Manhattan angreifen

Ursprünglich beschäftigte sich von Tiesenhausen vor allem mit Testständen für V2-Triebwerke. Gegen Kriegsende beauftragte man ihn jedoch mit einem streng geheimen Projekt unter dem Codenamen “Test Stand 12”. Seine Aufgabe war es, eine Flotte Mini-U-Boote zu entwickeln, die V2-Raketen auf ferne Ziele abfeuern konnten. “Wir wollten der V2 eine große Reichweite geben, sie zum Beispiel auf Manhattan schießen”, berichtete er in einem Interview über seine Arbeit in Peenemünde. “Nicht nur eine, sondern so viele wie möglich.” So weit kam es nicht. Noch bevor das Projekt über einen Prototypen hinauskam, war der Krieg vorbei.

Nach dem Krieg holten die USA Hunderte deutsche Wissenschaftler und Ingenieure im Zuge der Operation Paperclip ins Land. Viele von ihnen arbeiteten für die NASA und das Militär an Raketen. Der prominenteste von ihnen ist von Braun, der 1945 in die USA kam und ab 1950 auf einem Militärgelände in Huntsville, Alabama, stationiert war. Drei Jahre später wurde auch von Tiesenhausen nach Huntsville versetzt, wo er ursprünglich für die US-Armee an der Redstone-Rakete arbeitete.

Nachdem er ein paar Jahre an Raketen für das Militär gearbeitet hatte, wurde von Tiesenhausen zum Marshall Spaceflight Center der NASA verlegt, um beim Apollo-Programm zu helfen. Dort sollte er die nächsten 30 Jahre bleiben und an bahnbrechenden Raumfahrtkonzepten arbeiten.

“Ich hatte lang genug in meinem Leben an Waffensystemen gearbeitet”

“Wir waren die einzige Gruppe damals, die wusste, wie man Langstreckenraketen baut”, sagte von Tiesenhausen in einem ausführlichen Interview von 1988 über von Brauns Team. Manche US-Amerikaner standen den Deutschen skeptisch gegenüber, wie der Wissenschaftler berichtete. Trotzdem wurde von Tiesenhausen schon bald zum “hauseigenen Brainstormer” der NASA, und sollte vor allem neue Ideen entwickeln.

1959 stellte er sein Konzept für ein Mondfahrzeug vor – einen Moment, den von Tiesenhausen wegen der damaligen Reaktion seiner Vorgesetzten als “ein Desaster” beschrieb. Zwölf Jahre später allerdings fuhren Astronauten mit einem Rover über die Mondoberfläche, der seinem Design stark ähnelte.


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Während der 60er und 70er Jahre arbeitete von Tiesenhausen an mehreren Projekten im Apollo-Umfeld und half der NASA dabei, sein unbemanntes Weltraumerkundungsprogramm aufzubauen. Als man ihn allerdings darum bat, Präsident Ronald Reagans Strategic Defense Initiative zu unterstützen, besser bekannt als Star Wars, lehnte er ab. “Ich hatte einen Grundsatz”, sagte von Tiesenhausen. “Ich hatte lang genug in meinem Leben an Waffensystemen gearbeitet und wollte nichts mehr damit zu tun haben – insbesondere nicht als Mitarbeiter der NASA.”

Seine NASA-Karriere ermöglichte von Tiesenhausen letzlich einen wohldotierten Start in ein anderes Leben. Eine erstaunliche Karriere für einen Mann, der einst U-Boot-Raketen entwickelte, die New York City zerstören sollten – und nur zu verstehen im Kontext der besonderen politischen Situation des Kalten Krieges. In den späten 80ern zog sich von Tiesenhausen aus der aktiven technischen Entwicklung bei der NASA zurück und verbrachte einen Großteil seines späteren Berufslebens damit, bei Lehrveranstaltungen zu helfen und Vorträge für Kinder im Space Camp zu halten.


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