Im Osten Thüringens liegt Gera, einst einer der reichsten Orte Deutschlands. Kinder der Stadt sind Olympiasiegerinnen und -sieger, Weltmeister, Pulitzer-Preisträger und ehemalige Bundesminister. Napoleon, Juri Gagarin und Johann Sebastian Bach waren auch schon hier. Doch seit ihren Besuchen hat sich die Stadt verändert. Die Einwohnerzahl sank von einst 135.000 Menschen, die hier zur Wendezeit lebten, auf heute 95.000. Im Stadtrat bildet die AfD die größte Fraktion. Viele Menschen hier sind unzufrieden. Das spürt man besonders in einem Viertel. Es steht stellvertretend für viele scheinbar vergessene Gegenden in Deutschland: die Plattenbausiedlung Bieblach-Ost.
Von Ende November bis Anfang Januar haben wir das Plattenbauviertel mehrfach besucht. Wir wollten erfahren, wie es den Menschen dort geht.
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Obwohl Bieblach-Ost der jüngste Stadtteil Geras ist, ist er auch einer der marodesten. Schon der Weg in das Viertel ist speziell. Während Gera langgezogen im Tal der Weißen Elster liegt, versteckt sich Bieblach-Ost in einem Seitental am Stadtrand. Eine alte Plattenstraße führt den Hang hinauf. Sie teilt das Viertel in zwei Hälften. Die rechte Seite mutet etwas moderner an: Fast alle Häuser sind saniert, meist in hellen Gelbtönen gestrichen. Die unsanierten, grauen und dunkelroten Häuser im unteren Bereich der linken Seite wirken heruntergekommen. Einige scheinen unbewohnt. Manche Scheiben sind eingeworfen, Eingänge zugenagelt.
Je höher man der Straße folgt, desto schöner (und besser saniert) sind die Häuser. Oben auf dem Berg liegt ein Gewerbegebiet mit einem Einkaufszentrum. Dahinter eine Wohnsiedlung aus neueren Reihen- und Einfamilienhäusern.
“Manchmal haben wir das Gefühl, als würden sie uns bald ganz wegreißen.”
Der Spatenstich für Bieblach-Ost fiel 1986. Bis 1990 sollten hier 3.500 Wohnungen entstehen. Später kamen weitere dazu. Klaus Koch, 66, war von Beginn an dabei. 1988 sei er mit seiner Familie ins Viertel gezogen, erzählt der Rentner auf einer gemütlichen Couch in seiner Wohnung. Diese liegt auf der linken Seite des Viertels, in einem der etwas besseren Häuser.
“Donnerwetter, hier ist ja was los. Da haben die noch gebaut wie verrückt”, sagt Koch über seinen ersten Ausblick vom Balkon damals. “Da hat’s überall geblitzt und gefunkt, weil sie die ganzen Platten verschweißt haben. Das sah gigantisch aus.” Wohnungen in Neubaublöcken waren damals beliebter als die meist unsanierten Altbauten.
Dann kam die Wende ins Viertel und mit ihr weniger glanzvolle Zeiten. Viele Ostdeutsche verloren ihre Stelle und suchten eine neue im Westen. Koch war in der DDR Meister der Qualitätskontrolle bei Carl Zeiss in Gera. 1990 schloss sein Kombinat. Erst sechs Jahre später fand er wieder einen Job, wurde wieder entlassen und fand wieder etwas Neues. Nach 45 Arbeitsjahren ging er 2020 in den Vorruhestand. Seine Frau folgt ihm dieses Jahr. “Wir kommen über die Runden. Groß einschränken müssen wir uns noch nicht.” Er habe sich eine gute Rente erarbeitet. “Du musst arbeiten gehen, du musst Geld verdienen, damit du dir das alles leisten kannst. Und da ist es dann egal, wer gerade regiert.” Wie Koch leben viele Rentner seit Langem im Viertel. Was man einmal hat, gibt man hier nicht mehr so schnell her.
Kochs Kinder haben den Osten verlassen. Weil viele ihr Glück an anderen Orten suchten, leerte sich das Viertel. Besonders in den 2000er Jahren wurden nach und nach Blöcke abgerissen. Die Kaufhalle, Spielplätze und kleine Läden verschwanden. “Manchmal haben wir das Gefühl, als würden sie uns bald ganz wegreißen”, sagt Koch. “Dann ist hier nichts mehr. Dann sind wir die Letzten, die hier wohnen.”
Die Menschen im Viertel helfen sich selbst
Durch das Grau im Viertel sticht frisches Grün. Wiesen und Bäume füllen die Flächen zwischen den Plattenbauten. Doch es könnte schöner sein. Buntere Fassaden, gepflegte Grünanlagen und vor allem mehr Spielplätze: Die wünschen sich die beiden Familienväter Ghulam Nagshband Osmani und Mohammad Zahur Panai. Wir treffen die beiden Afghanen im Büro eines Sozialarbeiters, der das Gespräch übersetzt.
Panai, seit fünf Jahren im Viertel, trägt eine afghanische Pakol-Mütze. An Osmanis Hand glänzt ein Ring mit einem rotem Stein. Er lebt seit vier Jahren hier. Beide Männer gehen auf die 60 zu, wirken älter. Mit ihren Familien sind sie aus Afghanistan geflüchtet und leben im unteren Bereich des Viertels. Schon 1991 hat man dort gezielt Wohnraum an Ausländer vergeben. Damals an Spätaussiedler aus Rumänien und Russland. Jetzt vermehrt an Menschen aus dem arabischen Raum.
Beim Wohnblock der beiden gibt es einen Spielplatz, im Sommer Treffpunkt vieler Familien. Zwei Bolztore, eine Wippe, ein kleines Drehgestell, ein Klettergerüst mit Rutsche, ein Reck. Das muss für die rund 70 Kinder reichen, die im Umkreis leben. Unweit davon verfällt eine kleine verlassene Kaufhalle. Regelmäßig wurde dort randaliert, bis man das Gebäude im Dezember verrammelte. Kinder und Jugendliche hatten sich darin einen Ersatzspielplatz geschaffen.
Alternativen gibt es nicht wirklich im Viertel, dafür müssten Panai und Osmani mit ihren Familien in die Innenstadt. Etwa zum ehemaligen Gelände der Bundesgartenschau. Aber die Entfernung sei zu groß und die Straßenbahnfahrten auf Dauer zu teuer, sagen beide.
“Wir bekommen Leistungen vom Jobcenter”, sagt Osmani, “aber es reicht nicht.” Die gestiegenen Preise machen sich bemerkbar. Seine Frau habe zwar Arbeit gefunden, sei aber nach nur neun Monaten gekündigt worden. Er selbst dürfe auch arbeiten, sei dazu aber nicht in der Lage. Gesundheitliche Probleme, darunter ein verletztes und ein blindes Auge, halten ihn ab. Folgen eines Taliban-Angriffs, der seine Familie getroffen und ihr Haus zerstört habe. Sein Vater, sagt Osmani, sei bei dieser Raketenwerfer-Attacke gestorben. Daraufhin flüchtete die Familie nach Deutschland.
Neben dem Spielplatz hat sich auf einem Parkplatz inzwischen ein halbes Dutzend Männer und Kinder versammelt, zu ihren Füßen liegen Gebetsteppiche. Ein Junge macht einen Muezzin-Ruf. Das sei neu, sagt der Sozialarbeiter. Offenbar schaffen sich die Menschen im Viertel eigene Räume und gestalten sie.
“Ruhe und dieses Viertel – das passt nicht zusammen.”
Nico, 24, und Jeanine, 21, stehen in ihrer leeren Sozialwohnung. Zweieinhalb Jahre lang lebten sie hier. Das Angebot einer privaten Wohnungsbaugenossenschaft, drei Monate lang mietfrei zu wohnen, hatte sie ins Viertel gelockt. Ende des vergangenen Jahres zogen sie fort. In eine ruhigere Gegend nahe der Innenstadt.
Ob Randale auf der Straße oder ein anstrengender Nachbar, “es war immer irgendwo was los”, sagt Jeanine über Bieblach-Ost. “Ruhe und dieses Viertel – das passt nicht zusammen.” Besonders nachts fühle sie sich draußen hier unwohl. Dann seien manchmal laute, trinkende Gruppen unterwegs.
Ob die Politik da etwas ändern müsste? Für Politik interessieren sich beide nicht wirklich. “Ich kann mich nirgendwo zuordnen. Das ist mein Problem”, sagt Nico. Wer der amtierende Oberbürgermeister von Gera ist, wisse er nicht. Beide gehen nicht wählen.
“Gera ist eine gute Stadt. Hat alles zu bieten, was man braucht, alles gut erreichbar”, sagt Nico. Auch aufsteigen kann man hier. Nico arbeitet als Systemadministrator, Jeanine hat kürzlich ihre Ausbildung zur Radiologieassistentin abgeschlossen. Jetzt haben sie das nötige Geld, um Bieblach-Ost hinter sich zu lassen. “In Bieblach-Ost fängt man an, wenn man eine Wohnung braucht und dann entwickelt man sich weiter”, sagt Nico.
Die Zukunft liegt woanders
Zu den jungen Menschen im Viertel gehört auch Saifullah Obaidi, 17, den wir nach der Schule auf seinem Nachhauseweg begleiten. Vor acht Jahren kam er aus Afghanistan nach Deutschland. Sein Vater war Ortshelfer in Kundus.
Er finde es “eigentlich ganz nett” in Bieblach-Ost, sagt Saifullah. Nur viel zu tun gebe es nicht. “Mein Alltag besteht aus Lernen, Schule und Fußball.” Mit Freunden treffe er sich meist am einzigen Imbiss im Viertel. Zwar gibt es nahe seines Blocks den einzigen Jugendclub, aber dort seien auch “schwierige Jugendliche”, zu denen er lieber auf Distanz gehe.
Dass Ausländer vor allem im unteren Bereich des Viertels leben, kritisiert Saifullah. Das Sozialamt weist die unsanierten Wohnungen zu. Für viele Geflüchtete sind sie die nächste Station nach der Gemeinschaftsunterkunft. “Durch diese Konzentration an einem Ort integrieren sich die Menschen eigentlich nicht. Sie werden untereinander nur ihre eigene Sprache sprechen und die deutsche nicht lernen”, sagt Saifullah. Man müsse die Menschen deutlich besser über die Stadt verteilen.
Sobald er kann, will Saifullah Gera verlassen. Gerne in Richtung Stuttgart, sagt er, um dort zu studieren und später vielleicht als Software-Entwickler bei Mercedes-Benz etwas mehr zu verdienen als in Thüringen. Eine Rückkehr nach Gera halte er für nicht sehr wahrscheinlich.
“Hier fehlt nur noch, dass sich die Natur die Häuser zurückholt.”
Auch Michael Müller hat eine Verbindung zu Afghanistan. Mit Anfang 20 habe er dort als Bundeswehrsoldat gedient, sagt der 37-Jährige. Vor seiner Schicht in einer Autoteilefabrik treffen wir Micha, wie er sich nennt, in einem Einkaufscenter. Er wirkt etwas müde, aber offen und freundlich.
Sein Dienst beim Bund habe ihm geholfen, seine harte Kindheit und Jugend zu verarbeiten, beginnt er zu erzählen.
Nach sechs Jahren in einem Heim sei er als Zwölfjähriger mit seinem Bruder nach Bieblach-Ost gezogen. Zur Mutter, die wie ihr Lebensgefährte Alkoholikerin gewesen sei. “Ich hab mir dann eine eigene Wohnung gesucht, weil es mit der Mutter nicht so geklappt hat”, sagt Micha. Der Start ins selbstständige Leben sei schwer gewesen. “Von daheeme war keine Hilfe zu erwarten. Der Bruder ist auch abgesackt, Drogen, alles.” Er selbst sei clean geblieben und nach einer Ausbildung als Elektriker zur Bundeswehr gegangen.
Nach einer kurzen Station bei den Gebirgsjägern sei er Teil eines Fallschirmjägerbataillons gewesen und schließlich zum Scharfschützen ausgebildet worden. Eingesetzt habe man ihn in Masar-e Scharif in Afghanistan. “Es war sinnlose Materialverschwendung, es wurden Leben geopfert”, sagt Micha. 2008, in der Gegend um Masar-e Scharif, sei ein gepanzertes Patrouillenfahrzeug in eine Sprengfalle geraten – zwei Schwerverletzte. Als Kundschafter in einem Scharfschützenteam habe er den Befehl zum Rückzug erhalten, ihn aber verweigert, um seine Kameraden zu unterstützen. Dafür habe man ihn unehrenhaft entlassen.
Belegen kann Micha das nicht, seinen Truppenausweis habe er bei seiner Entlassung abgeben müssen. Aber am 27. März 2008 fuhr in Afghanistan tatsächlich ein gepanzertes Fahrzeug der Bundeswehr in eine Sprengfalle. Ein Soldat wurde damals leicht verletzt, zwei weitere schwer.
Politik, die früher einen Teil seines Lebens bestimmte – heute interessiere sie ihn nicht mehr wirklich, sagt Micha. Das führe ohnehin nur zu Frustration und Verärgerung. Ja, man kümmere sich zu wenig um die Bürger. Soldaten, die im Ausland waren, sollten mehr gewürdigt werden. Aber eigentlich dürfe er nicht schimpfen, “weil ich nicht wählen gehe”. Warum? Er sehe Oppositionsparteien wie die AfD ausgebremst. Selbst wenn genug Stimmen zusammenkämen, fände die Opposition doch einen Weg, um eine Regierung mit der AfD zu verhindern, findet Micha. “Ich weiß nicht, ob die AfD besser ist für Deutschland, aber ihre Vorschläge momentan sind wirklich sinnvoll und nachvollziehbar” sagt er, ohne konkreter zu werden.
Bieblach-Ost, wo Micha auch heute wieder mit seiner Lebensgefährtin wohnt, habe sich seit seiner Jugend verändert. “Die Kindheitserinnerungen sind weg.” Sein altes Wohnhaus ist abgerissen, kaum ein Laden noch da. Das Feld vor dem Bieblach-Center, auf dem er in seiner Jugend viel Zeit verbracht hat, soll einer Fabrik weichen. “Das Viertel verwittert einfach. Leerstehende Gebäude werden entweder abgerissen oder sich selbst überlassen. Hier fehlt nur noch, dass sich die Natur die Häuser zurückholt.”
Auch in den Häusern sei wenig saniert worden, Strom- und Heizkosten deswegen hoch: “Von niedrigen Mieten kannst du hier nicht reden.” Angst vor einem kalten Winter und den Krisen der Welt habe er aber nicht. “Angst ist dein größter Feind. Wenn du Angst hast, machst du Fehler.”
Viele Menschen in Bieblach-Ost haben etwas zu sagen, aber nicht alle wollen sich öffentlich äußern. Hier leben Schüler, Studierende, Azubis, Familien, Singles und viele Rentner. Viele sind frustriert, manche haben sich mit ihrer Situation abgefunden, andere sehen ihre Zukunft woanders. Man trifft Menschen, die sich betrinken, weil sie gerade nicht arbeiten müssen, und Menschen, die sich betrinken, weil sie gerade keine Arbeit haben. Menschen, die seit dem Anfang hier wohnen, und Menschen, die hier nur kurz verweilen. So unterschiedlich all diese Menschen sind, bei einem sind sie sich einig: In Bieblach-Ost muss sich etwas ändern.
Update, 20. Februar, 17:14 Uhr: In einer früheren Version dieses Textes stand, die AfD halte die Mehrheit im Geraer Stadtrat. Das ist falsch. Tatsächlich bildet die AfD nur die größte Fraktion. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen und haben die Stelle im Text entsprechend angepasst.
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