FYI.

This story is over 5 years old.

News

Letzter Ausweg: Die Flüchtlingskrise auf Kos, Europas neuer Grenze

Während sich Touristen auf der griechischen Insel einen schönen Urlaub machen, haben Flüchtlingen dort mit unmenschlichen Bedingungen zu kämpfen.
Foto: Alexia Tsagkari

An einem Junimorgen kommt um fünf Uhr in der Früh plötzlich Bewegung in eine Gruppe Journalisten, die sich vor dem Aqua Blu Boutique Hotel am Strand von Lambi versammelt haben—ein kleines Dorf in der Nähe der Hauptstadt der beliebten griechischen Urlaubsinsel Kos.

Ein winziges, überfülltes Flüchtlingsboot ist am Horizont auszumachen. Nur ein paar Meter neben den Strohsonnenschirmen eines Privatstrandes liegen eingefallene Schlauchboote, Schwimmwesten und Schuhe im Sand verteilt und werden ab und zu vom Wind und den Wellen umspült.

Anzeige

Alle Fotos: Alexia Tsagkari

Nachdem sie weiter die Küste entlang getrieben sind, versuche die acht Männer, ihr Schlauchboot in Richtung Festland zu steuern, indem sie wie wild lospaddeln. Einer von ihnen springt plötzlich ins Wasser, um das Boot zu ziehen, und schließlich waten sie alle bis zum Strand—ihr Hab und Gut haben sie dabei in Plastiktüten über ihre Schultern geschwungen. Durch die Kameras sichtlich verwirrt lächeln sie nervös, schütteln den Journalisten die Hände und beantworten deren Fragen. „Wir kommen aus Pakistan und sind über die Türkei hierher nach Griechenland gekommen."

Sie berichten davon, wie sie 10 Stunden auf See verbracht haben. Dabei ist die Türkei in der Ferne zu erkennen und mit der Fähre braucht man eigentlich nur 35 Minuten. Die Männer haben sich jedoch im Schutz der Dunkelheit aufgemacht und konnten sich dabei nur mithilfe ihrer Paddel durch Wellen manövrieren. Schließlich wollen sie wissen, wie sie zu dem Hotel kommen, wo angeblich Flüchtlinge willkommen sind.

Damit meinen sie das heruntergekommene Captain Elias Hotel, das übergangsweise als „Notfalllager" hergenommen wird, da es auf Kos keine offiziellen Flüchtlingseinrichtungen gibt. Ein griechischer Journalist zeigt ihnen den Weg und meint, dass es vom Strand aus zu Fuß 15 Minuten sind. Misstrauisch laufen die Männer jedoch in die andere Richtung davon.

Kos ist eine der griechischen Inseln an der neuen Grenze von Europa. Frontex, die externe Grenzagentur der EU hat allein im Jahr 2015 auf der östlichen Mittelmeer-Route (von der Türkei aus nach Griechenland, Bulgarien und Zypern) mehr als 50.000 ordnungswidrige Grenzübergänge registriert.

Anzeige

Frontex-Pressesprecherin Ewa Moncure meinte gegenüber VICE News, dass 90 Prozent dieser Übergänge auf den griechischen Inseln aufgezeichnet werden und dass der Großteil der Flüchtlinge dabei aus Syrien kommt, aber auch Iraker, Pakistaner und Afghaner ihr Land verlassen. Moncure betonte, dass dieses Jahr bereits nach sechs Monaten mehr Flüchtlinge über diese Route nach Europa gekommen sind als im gesamten letzten Jahr (da waren es 44.000). Auf Kos sind zum Beispiel mehr als 8.000 Menschen angekommen, 3.800 davon alleine im Mai.

Laut Moncure könnte der Hauptgrund für diesen noch nie dagewesenen Zustrom auf die griechischen Inseln Operation Aspida (Schild) sein—die Aufrüstungsmaßnahmen, die 2012 an der Landesgrenze zwischen der Türkei und Griechenland (einst der Hauptweg nach Europa) durchgeführt wurden. Dabei hat man einen knapp 12 Kilometer langen Grenzzaun errichtet und 1.800 zusätzliche Grenzbeamte stationiert.


Die Zustände auf Kos in bewegten Bildern:


Das benachbarte Bulgarien—das nach der Grenzschließung natürlich auch einen stetig wachsenden Migranten- und Flüchtlingsansturm verzeichnete—kopierte schließlich die griechische Vorgehensweise und ließ auf einem knapp 34 Kilometer langen Teilabschnitt der Grenze zur Türkei einen Stacheldrahtzaun errichten.

Auf Kos sind die Massen an Touristen aus Ländern wie England, Deutschland, den Niederlanden und Schweden immer gern gesehen. Die Menschen, die ordnungswidrig auf der Insel ankommen und vor einem Krieg oder vor Armut flüchten, werden allerdings nicht so freundlich empfangen—genauso wenig wie die internationale Presse, die über die Flüchtlingskrise berichtet. Die örtlichen Unternehmer und Behörden befürchten, dass die Berichterstattung dem Ruf der Insel schaden könnte und so der Tourismus—ein wichtiger Bestandteil der Wirtschaft von Kos—einbricht.

Anzeige

Die dortigen Umstände bestimmen die europäischen Schlagzeilen und derzeit wird viel Wirbel um einen kontroversen Mail Online-Artikel gemacht, in dem sich Urlauber über Flüchtlinge beschweren, die vor den Restaurants sitzen und ihnen beim Essen zuschauen. Dieser Artikel wurde inzwischen schon über 67.000 Mal geteilt. Die Berichterstattung hat scheinbar schon dazu geführt, dass die Kos-Suchanfragen auf der Urlaubs-Website Trivago um 52 Prozent zurückgegangen sind.

Jeden Tag kommen zwischen 100 und 300 Flüchtlinge auf Kos an und versammeln sich früh am Morgen vor dem Captain Elias Hotel. Viele machen jedoch wieder kehrt, wenn sie die darin herrschenden Zustände sehen: kein fließendes Wasser, kein Strom und keine funktionierenden sanitären Anlagen. Eine Gruppe Syrier zwischen 20 und 30 war schockiert von den dreckigen Matratzen sowie dem akuten Platzmangel und meinte gegenüber VICE News: „Da schlafen wir lieber draußen oder suchen uns ein Hotel, wo wir zu viert in einem Zimmer bleiben dürfen."

Omar, ein 21 Jahre alter Syrier, der in dem heruntergekommenen Gebäude wohnt, erzählte uns, dass viele Flüchtlinge das Captain Elias verlassen würden, um sich irgendwo ein günstiges Hotel zu sehen—denn sie gehen davon aus, dass sie nur wenige Tage auf Kos bleiben müssen, um sich bei der Polizei zu registrieren und gültige Papiere zu besorgen. Omar erging es genauso und er gab sein ganzes Geld für Essen und ein Zimmer aus.

Anzeige

Er fügt noch hinzu: „Jetzt sind allerdings schon 21 Tage vergangen. Ich habe immer noch keine Dokumente und ich war gezwungen, wieder hierher zu kommen, weil ich mir kein richtiges Hotel mehr leisten konnte."

Sein Freund Alim, mit dem sich Omar ein Zimmer teilt (in dem auch noch 10 andere Syrier wohnen), erzählte VICE News, wie er erst vor Kurzem aus einem von Präsident Baschar al-Assads geheimen Gefängnissen in Damaskus freikam. Er wurde mit 19 aufgrund des Verdachts auf Oppositions-Unterstützung verhaftet, nackt mit 200 anderen Männern eingesperrt und täglich gefoltert.

„Einmal haben sie mich beim Beten erwischt und ein Aufseher prügelte mich daraufhin nieder. Ich sollte ihm nachsprechen, dass es keinen größeren Gott als Assad gebe. Als ich mich weigerte, wurde ich zwei Tage lang an den Füßen aufgehängt und danach für 48 Tage in Einzelhaft gesteckt. Ich bin fast verrückt geworden", erinnerte er sich. Ein Libanese, der selbst 30 Jahre lang eingesperrt war, hat ihm Englisch beigebracht.

Munchies: Wie man für 20.000 syrische Flüchtlinge Abendessen kocht

Alim hatte jedoch Glück: Nach zwei Jahren kam er frei—unter dem Vorwand, bald vor Gericht zu kommen und vielleicht zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt zu werden. Er schaffte es, sich von Damaskus aus nach Aleppo durchzuschlagen, von wo aus er die türkische Grenze erreichte.

Keiner der Migranten und Flüchtlinge, mit denen VICE News sprach, will auf Kos bleiben. Trotzdem können sie die Insel ohne die Dokumente, die ihnen einen vorübergehenden Aufenthalt in Griechenland ermöglichen, nicht verlassen. Mit diesen Papieren könnten sie ihre Reise endlich fortsetzen—erst nach Athen und dann weiter in andere europäische Länder. Die lange Wartezeit liegt anscheinend daran, dass auf Kos viel zu wenig Polizisten stationiert sind.

Anzeige

„Die finanzielle Lage Griechenlands macht das Ganze nicht gerade besser", meinte Buziotas Sotiris, der Pressechef der griechischen Regierungspartei Syriza, gegenüber VICE News. „Die Behörden, die sich mit den Flüchtlingen auseinandersetzen—also die Polizei und die Küstenwache—, sind unterbesetzt. Das verschärft das Problem nur noch weiter. Griechenland ist es bei der derzeitigen wirtschaftlichen Lage nicht möglich, einen Flüchtlingsstrom dieses Ausmaßes aufzufangen."

Sotoris macht Georgios Kyritsis, den Bürgermeister von Kos, für die unzureichenden Flüchtlingseinrichtungen der Insel verantwortlich. Laut ihm ist der Gemeinderat für Wasser und Strom zuständig. Als wir Kyritsis zu der ganzen Situation befragten, bekamen wir folgende abwehrende Antwort: „Sie können sich gerne selbst davon überzeugen, ob es in dem Lager wirklich keinen Strom gibt." Als wir ihm davon erzählten, dass wir uns davon schon ein Bild gemacht haben, ruderte er zurück und fuhr fort: „Wasser und Strom gibt es eben nicht umsonst. Das ist nicht meine Aufgabe, sondern die der Regierung."

Motherboard: Ein Berliner Student gründet eine Online-Uni für Flüchtlinge ohne Papiere

Abgesehen von einem Küstenwachen-Offizier, der vor dem Captain Elias Hotel dafür sorgt, dass kein Journalist mit Kamera das Gebäude betritt, sind die Behörden von Kos nirgendwo zu sehen. Es gibt keine Essensausgabe und auch sonst wird nicht versucht, die EU-Standards im Bezug auf Flüchtlingsaufnahme irgendwie einzuhalten. Die Verzweiflung der Camp-Bewohner wird schließlich deutlich, als von Anwohnern ins Leben gerufene Hilfsinitiativen ankommen, um gestiftete Kleidung und gespendetes Essen zu verteilen.

Als eine ganze Wagenladung an Brot und Käse nicht ausreicht, um jedem Flüchtling etwas zu essen zu geben, macht sich in der Warteschlange Frustration breit und die Leute prügeln sich um Säcke voller alter Schuhe und Bettbezüge. Ein afghanischer Vater von zwei Kindern kommt auf uns zu, zeigt in Richtung Hotel Elias und meint: „Das ist unser Camp. Dort gibt es keine Toiletten, kein Licht, keinen Strom, nichts. Einfach gar nichts. Ich habe keine Ahnung, wie wir dort überhaupt leben sollen."

Trotz der ganzen Menschen, die unfreiwillig auf Kos festsitzen und auf ihre Papiere hoffen, scheint die Insel alles andere als von Flüchtlingen überschwemmt zu sein. Einige Touristen beobachten am Hafen die vielen Syrier und Afghaner, die vor der Polizeiwache geduldig auf Neuigkeiten bezüglich ihrer Dokumente warten. Ein niederländisches Pärchen meint gegenüber VICE News, dass sie hergekommen sind, um die Flüchtlinge aus den Medien mit eigenen Augen zu sehen: „Sie tun uns wirklich leid, aber wir wissen auch nicht, wie wir ihnen helfen können."

Andere Urlauber, die nicht so viel Interesse an den Menschen haben, die vor Assads Regime oder dem Islamischen Staat flüchten mussten, sind lieber in den Hotels geblieben, wo sie Komfort und Annehmlichkeiten genießen können. Den Touristen scheint es auf Kos richtig gut zu gehen, während die Flüchtlinge wochenlang mit unmenschlichen Bedingungen klarkommen müssen.