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„Sie können nur bleiben, wenn sie lügen“ oder: Wer ist Amadou Diallo?

Eine Reportage darüber, wie der deutsche Staat Drogenhändler produziert.
Illustration: Sarah Schmitt​

In Deutschland heißen erstaunlich viele junge Afrikaner Amadou Diallo. Sie haben ihren Pass „verloren", kommen aus Guinea und oft verbieten die Behörden ihnen zu arbeiten. Viele halten sich über Wasser, indem sie Drogen verkaufen.

Sie stehen an der Ecke, dort, wo die Fußgängerzone endet. Ein Dutzend junger afrikanischer Männer in weiten Jeans und Marken-Turnschuhen, die Kappen tief ins Gesicht gezogen. Sie stehen dort, um Drogen zu verkaufen. Jeder weiß das. In vielen deutschen Großstädten treiben sie sich wie in Wien seit einigen Jahren herum: in Hamburg im Schanzenpark, in Berlin im Görlitzer Park, in Frankfurt in den Wallanlagen, oder hier, in der armen Dortmunder Nordstadt.

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Wer sind sie? Warum stehen sie dort? Warum lässt der Staat zu, dass sie dort vor aller Augen Drogen verkaufen? Ist er machtlos? Oder mitverantwortlich?

Zwei der Afrikaner radeln abwechselnd auf rostigen Uralt-Rädern umher, in Zeitlupe, die Reifen fast platt. Vorbei an arabischen Cafés und Läden, in denen grell leuchtende Mekka-Bilder verkauft werden. Sehen sie jemanden, der wie ein Kiffer aussieht, dann schnalzen, knacken oder zischen sie und raunen: „Alles klar, brauchs'u was? Bruda, kein Problem."

Wenn jemand was braucht, läuft einer der Afrikaner los und fischt vielleicht ein Tütchen aus dem Gebüsch. Oder er holt es hinter einem Autoreifen hervor. Oder es liegt in einer aufgeschnittenen, eingedrückten Cola-Dose auf dem Gehweg. Oder er trifft scheinbar zufällig einen anderen Afrikaner, der aus einer der Wohnungen in der Nähe stürmt, nachdem sein Handy kurz vibriert hat. In der Hand hat er ein Bällchen in Plastikfolie. Das gibt er seinem Kollegen auf der Straße im Vorbeigehen, ihre Handflächen wischen grüßend übereinander, während jeder geradeaus starrend weiter läuft.

Motherboard: Das Reisebüro der Facebook-Schleuser

Dann bekommen es die Weißen. Marihuana für 10 Euro pro knappem Gramm, Kokain, oder das, was sie als Kokain verkaufen, ist auch nie ein volles Gramm und kostet ab 70 Euro.

Den ganzen Tag stehen die Afrikaner dort, bis tief in die Nacht. Nur scheinbar gelangweilt. Tatsächlich beobachten sie wie Greifvögel, wer sich ihnen nähert. Kennt man die Jungs, dann reicht es, inmitten der Fußgängerzone, noch weit entfernt, die Hand zum Gruß zu heben. Garantiert sehen sie das und grüßen zurück.

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Über 30.000 Westafrikaner leben allein in Nordrhein-Westfalen, über 300.000 in Deutschland. Viele haben keine Chance auf Asyl, werden geduldet, oft führen nur Schwangerschaften oder eine Heirat in den legalen Aufenthalt. Lange durften Geduldete und Asylsuchende aus Westafrika, wie aus anderen Ländern auch, nicht arbeiten; nach der Asylreform von 2015 nur eingeschränkt. Zudem suchen gerade Hunderttausende anerkannte Geflüchtete aus Syrien oder Afghanistan Arbeit, was also soll aus den vielen afrikanischen Flüchtlingen werden, deren Strom nicht abreißt?

Um zwei dieser geflüchteten Westafrikaner geht es in dieser Geschichte, stellvertretend für all die anderen. Der erste nennt sich Amadou Diallo. Er trägt Kinnbart, seine Sneaker in Samtoptik haben goldene Streifen. Wenn Amadou eine Frage stellt, dann bohrt er, um sie zu unterstreichen, seinem Gegenüber manchmal mit dem Finger in die Brust.

Oury im Zug | Foto vom Autor

Der andere nennt sich Oury B. Er trägt eine Bomberjacke in Tarnfleck, kurze Rasta-Noppen stehen ihm vom Kopf. Oury ist einer, der lieber Krankenpfleger wäre, als hier an der Ecke zu dealen, aber die Ausländerbehörde lässt ihn nicht. An manchen Tagen ist Oury wie aufgedreht, dann wieder sagt er kaum ein Wort. Das jahrelange Hickhack mit den Behörden hat ihn zermürbt. Er macht gerade eine Psychotherapie, sagt er.

So stehen sie dort, mit dem Rücken zur Wand, eine Sohle dagegen gedrückt, Tag für Tag, Monat für Monat.

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Es begann mit einer Visitenkarte, die an der Tür eines Handy-Ladens steckte, erzählt Amadou Diallo. In Conakry, der Hauptstadt Guineas, einem dieser korrupten und armen Staaten Westafrikas. Darauf der Name eines Mannes, eine Telefonnummer und die Frage: „Wollen Sie nach Europa?" Amadou wollte. Also wählte er die Nummer, gab dem „Connection Man" 7.000 Euro und ein Passfoto, Geld, für das seine Mutter und seine Schwestern lange gespart hatten.

Ein paar Wochen später, im Sommer 2013, flog er zusammen mit dem Schlepper nach Paris. Hinter den Passkontrollen nahm er ihm den falschen Pass mit dem Visum wieder ab und reiste zurück. Amadou setzte sich in den Zug und fuhr nach Deutschland. Er wusste, dass man sich in Deutschland am einfachsten durchschlagen könne—in Frankreich einen Asylantrag zu stellen, gilt unter Afrikanern als riskant, weil man dagegen nicht in Berufung gehen kann. In Deutschland hingegen kann man einem Asylbescheid widersprechen und durch ein verlängertes Verfahren wertvolle Zeit gewinnen.

Die Fahrt in der S-Bahn hinter der deutschen Grenze beendete die Polizei mit Handschellen, erzählt Amadou. Er stellte im Kreis Steinfurt im Norden Nordrhein-Westfalens seinen Asylantrag: Als Amadou Diallo, geflohen aus Guinea, weil er und seine Familie verfolgt würden. Tatsächlich hat er einen ganz anderen Vornamen und war Handyverkäufer in Conakry. „Amadou Diallo" ist ein Allerweltsname, das westafrikanische Pendant zu Thomas Müller. Viele Asylbewerber aus Afrika nennen sich so, um ihre Spuren zu verwischen. Ihre echten Pässe lassen sie oft in Guinea oder den anderen westafrikanischen Staaten zurück. Wessen Identität nicht „geklärt" ist, weil keine Dokumente vorliegen, der kann nicht abgeschoben werden.

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Amadou kocht. Eben hat er jedes Messer einzeln poliert, jetzt blubbert auf dem Herd Niri, Reis und Kalb in Tomatensauce. Die Wohnung in einem dieser heruntergekommenen Nachkriegsbauten in der Nordstadt hat ein Afrikaner ihm untervermietet. Es gibt kaum Möbel, von den Decken baumeln nackte Glühbirnen, in der Küche stehen zwei alte Sofas mit Brandflecken wie Pickel, davor ein wackliger Plastiktisch. „Die Ausländerbehörde macht immer Ärger", schimpft Amadou und rührt im Topf. Er hätte gern gearbeitet, durfte aber nicht.

Zwei Jahre lang mahlte die deutsche Bürokratie, um seine Identität zu klären, und er sollte als Geduldeter in seinem Wohnheim herumsitzen, mit einem Arbeitsverbot belegt. Tatsächlich stand er nach wenigen Wochen in der Dortmunder Nordstadt und vertickte Drogen, zusammen mit anderen Guineern vom muslimischen Stamm der Fulbe. Bis ihm im August 2015 die Ausländerbehörde vom Kreis Steinfurt schrieb, seine Duldung wird nicht verlängert und er muss binnen 30 Tagen Deutschland verlassen. Amadou tauchte daraufhin in Dortmund unter.

Amadou Diallo im Handyladen | Foto: privat

Nun klingeln zwei befreundete Afrikaner, sie treten ein und setzen sich. Wenig später serviert Amadou das Reisgericht auf einem Teller, von dem sie es gemeinsam löffeln, während sein iPad afrikanischen Rap in kleine Plastikboxen pumpt. Dazwischen zeigt er Fotos auf seinem iPhone, seine Mutter in weißer Tracht, seine Schwester in Schuluniform. Ein Video von Polizisten, die eine aufgebrachte Menge wegtreiben. Ein Offizier, der dürre Männer in gefälschten Fußballtrikots anschreit.

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Nachts lehnt Amadou wieder an der Ecke in der Nordstadt, sein Gesicht unter einer Kapuze verborgen. Wenn Tschoko kommt—so nennen die Guineer die Polizei—renne er los, sagt er, und schießt mit der Hand durch die Luft. Und wenn er doch kontrolliert wird? Er fingert einen zusammengefalteten Zettel aus der Tasche, eine Quittung aus einem Schuhladen. Auf der Rückseite stehen sein Name und die Adresse seiner Unterkunft. Einmal sei er schon damit durchgekommen. „Das zeige ich", die Polizei habe sowieso keine Zeit.

Bouba* hat es geschafft. Vor sechs Jahren kam er aus Westafrika nach Dortmund und durfte bleiben, weil er, noch während sein Asylantrag lief, eine junge deutsche Studentin heiratete. Bouba ist smart, er hat einen offenen, wachen Blick und trägt ein gebügeltes Hemd, keine dicken Ketten aus Falschgold. Inzwischen wohnt er in einer Nachbarstadt und studiert dort auf einen Ingenieursabschluss hin. Aber manchmal zieht es ihn zurück in Dortmunds Norden, dahin, wo auch für ihn alles anfing. Dann steht er mit den Drogenhändlern an der Ecke und kauft sich ein paar Gramm Gras, für abends, wenn er nicht lernen muss.

Er kennt die Dealer. Aber er hat kaum Verständnis für sie. „Sie machen auf Mitleid und lügen", sagt er. Sicher, einige strengten sich an, versuchten, sich zu integrieren, zerbrächen dann aber an der Perspektivlosigkeit. Doch die meisten fänden sich viel zu schnell ab mit ihrer Lage. Resignierten viel zu früh. Und wollten dann nur noch mitnehmen, was geht. „Die tun alles für Geld."

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Bouba erzählt, wie das Drogenbusiness funktioniert: Die Gangs im Keuning-Park würden von Arabern geführt, im Osten der Nordstadt seien die Türken im Geschäft, während die Gang um Amadou von einem Guineer kontrolliert werde, Mitte 40, Mercedes-C-Klasse-Fahrer.

Er kenne Jungs, sagt Bouba, die 500 Euro pro Woche verdienten. Aber das seien die wenigsten. Die meisten kämen gerade so klar. Von dem Gewinn kauften sie sich teure Jeans, Jacken oder Sneaker, oder gingen ihr Geld in Wettbüros verspielen, nachdem sie mit den Papieren eines anderen ein paar Hunderter in die Heimat überwiesen.

Bouba kennt Amadou. Einmal habe er ihn sogar zur Ausländerbehörde begleitet, um dort für ihn zu übersetzen. Aber auch was ihn angeht, hält sich sein Mitleid in Grenzen. Er weiß, dass die Behörden Amadous Identität bei der guineischen Botschaft haben klären lassen, in einem aufwändigen und teuren Prozess in Kooperation mit den Behörden in Guinea. Jetzt wollen sie ihn abschieben, „weil sie die Schnauze voll haben. Der war nie in seiner Unterkunft und baut nur Scheiße." Nein, aus dem werde hier nichts.

Vor allem verkaufen die Afrikaner Marihuana, das Fünf-Gramm-Tütchen zu 50 Euro. Es gibt viele Tricks, das Gras schwerer oder schlechtes Gras besser zu machen. Es wird mit Zuckerwasser eingesprüht oder mit „Brix" gestreckt, einem Gemisch aus Zucker, Hormonen und flüssigem Kunststoff, wodurch es frisch und feucht aussieht, aber zu hässlicher grauer Asche verbrennt und extrem gesundheitsschädlich ist. Mehr Profit, aber nur kurzfristig.

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Denn wer zuverlässig ist, kann sich vielleicht einen lukrativen Kreis von Stammkunden aufbauen und muss dann nicht mehr hier an der Ecke stehen, ständig auf der Hut, sondern kann mehr Zeug aus einer sicheren Wohnung heraus verkaufen.

Amadou ist davon weit entfernt. Wenn seine Drogenvorräte erschöpft sind, holen er und die anderen sich manchmal Nachschub bei den Arabern, die ein paar Meter weiter vor den Cafés stehen und rauchen. Er hasst die Araber, aber sie geben in der Nordstadt den Ton an—einem Viertel, das die FAZ mal das „erste deutsche Ghetto" nannte, und dessen Drogenszene kürzlich Stoff für einen Tatort war. Jeder Vierte der rund 50.000 Einwohner hat keinen Job, vier von fünf haben ausländische Wurzeln, jeder zweite keinen deutschen Pass.

Es kann vorkommen, dass man in der Nordstadt morgens die Spurensicherung anrücken sieht, die in einem Foltermord ermittelt, und am gleichen Abend Zeuge wird, wie sich Roma und Araber vor dem Lidl in der Münsterstraße prügeln, während ein Obdachloser mit zwei vollen Taschen aus dem Supermarkt rennt, verfolgt von der schreienden Kassiererin.

„Die Araber sind arrogante Rassisten", findet Amadou. Verdienten die nicht genug Geld mit Drogen, dann würden sie Autos knacken oder in Häuser einbrechen, sagt er. Oder sie machten es so: Er fischt einen fiktiven Gegenstand aus seiner Hosentasche, so, als ob ihm etwas geklaut würde.

Die Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit. Die Araber aus dem Maghreb schauen auf die Dunkelhäutigen herab, ein Rassismus, der Afrika durchzieht und sich in der Nordstadt spiegelt. „Die Nigger sehen keine Frauen auf der Straße, sondern nur Aufenthaltspapiere", schimpft der Anführer der algerischen Dealer im Keuning-Park, ein Hüne im Jogginganzug. „Muss nur eine dick werden, paff, können die bleiben."

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Und mittendrin die jungen Linken vom Kulturverein Nordpol, die in Amadou und den anderen ausgebeutete Flüchtlinge sehen—Studenten und Sozialarbeiter Anfang 20, mit schwarzen Schals und schwarzen Hosen, deren Taschen Platz für Drehtabak und Spuckaufkleber lassen. Sie betreiben im Nordpol ein „Refugee Welcome Café", veranstalten manchmal Sprachkurse und diskutieren über das „systemische Problem Polizei". Manche halten sie für radikal—die Afrikaner sind ihnen dankbar. Für sie sind es die einzigen Menschen, die ihnen helfen.

Als Emmanuel Peterson zusammen mit seiner Mutter und seinen beiden Schwestern aus Ghana nach Deutschland kam, war er zehn. Seine Mutter wurde als Asylbewerberin anerkannt, er träumte davon, Profifußballer zu werden, schaffte es tatsächlich bis in die Dritte Liga, aber dort war dann Schluss. Später hat er den Verein Junger Deutschafrikaner gegründet, der bei Behördengängen hilft, Konflikte löst, beitragen will zur Integration. Peterson, 29, ist ein Athlet mit breiten Schultern und einem ansteckenden Lachen. Viele Dönerverkäufer in der Nordstadt freuen sich, wenn sie ihn sehen, und grüßen ihn mit Handschlag.

Auch Peterson hat einen nüchternen Blick auf die jungen Afrikaner. „Sie wissen, dass sie in Deutschland nur bleiben können, wenn sie lügen", sagt er, während er durchs Viertel schlendert. „Deswegen schmeißen sie ihren Pass weg, machen sich jünger oder ändern ihren Namen."

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Der Aufenthaltsstatus vieler Westafrikaner: „geduldet". Das heißt übersetzt: unerwünscht. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt, aber sie werden nicht abgeschoben, weil noch Pässe fehlen oder ihre Identität nicht geklärt ist. Eine Duldung ist das Niemandsland der Einwanderung. Jahrelang durften Geduldete nicht arbeiten, heute theoretisch schon, aber in der Praxis passiert das fast nie. Unter anderem, weil die Ausländerbehörde grünes Licht geben muss. Warum sollte sie das? Sie will ja abschieben und wartet nur darauf, dass die Identität geklärt wird und Pässe vorliegen.

Emmanuel Peterson sagt: „Es ist der Mangel an Alternativen, der die Jungs auf die Straße treibt." Sie kommen nach Europa, um zu arbeiten, wollen ranklotzen, etwas aufbauen. Aber dann dürfen sie nicht, sondern werden vom Staat durchgefüttert in unpersönlichen Unterkünften, in denen es nichts zu tun gibt. „Das kann für junge Menschen nicht gut sein. Und dann sehen sie ihre Brüder in den Parks stehen und Drogen verkaufen. Also stehen sie wenig später auch dort."

Der deutsche Staat sei selbst Schuld, dass er sich an der Nase herumführen lasse, sagt Peterson. Es gebe nur zwei Möglichkeiten: Entweder man gebe den jungen Afrikanern eine Chance. Oder man gebe ihnen ein Rückflugticket. Aber dieses Dazwischen? Peterson schüttelt den Kopf.

Vor dem, wofür Frank Binder steht, haben die jungen Guineer Angst. Er ist Flüchtlingsreferent der Ausländerbehörde Dortmund und hat früher dafür gesorgt, dass etliche von ihnen abgeschoben wurden. Er reiste nach Guinea, um Pässe zu besorgen, und wurde daraufhin von der linken Presse kritisiert. Der Vorwurf: Er habe die Pässe „gekauft", um Flüchtlinge abschieben zu können.

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Binder sitzt in offener Jacke am Schreibtisch, in seinem gänzlich leeren Büro, schwarzes, volles Haar, zur Vokuhila geschnitten, aber so seriös und sachlich, dass er im Grundbuchamt sitzen könnte. Bis vor drei Jahren sollten alle vermeintlichen Flüchtlinge abgeschoben werden, sobald sie auf dem Papier volljährig sind, woraufhin etliche offenbar abtauchten. Dann änderte Dortmund die Strategie, und nun erklärt Binder, alle der rund 400 in Dortmund hätten eine „gute Bleibeperspektive". Nur ein Viertel werde geduldet, in den vergangenen drei Jahren habe man keine Guineer aus Dortmund abgeschoben.

„Jeder guineische Flüchtling, der sich an die Spielregeln hält und mit offenen Karten spielt, kann bleiben", sagt Binder. Heißt: Wenn er nicht straffällig wird und seinen echten Pass abgibt. Der Pass sei das Wichtigste. Nur dann könne er, Binder, helfen, ihnen eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

Wobei, den Pass abgeben? Das ist eine riskante Sache. Die „ungeklärte Identität" ist letztlich die einzige Trumpfkarte der Afrikaner. Geben sie ihren Pass ab, haben sie vielleicht Glück und dürfen tatsächlich bleiben—vielleicht aber sitzen sie auch schnell im nächsten Flieger Richtung Heimat.

Binder stellt klar: „Wenn man zu oft beim Dealen erwischt wird, dann hat man jedes Aufenthaltsrecht verwirkt." Und relativiert: Die, die da an den Ecken und in den Parks stehen und Drogen verkauften, kämen in der Mehrzahl aus dem Umland. Dort, wo sie fernab ihrer Community untätig im Heim herumsitzen. Binder gibt zu, das sei extrem schwer: „Man muss als junger Westafrikaner schon sehr stabil sein, um in Deutschland zurechtzukommen."

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Die Botschaft, den Pass abzugeben, kommt bei den Afrikanern nicht an. Käme sie an, sie würden ihren Pass wohl trotzdem nicht abgeben. Sie vertrauen niemandem Schon gar nicht der Ausländerbehörde. Und wer weiß, ob man Menschen wie Binder glauben kann.

Alle paar Wochen rücken Greiftrupps der Polizei aus, um Dealer zu fangen. Erst beobachten sie in Zivil das Treiben, dann schlagen sie aus mehreren Ecken gleichzeitig zu. In Dortmund wurden im vergangenen Jahr 104 Mal Guineer wegen eines Drogendeliktes in der Nordstadt verhaftet, sagt Kim-Ben Freigang, Sprecher der Dortmunder Polizei. Näheres gebe seine Statistik nicht her. Etwa: Aus welchen Unterkünften die Guineer kamen, ob sie angeklagt wurden, ob sie noch in Deutschland sind.

„Die Nordstadt ist ein vielseitiges und schönes, aber auch ein Multi-Problem-Viertel", sagt der Sprecher diplomatisch. Die Guineer seien ein Mosaiksteinchen unter vielen. Es gebe dort Straßenkriminalität, eine Alkoholiker- und eine Drogenszene, Menschen kämen extra aus anderen Städten her, um sich hier Drogen zu kaufen. 300 Mal wurden Algerier und Marokkaner wegen Raub und Diebstahl angezeigt, die Guineer fielen eben auf durch das Dealen. Wobei, schränkt er gleich ein, dies solle nichts sagen über alle Angehörige dieser Ethnien, die Polizei laufe nun mal „mit einem Brennglas" durch das Viertel.

Er widerspricht der Behauptung, die Polizei habe die Lage nicht im Griff. Die Kriminalität in der Nordstadt, das Dealen der Afrikaner an den Ecken sei Ausdruck eines „gesellschaftlichen Problems" und durch Polizeiarbeit allein nicht zu lösen.

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Oury sitzt auf seinem ungemachten Bett, den Kopf in die Hände gestützt, und sagt immer wieder: „Fuck." Die Wohnung, die ihm eine deutsche Bekannte überlassen hat, ist klein und ungelüftet, die heruntergelassenen Jalousien tauchen den einzigen Raum in Dämmerlicht. Oury hat einen Brief vom Jugendamt Gütersloh geöffnet und gelesen: Gegen ihn läuft ein Verfahren. In ein paar Tagen soll er vorbeikommen. Oury weiß nicht, worum es geht. Das vergessene Bahn-Ticket vor drei Tagen? Nein, der Brief ist älter. Wieder wegen Drogenhandel? „Fuck." Er wirkt verzweifelt.

Auch Oury kam mit falschem Pass über Frankreich nach Deutschland, auch er behauptete, minderjährig zu sein, man kann ihn aber auch auf knapp 30 schätzen. Er rauft gern zum Spaß, überhaupt ist er ein netter Kerl, manchmal stottert er, wenn er nach Worten sucht, aber er spricht als einer der wenigen Westafrikaner deutsch und kennt Leute aus Dortmund. Sein Asylverfahren läuft noch, zur Sicherheit hat er seinen Pass weggeworfen, damit er nicht abgeschoben werden kann, sollte es abgelehnt werden.

Seit zwei Jahren dealt er in der Nordstadt, drei Mal hat ihn die Polizei in dieser Zeit mit Gras erwischt. Einmal bekam er 90 Sozialstunden in einem Jugendheim aufgebrummt. „Das war toll", strahlt Oury, wenn er davon erzählt, „ich wollte da mit den Leuten gerne bleiben." Er bekam einen Ausbildungsvertrag angeboten und stellte bei der Ausländerbehörde im Kreis Gütersloh einen Antrag, die Stelle antreten zu dürfen. Oury sagt, die Beamten hätten das abgelehnt.

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Oury ist einer, der jungen Müttern anbietet, ihnen den Kinderwagen aus dem Bus zu setzen, aber sie lassen ihn nicht. Kürzlich, als er die Depressionen nicht mehr aushielt, hat er eine Therapie begonnen. Mit der Therapeutin kann er über seine Ängste und über die alltägliche Leere sprechen. Gern würde er Krankenpfleger werden, aber er weiß, dass ihn die Behörde nicht lässt.

Zurück nach Afrika? Geht auch nicht. Jeder daheim wüsste, welcher Sohn von welcher Familie in Deutschland ist. Die Menschen in den Dörfern erwarteten Großzügigkeiten, die Familien Geld. Dass es ihnen schlecht geht, glaube in Guinea keiner, sagt Oury. Und dann schweigt er wieder. Er schweigt viel, wenn er nicht draußen auf der Straße steht.

„Keine Arbeit. Keine Zukunft. Nicht zurück", sagt Oury auf seinem ungemachten Bett kauernd. Und eine Freundin habe er auch nicht. „Warum soll ich Freundin haben mit meinem Scheißleben?"

Aladin El-Mafaalani, Professor für Soziologie an der FH Münster

Aladin El-Mafaalani ist Professor an der FH Münster und forscht zu minderjährigen Flüchtlingen. „Die Afrikaner haben gelernt, dass die deutsche Bürokratie langsamer ist als sie", sagt er. „Sie unterwandern das System und tauschen ihren Pass und ihre Identität gegen einen Aufenthalt ein. Gleichzeitig verbauen sie sich dadurch alle Chancen auf ein legales Leben." Auch er kennt das Phänomen um den Namen Amadou Diallo.

All dies geschieht im Zeichen des Aufschwungs auch in afrikanischen Ländern, in denen es immer mehr Familien möglich ist, den ältesten Sohn loszuschicken. Das veraltete deutsche Asyl- und Aufenthaltsrecht hat es verpasst, diesen Menschen eine Chance zu bieten. Es lässt nur zwei Gruppen herein: Hochqualifizierte und Verfolgte. Inder mit einem Abschluss in Informatik, oder Syrer, die vor Fassbomben fliehen. Doch dazwischen gibt es unzählige Andere, die auch kommen wollen. Die nach einem Schlupfloch suchen—und es in der Duldung finden. Der neuen Migration und dem Erfindungsreichtum der Wandernden ist dieses System nicht gewachsen.

Das deutsche System, Flüchtlinge hereinzulassen, ihnen aber zu verwehren zu arbeiten und sie zu alimentieren, führt zu Auswüchsen. Prof. El-Mafaalani erzählt von den Libanesen, die in den 1980er Jahren in die USA geflohen sind, dort für sich sorgen mussten—und heute bestens integriert sind. Während ihre nach Deutschland geflüchteten Landsleute jahrelang geduldet wurden, ohne Recht auf Arbeit, nicht einmal ihre Kinder durften zur Schule gehen. „Ich wundere mich", sagt El-Mafaalani, „dass die Kriminalität unter Libanesen in Deutschland nicht noch höher ist."

Und so sind die afrikanischen Dealer, die in der Nordstadt an der Ecke stehen, ebenso ein Produkt der deutscher Bürokratie. Die sich nicht zur Klarheit zwingt. Zu einem klaren Ja oder einem klaren Nein.

Als es Freitagabend wird, sitzt Amadou Diallo zufrieden in seiner kargen Wohnung. Die Woche lief gut, er hat OK verdient, und nun hat er vier Freunde eingeladen, um mit ihnen den Abend zu verbringen. Sie sitzen im Licht der nackten Glühbirne auf den Sofas mit den Brandflecken und diskutieren über Politik.

Guinea grenzt an Sierra Leone und Liberia, laut Statistiken ist es das korrupteste Land Afrikas und wird immer wieder heimgesucht von politischen Unruhen, Konflikten zwischen den verschiedenen Ethnien im Land, den Malenki, den Fulbe, den Susu, Streit zwischen Muslimen und Christen, gewaltsam niedergeschlagene Demonstrationen.

Konflikte wie überall in Westafrika. Deswegen wollen viele weg. Im vergangenen Jahr lebten gut 360.000 Menschen aus Afrika in Deutschland, allein in NRW waren knapp 30.000 Westafrikaner registriert. Fast alle kommen ohne eine Chance auf Asyl.

Im Oktober hat Präsident Alpha Condé die Wahl in Guinea gewonnen, ein Malenki, und nun gibt es wieder Unruhen. Die Jungs sind aufgebracht. Amadou serviert Vimto, eine afrikanische Brause, Ingwer-Bier und frischen Minztee. Dann zeigen die vier Videos auf ihren Handys von prügelnden Soldaten oder jungen Malenki, die sie beschimpfen, erzählen von ihren Aufenthalten in der Schweiz, erzählen von Frauen, die sie kennen, die in Belgien auf den Strich gingen. Dann ist es Zeit für das Abendgebet, die Fulbe sind alle Moslems.

Die vier Männer, alle offiziell minderjährig, tatsächlich wohl alle um die 30 Jahre alt, gehen nacheinander ins Bad und waschen sich Hände, Arme und Füße. Amadou zieht ein afrikanisches Gewand über sein Guinea-Fußballtrikot, dann knien sich alle vier auf den Wohnzimmerteppich und beten, während im Hintergrund eine Frau im Fernsehen auf Französisch die Nachrichten vorliest.

Später reden die Jungs auf Französisch über Geld. Amadou klatscht in die Hände und sagt, er wolle so viel Geld machen wie möglich. Und dann zurück nach Afrika gehen und sich dort einen Audi kaufen. In ihm zeigt sich die gescheiterte Einwanderungspolitik: Wie junge motivierte Menschen zu resignierten Drogendealern werden. Die sich und den legalen Aufenthalt längst aufgegeben haben, wobei sie doch gekommen sind, um zu arbeiten.

Nachts klingelt es plötzlich an der Tür und eine helle Stimme im dunklen Flur fragt: „Hallo?" Ein junge Frau tritt herein, sie heißt Irina*, ist gerade 18 geworden und vor zwei Jahren aus Rumänien nach Dortmund gekommen. Ihre schwarze enge Hose hat Risse, ihre Schuhe sind komplett weiß, über ihren schmalen Schultern liegt etwas, das ein künstliches Schaffell sein könnte.

„Diese meine Freundin", sagt Amadou stolz und Irina ärgert sich über den Grammatikfehler. Ob sie weiß, dass er gar nicht Amadou heißt? Große Augen. Ob sie weiß, wie alt er wirklich ist? Achselzucken. Die beiden sagen, sie lieben sich. Sie wollen heiraten. Vielleicht kann Amadou so doch noch länger bleiben und wieder auftauchen.

_Dieser Artikel ist entstanden in Zusammenarbeit mit Correctiv.org, dem ersten gemeinnützigen Recherchezentrum im deutschsprachigen Raum. Correctiv finanziert seine Recherchen aus Zuwendungen von Stiftungen und Bürgern. Hier kannst du Correctiv unterstützen._