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Sex

„Ich liebe meine Schwester“

Toms Profilbild zeigt ihn und seine Freundin Lena. Sie umarmt ihn von hinten und küsst ihn leidenschaftlich am Hals. Eigentlich alles ganz normal – nur ist Lena Toms Schwester.
Symbolbild für ein Geschwisterpaar, das sich ineinander verliebt hat

Foto via Shutterstock.

Tom* wollte sich nicht persönlich mit mir treffen. Ich könnte ihn verurteilen, ihn eklig finden, beschimpfen oder angewidert davonlaufen. So haben immerhin die anderen reagiert, denen er von sich erzählt hat. Wir schreiben uns E-Mails. Immer wieder bitte ich ihn, mit mir zu sprechen, sich zu öffnen. Er hat extra einen neuen, anonymen Mail-Account erstellt.

Er will ja auch über sein Leben sprechen. Die Wahrheit loswerden. Wir verabreden uns also zu einem Skype-Interview. Tom trägt zu seinem Schutz eine schwarze Sonnenbrille und eine Mütze. Er verspricht, mir alles zu erzählen aber nur, wenn ich keine persönlichen Daten über ihn preisgebe. Ich würde ansonsten seine Freiheit riskieren.

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Toms Profilbild zeigt ihn und seine Freundin Lena. Sie umarmt ihn von hinten und küsst ihn leidenschaftlich am Hals. Er lacht und greift ihr ins lange braune Haar. Eigentlich ist an dem Foto ja nichts verkehrt. Es zeigt zwei Personen, die sich lieben. Eine Beziehung, die auf Freiheit und gegenseitiger Zuneigung basiert.

Aber Lena ist Toms Schwester und diese Tatsache verändert für viele alles. Das Foto wird zum Beweis einer Straftat. „Ich habe Angst davor, dass man mich eklig findet", sagt Tom. Er sieht mich nicht an und kratzt sich an den Fingern. Seit zwanzig Jahren lebt er mit seiner Schwester in einer festen Beziehung. „Es gibt nichts, was ich noch nicht gehört habe. Man nannte mich Blutschänder, Genschänder, Schwesternficker oder behindert. Das kam aus dem Mund meiner ehemaligen Freunde. Auch wenn die Gesellschaft uns nicht anerkennen will: es gibt uns und wir sind mehr als ihr denkt."

Tom und Lena sind in einem österreichischen Kleindorf aufgewachsen. Das Klischee der perfekten Familie schwebt wie ein Damoklesschwert über ihnen. Sie wohnen in einem riesigen, weißen Bilderbuchhaus mit bellendem Hund vor der Türe. Seine Mutter ist anständige Hausfrau und sein Vater Beamter. Die Kinder gehen brav ins Gymnasium und versuchen, nicht unangenehm aufzufallen. Sie dürfen generell nicht auffallen. In der Familie gibt es offiziell keinen Streit. Immer muss gelächelt werden. Was würden sonst die Nachbarn denken? Irgendwann fällt Tom auf, dass er nicht perfekt ist. Lena auch nicht. „Wirkliche Gefühle für sie bekam ich, als wir beide in die Pubertät kamen", sagt Tom. „Sie wurde erwachsen und immer schöner. Manchmal hab ich sie beim Umziehen im Zimmer beobachtet. Danach habe ich mich immer sehr geschämt."

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Tom beruhigt sich damit, dass die Neugierde am weiblichen Körper normal sei. Er fände nicht seine Schwester attraktiv, sondern allgemein Frauen. Daher käme auch bestimmt seine Erektion. Wenn eine Frau nackt ist, sieht man als Mann doch automatisch hin, oder? Das ist halt eine Art Reflex. Seine Gefühle werden aber immer stärker und Lena hat mit 17 ihren ersten festen Freund. „Das war die Hölle für mich", gesteht Tom. „Ich habe jeden ihrer Typen abgrundtief gehasst. Lena weinte oft, weil ich sie nicht akzeptieren wollte. Heute weiß ich: das war pure Eifersucht."

Nach drei Jahren Beziehung betrügt Lenas Freund sie. Mitten in der Nacht stürzt sie zu Tom ins Zimmer. Er hat bereits geschlafen und wird von ihrem Schluchzen geweckt. Weil er seine Schwester trösten will, holt er einen Wein aus dem Keller. Nach dem ersten Glas folgt auch schon das zweite und das dritte. Lena kuschelt sich im Rausch an seine Schulter.

„Ich kann mich noch genau erinnern. Sie schaute hoch zu mir und fragte, wieso die anderen Männer nicht so sein können wie ich."

„Ich kann mich noch genau erinnern. Sie schaute hoch zu mir und fragte, wieso die anderen Männer nicht so sein können wie ich." Da passiert es. Tom wird klar, dass Lena und er nicht nur Geschwister sind. Er will sie festhalten und an sich ziehen. Sie kommt ihm aber zuvor und küsst ihn. „Wir waren immer schon sehr eng gewesen", erklärt Tom, „als Kinder haben wir oft in einem Bett geschlafen.

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Obwohl wir dafür vielleicht schon zu alt waren. Wir haben uns alles erzählt—immer." Die Weinflaschen haben sich inzwischen verdoppelt. Der Alkohol hilft zu vergessen, dass sie eigentlich Geschwister sind. Irgendwann drückt Tom seine Schwester weg. „Was machen wir hier?", schreit er. Lena beginnt zu weinen.

Die folgenden Tage werden für Tom zur Qual. Sie können den Vorfall natürlich auf den Alkohol schieben. Trotzdem lässt ihn das Gefühl nicht in Ruhe, dass das kein Ausrutscher war. Er erinnert sich an gewisse Situationen. „Mir wurde klar, dass Lena und ich immer schon geflirtet haben. Ich tat das damals noch als Witz ab. Das war es aber nicht. Viele merkwürdige Situationen wurden für mich auf einmal glasklar."

Er weiß jetzt, dass er Lena beim Umziehen beobachtete, weil er auf sie scharf ist. Er war nicht nur erregt, weil sie eine Frau ist—und die gewissen Körperteile mitbringt—, sondern auch weil er Gefühle für sie hatte. Lena und Tom reden lange über den Vorfall. Sie hat dieselben Gefühle für ihn. Lange verdrängt sie die Tatsache, obwohl sie auf der Hand liegt. Lena hat bewusst die Türe einen Spalt aufgelassen, damit er sie beobachten kann. Sie will ihn verführen. Auch wenn ihr das erst nach dem Kuss klar wird. „Ich war zunächst erleichtert", meint Tom. „Sie empfand dasselbe für mich. Wir konnten gemeinsam glücklich werden. Aber das war natürlich nur eine Utopie. In Wirklichkeit war unsere Liebe zu einander wie ein böser Fluch. Auch heute noch."

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„Mir wurde klar: Wir sind jetzt so etwas wie Kriminelle."

Inzest ist strafbar und bedeutet ganz allgemein Beischlaf zwischen nahen Verwandten. In Österreich wird Inzest zwischen Eltern und Kindern mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr und zwischen Geschwistern mit Freiheitsentzug bis zu sechs Monaten bestraft (§ 211 StGB). Als Tom das erste Mal mit Lena schläft, war es also nicht nur ein Liebesakt, sondern auch eine Straftat. „Mir wurde klar: Wir sind jetzt so etwas wie Kriminelle. Paragraf 211 ist aber komplett beschissen, er bestraft auch Menschen, die mündig sind und auf freiwilliger Basis eine Beziehung mit einem anderen mündigen Menschen eingehen. Das geht doch gegen die Menschenrechte. Wir zwingen uns ja nicht."

Für Tom wird besagter Paragraf zu einer fetten, schwarzen Gewitterwolke, die immer über ihm schwebt. Er kann es nicht verstehen, weshalb er dafür ins Gefängnis gehen soll. „Seit wann ist Ekel ein Grund andere einzusperren? Niemand würde einen Menschen bestrafen, weil er Sex mit einem Kuchen hat, nur weil andere es eklig finden."

Tom hat sich jahrelang intensiv mit dem Tatbestand der Blutschande beschäftigt. Als Patrick S. 2008 in Deutschland eine Verfassungsbeschwerde zur Blutschande einreicht, freut sich Tom. Er glaubt, das Gesetz könnte endlich abgeschafft werden. Lena und er wären dann freie Menschen. Der Antrag wurde abgelehnt. In der Begründung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Inzesttatbestand werden folgende Gründe, weshalb das Gesetz der Blutschande bestehen bleiben muss, genannt:

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Die Volksgesundheit (damit ist die Sicherstellung eines vielseitigen Genpools gemeint).
Außerdem die historische Bedeutung, Schutz der auch bei einvernehmlichen sexuellen Handlungen vermuteten schwächeren Partei vor Traumatisierung.
Und die Vermeidung eines durch Entkriminalisierung vermuteten „falschen Signals" an die Öffentlichkeit.

Für Tom ist das alles Unsinn. Vor allem, weil der dritte Grund auch nach anderen Normen bestraft wird. Noch heute ist ein bestimmtes Schreiben für ihn das Um und Auf. Hans Jörg Albrecht, Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, hat nämlich in einem rechtsvergleichenden und empirischen Gutachten die gängigsten Gerüchte rundum die Blutschande widerlegt. Für Tom ist das Schreiben wie eine Bibel. Die meisten Leute würden denken, dass Paragraf 211 der Blutschande dem Schutz der dadurch entstehenden Kinder diene. „Dabei liegen sie so falsch", sagt Tom. „Sie gehen davon aus, dass Kinder, die aus Inzestbeziehungen hervorgehen zu 100 Prozent behindert sind."

Mein Kind ist gesund und ich und meine Frau lieben uns freiwillig. Alle guten Gründe für eine Strafe fallen also weg.

Ein erhöhtes Risiko besteht tatsächlich: Kinder von verwandten Eltern können an einem autosomal-rezessiven Gendefekt leiden. Doch noch ist nicht bekannt, wie hoch das Risiko bei verwandten Eltern im Gegensatz zu nichtverwandten Eltern ist. Somit können verwandte Eltern, die Kinder zeugen, nicht strafrechtlich verfolgt werden. Andernfalls würden sich auch Spätgebärende, Behinderte oder drogenkranke Menschen strafbar machen, wenn sie ihrem Kinderwunsch nachkommen.

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Für Tom ist also der Sinn von Paragraf 211 nicht vorhanden: „Ich würde es ja verstehen, wenn sie mir sagen: du kommst ins Gefängnis, weil du dein Kind gefährdest. Mein Kind ist aber gesund und ich und meine Frau lieben uns freiwillig. Alle guten Gründe für eine Strafe fallen also weg."

Die Unsinnigkeit des Gesetzes wird klar, wenn man bedenkt, dass nur Vaginalsex unter Verwandten bestraft werden kann. Oral-, und Analsex kann nicht nach Paragraf 211 bestraft werden. Das Problem liegt hierbei in der Formulierung des Gesetzestextes. Es wird nur von „Beischlaf" gesprochen. Dieser wird strafrechtlich als das „Eindringen des männlichen Gliedes in den Scheidenvorhof" definiert. Anal- und Oralsex wird jedoch als „dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen" definiert.

Somit können auch homosexuelle Verwandte problemlos miteinander schlafen. Denn nur die vaginale Penetration kann bestraft werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob einer der Partner zeugungsunfähig ist oder ob Verhütungsmittel benützt werden. Der Vaginalsex an sich ist strafbar. Dadurch ist auch künstliche Befruchtung erlaubt, egal ob die Ei-oder Samenspende von Geschwistern stammen.

Tom und Lena führen einige Jahre lang eine geheime Beziehung. Es wird leichter, als sie beide mit dem Studieren anfangen. Sie ziehen aus und müssen nicht mehr Versteckspielen. Obwohl die ständige Flucht vor den Eltern für Tom auch etwas Reizvolles hatte. „Natürlich mussten wir zuerst damit fertig werden. Wir dachten lange, dass wir komplett krank wären. Wer liebt schon seine Schwester? Unglaublich, was ein Tabu mit dem Selbstwertgefühl eines Menschen machen kann." Tom wird depressiv.

Er trennt sich von Lena, weil er glaubt, es würde alles besser machen. Dann versucht er, sich umzubringen. Lena findet ihn bewusstlos im Bad und die Schlaftabletten neben ihm. Die Ärzte pumpen ihm den Magen aus. „Ich musste etwas ändern. Ich lebte wie in einer Blase. Niemand durfte wissen, wen ich liebe. Das machte mich fertig. Ich wollte mir mein Leben nehmen."

Lena und Tom beschließen wegzuzuziehen. Sie wohnen heute in einer Wohnung in Deutschland. Ihre neuen Freunde denken, sie wären verheiratet. Vor kurzem haben sie auch ein kleines Mädchen bekommen. „Lena musste im Krankenhaus sagen, dass der Vater unbekannt wäre. Wir wollten nichts riskieren. Auf keinen Fall will ich ins Gefängnis und meine Familie verlassen."

(*alle Namen wurden von der Redaktion geändert)