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Budapest vertreibt seine Obdachlosen

Die ungarische Regierung will Ordnung und Sauberkeit—also soll Obdachlosen das Schlafen in der Budapester Innenstadt verboten werden.

Marian

Es ist nicht besonders schwer, in Budapest Obdachlose zu finden. Sie liegen in Häusereingängen, an U-Bahn-Eingängen oder in den Unterführungen, die die größeren Kreuzungen untertunneln. Selbst auf der Prachtstraße Andrássy út lag am Freitagmorgen ein in einen Schlafsack eingerollter Mann auf einer Bank. Die ungarische Regierung würde dieses Bild gerne ändern und zwar auf die denkbar simpelste Art und Weise: indem sie die Obdachlosen aus der Innenstadt verbannt.

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Am 30. September beschloss das Parlament ein Gesetz, das es Obdachlosen verbietet, die Nacht auf Straßen oder Plätzen zu verbringen, die zum ungarischen Weltkulturerbe gehören. Weil Budapest aber eine sehr geschichtsträchtige Stadt ist, ist so ziemlich die gesamte Innenstadt davon betroffen. Wenn sie wiederholt gegen dieses Verbot verstoßen, können die Obdachlosen mit Geld- oder sogar Gefängnis bestraft werden.

Lászlo Jonas

„Ich wurde schon zweimal von der Polizei verprügelt. Seit zwei Wochen wird es immer schlimmer“, beklagt sich Lászlo Jonas, den ich in der Nähe des Ferenciek-Platzes (in der ‚Zone‘) treffe. „Zweimal pro Nacht wecken uns die Polizisten und schicken uns weg. Es lohnt sich gar nicht mehr, in die Unterführung zu gehen, weil sie einen immer wieder wegschicken.“ Während er das erzählt, sieht sich Lászlo immer wieder nervös um, sonst schaut er beim Reden auf den Boden. Er erzählt, dass er mal Klavierlehrer war und vor den anderen Obdachlosen in der Unterführung Angst hat, weil sie so viel trinken. Noch mehr Angst hat er aber vor der Polizei. „Wenn mich die Polizei nachts am selben Ort erwischt, kriege ich Probleme. Also laufe ich nachts herum. Aber wo soll ich hingehen? Es ist überall gleich schlimm. Eigentlich sollte die Polizei uns helfen, aber sie macht alles nur schlimmer.“

Lászlo ist einer von Budapests 10.000 (oder 15.000, so genau weiß das niemand) Obdachlosen. Vom neuen Gesetz direkt betroffen sind bis jetzt nur die paar hundert, die tatsächlich, wie er, in der Innenstadt auf der Straße schlafen. Aktivisten befürchten jedoch, dass diese „obdachlosenfreien Zonen“ demnächst ausgeweitet werden könnten.

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Balint Misetics von der Obdachlosen-Organisationen A Város Mindenkié erklärt mir, dass die Lokalverwaltungen der einzelnen Budapester Bezirke demnächst Listen mit zusätzlichen Gebieten vorlegen dürfen, in denen sie keine Übernachtungen tolerieren wollen. Als Ergebnis könnte bald in ganz Budapest das Schlafen auf der Straße verboten sein.

Dass so etwas in Planung ist, bestätigt mir das Büro des Bürgermeisters des 8. Bezirks (Josefsstadt—ja, auch in Budapest), Máté Kocsis, in einer E-Mail: „Das Gesetz erlaubt es den Bezirken, der Stadtverwaltung Budapest andere Territorien neben den bereits ausgewiesenen öffentlichen Orten zu empfehlen.“

Im Moment prüfe man das noch. Wenn man aber zu dem Schluss komme, es müssten noch mehr Gebiete ausgewiesen werden, „wird der Bürgermeister der Josefsstadt dies der Stadtverwaltung vorschlagen.“

Was hat die ungarische Regierung gegen Obdachlose? Die treibende Kraft hinter diesem Gesetz scheint ein Duo zweier Bürgermeister zu sein: der Oberbürgermeister von Budapest, István Tarlós, und der schon erwähnte Bezirksbürgermeister der Josefsstadt, Máté Kocsis. Der Oberbürgermeister versucht schon seit Langem, die Obdachlosen per Gesetz aus der Stadt zu scheuchen. Máté Kocsis, der mir von einem Sozialarbeiter als „politischer Psychopath, der alles tut, um irgendwann Oberbürgermeister zu werden“, beschrieben wurde, ist als besonders eifriger Untergebener immer der Erste, der derlei Initiativen umsetzt. Als Belohnung wurde er vom Premierminister Orbán zum „Beauftragten für Obdachlosigkeit“ ernannt.

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Bereits 2011 wurde nämlich ein Gesetz gegen das Schlafen auf der Straße erlassen, dass das ungarische Verfassungsgericht aber 2012 als verfassungswidrig gekippt hat. Das Gericht wies in seiner Begründung unter anderem darauf hin, dass es sich bei Obdachlosigkeit um ein soziales Problem handele, dem man nicht mit dem Strafgesetz beikommen könne.

Daraufhin nutzte die Fidesz-Partei von Regierungspremier Viktor Orbán ihre Zweidrittelmehrheit aus, um kurzerhand die Verfassung zu ändern—und das Verfassungsgericht praktisch zu entmachten. Am 11. März 2013 wurde in die ungarische Verfassung eingetragen, dass das Parlament oder Lokalregierungen die „Nutzung öffentlicher Orte als Wohnraum“ per Gesetz einschränken können—was jetzt am 30. September zum ersten Mal geschehen ist.

„Es ist eine gefährliche Situation“, erklärt mir ein Sozialarbeiter, der seinen Namen lieber nicht genannt haben möchte, weshalb ich ihn ab jetzt Tamás nennen werde. „Wir sind jetzt an einem Punkt, der viele Jahre vorbereitet wurde. Die Regierung liebt Ordnung, Ordnung muss sein.“ Gleichzeitig seien die Obdachlosen das einfachste Ziel. „Das ist ja ganz billig. Da braucht man nicht das Verbrechen bekämpfen oder das Parkproblem lösen, das ist viel einfacher.“

Tamás erklärte aber auch, dass er sich nicht sicher ist, ob das neue Gesetz überhaupt umsetzbar sei. Die Polizisten müssten in jedem Einzelfall nachweisen, dass jemand tatsächlich auf der Straße „lebe“, also mehr als eine Nacht dort zubringt. „Es kann also sein, dass nichts passiert.“ Tatsächlich treffe ich auch viele Obdachlosen in der Innenstadt, die davon überzeugt sind, dass sie keine Probleme bekommen werden.

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Nandor Gyulai und ein Freund

Anders als Lászlo berichtet mir zum Beispiel der Obdachlose Nandor Gyulai in einer Unterführung, er verstehe sich sehr gut mit den Polizisten, die würden ihn bestimmt nicht wegschicken. Tatsächlich stehen keine 20 Meter von uns ein paar Polizisten, die keine Anstalten machen, Nandor irgendwas zu verbieten. „Man muss nur ordentlich sein und seine Sachen zusammenhalten, dann geht das schon“, erklärt er mir stolz. „Ich helfe zum Beispiel jeden Morgen der Putzfrau hier in der Unterführung, ich will mich ja auch nützlich machen.“ Viele der befragten Obdachlosen hielten es für genauso unwahrscheinlich wie Tamás, dass die Polizei solche Maßnahmen überhaupt durchsetzen könne.

Viel mehr Sorgen als die Polizei machen Tamás aber auch verbotsfreudige Hausmeister und jugendliche Schlägerbanden, die das Gesetz als Signal sehen könnten, dass Obdachlose Menschen zweiter Klasse und damit Freiwild sind. Sollte der Druck weiter steigen, würden sich die Obdachlosen irgendwann aus der Innenstadt zurückziehen. In den Außenbezirken allerdings ist das Leben schwerer, hier kennen sie sich nicht aus, und die Sozialarbeiter, die sie normalerweise betreuen, finden nicht mehr zu ihnen.

Viktor Orbán, Foto von Európa Pont

Ungarn hat es in der Finanzkrise 2008 ziemlich hart erwischt. Bei ihrem Machtantritt versprach Orbáns Fidesz-Partei, das Land wieder auf Vordermann zu bringen. Eine Methode waren breite Steuerentlastungen für den Mittelstand, die allerdings auf Kosten der Einkommensschwächeren gingen. Im Moment leben 17% aller Ungarn unter der Armutsgrenze. Da es in Ungarn aber kaum Unterstützung für Sozialwohnungen gibt, haben fast 300.000 Menschen große Probleme, bezahlbare Wohnungen zu finden. Gleichzeitig stehen in Ungarn fast 500.000 Wohnungen leer.

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Am Samstag laufe ich deshalb bei einer Demonstration von A Város Mindenkié mit, die durch einen Marsch durch das Stadtzentrum auf die leer stehenden Wohnungen aufmerksam machen wollten. Mit Bannern und Megaphonen zieht die Truppe durch die Straßen, während ich mich mit einigen Mitgliedern unterhalte. Als wir an einem Lokalbüro der Fidesz-Partei vorbeikamen, fragte ich Vera, warum sie denn keine Eier werfe. „Ha, sie würden uns die Hände abschneiden!“ Irgendwie klang es nicht so, als sei es als Witz gemeint.

Am Sonntag in der Ferenciek-Unterführung treffe ich ein ganzes Lager von Menschen, die sich entlang der Wand in Schlafsäcke eingerollt hatten. Eine davon war Angela Pinter, die sich ebenfalls beschwert, dass die Polizei sie immer von ihren Schlafplätzen vertreibt. Aber sie glaubt nicht, dass die neuen Gesetze wirklich durchgesetzt werden können. „Sie wissen dann sowieso nicht, was sie mit uns machen sollen, es sind einfach zu viele Leute“, schimpft sie. „Wir wissen nicht, wo wir dann hingehen sollen. Wir wissen nicht, was passieren wird.“

Angela

Ihre Freundin Marian kommt dazu, um uns zu erklären, dass sie sich schon seit ihrer Flucht aus dem Waisenhaus mit zwölf Jahren auf der Straße auskenne. Trotzdem besteht sie darauf, als anständige Bürgerin behandelt zu werden. „Ich habe mich nie prostituiert, bin nie im Gefängnis gewesen und gehe nie bei Rot über die Straße“, erklärt sie fröhlich grinsend. Angela, die auch schon ziemlich betrunken ist, wird aber immer wütender. „Sie wollen uns umbringen mit diesen Gesetzen. Sie wollen, dass wir hier verschwinden und irgendwo sterben!“

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Wie sich die Gesetze auf das Leben von Budapests Obdachlosen auswirken, wird sich erst in den nächsten Wochen zeigen. Sicher ist jedenfalls, dass in Ungarn ein zunehmend kalter Wind weht, der die Schwächsten der Gesellschaft am härtesten trifft. Dass die Orbán-Regierung sie deshalb einfach in die Außenbezirke verbannen will, wo sie den Touristen nicht die Erinnerungsfotos versauen können, ist kein gutes Zeichen für ihre Zukunft. „Das ist Ungarn heute“, seufzte Tamás am Ende unseres Gesprächs. „Es ist tragisch.“

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