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Drogen

Cold Turkey Kids

Neonataler Drogenentzug ist dank Morphin heute nicht mehr die Hölle, aber danach wird es auch nicht unbedingt einfacher.

Die Bestrahlung mit blauem Licht (Fototherapie) wird zur Behandlung von Neugeborenengelbsucht, die Entzugskinder und „normale“ Babys gleichermaßen treffen kann, eingesetzt.

Leipzig gilt seit Jahren als eine der Heroin-Hochburgen Deutschlands und hat letztes Jahr einen Anstieg von 23,2 Prozent bei festgestellten Delikten von Rauschgiftkriminalität erlebt. Der Anstieg mag laut Polizeibericht auch am erhöhten Fahndungsdruck liegen. Interessanterweise wird Heroin zunehmend von Crystal verdrängt, das aufgrund der Nähe zur tschechischen Grenze und der neuerdings eher laxen tschechischen Gesetzeslage immer stärker die Leipziger Drogenszene beherrscht. Mit der steigenden Anzahl drogenabhängiger Frauen steigt proportional auch die Anzahl der Neugeborenen, die einen neonatalen, also nachgeburtlichen Drogenentzug machen müssen. Wie dieser Entzug genau aussieht, erklärte mir Fachärztin Anett Bläser vom Uni-Klinikum Leipzig, während sie mir zwei Stationen des Uni-Klinikums zeigte, in denen „normale“ Frühchen und normalgewichtige Babys zusammen mit Kindern behandelt werden, die ihre ersten Wochen auf der Welt mit einem Drogenentzug zubringen. Die Neugeborenen-Station sieht modern und trotzdem sehr freundlich aus, an den Wänden hängen fast überall bunt bemalte Fotocollagen, in denen Eltern stolz die Entwicklung ihrer Frühchen dokumentieren, denen es heute gut geht. Am meisten überrascht mich merkwürdigerweise, dass ich die Entzugskinder, die inmitten der „normalen“ Kinder liegen, nicht erkenne. Sie sehen genauso aus wie alle anderen Babys. Frühgeburten kommen bei ihnen mit 15-prozentiger Wahrscheinlichkeit vor, nicht wesentlich häufiger als bei nicht abhängigen Müttern, wo die Wahrscheinlichkeit zehn Prozent beträgt. Berührende Anblicke von Inkubatoren mit zerbrechlich aussehenden Frühchen voller Schläuche lassen keinen Rückschluss darauf zu, ob es sich hier um ein Kind handelt, das einen Entzug durchmacht, oder ein „normales“ Baby, das einfach zu früh gekommen ist. Die Entzugssymptomatik, allem voran das typische, sehr schrille Schreien, tritt meist innerhalb von 24 bis 48 Stunden nach der Geburt auf, wenn der Drogenpegel das erste Mal absinkt und das Kind nicht mehr von der Mutter mitversorgt wird. Die Schwere des Entzugs wird anhand des Finnegan-Scores bestimmt, der Punkte vergibt für alle typischen Symptome: schrilles Schreien, Durchfälle, Schlafprobleme, erhöhte Körpertemperatur und, bei den ganz schlimmen Fällen, starke Krampfanfälle. Das Medikament der Wahl, Morphin, wird entsprechend des Scores dosiert. Die Babys bekommen alle vier bis sechs Stunden Morphintropfen entweder in den Mund geträufelt oder direkt per Magensonde, und die Dosierung wird Schritt für Schritt reduziert. Der Entzug dauert bis zu vier Wochen. Bevor das Morphin den Entzug erträglich macht, sind die Kinder extrem empfindlich und reagieren auf alle störenden Einflüsse wie Licht oder Geräusche mit dem charakteristischen, markerschütternden Schreien. „Die wirken unwahrscheinlich gestresst. Das ist schon vergleichbar mit den Entzugsbildern [von Erwachsenen], die man manchmal in Filmen sieht. Sie können sich natürlich nicht so äußern, aber man hat den Eindruck, dass es sehr vergleichbar ist“, erzählt Frau Bläser vom dem, was die Kinder erleben. Das Schwitzen, das man von Junkies auf Entzug kennt, äußert sich bei den Babys durch stark erhöhte Körpertemperatur, weil Neugeborene noch nicht richtig schwitzen können. Die unterschiedlichen Drogen, die von Müttern vor und während der Schwangerschaft konsumiert werden, haben ganz unterschiedliche Effekte auf den Verlauf der Schwangerschaft und den Entzug danach. Kokain und Crystal führen zu weniger stark ausgeprägten Entzugserscheinungen. Bei Heroin gibt es in der Schwangerschaft oft Schwankungen in der intra-uterinen Versorgung, was z. B. mit einem erhöhten Risiko von Frühgeburten einhergeht. Den stabilsten Verlauf in der Schwangerschaft garantiert Methadon, das substituierte Frauen als Ersatz für Heroin auch während der Schwangerschaft täglich unter ärztlicher Aufsicht einnehmen und so einen nahezu konstanten Opioid-Spiegel halten. Allerding beschert Methadon den Neugeborenen auch den mit Abstand heftigsten und längsten Entzug. Methadon ist auch der Stoff, von dem am häufigsten entzogen werden muss, aber es geht oft auch um Heroin-Gebrauch ohne Substitution, Methadon mit Beigebrauch, wie z. B. Diazepam (Valium) und: „Crystal ist ganz groß im Kommen. Alle möglichen Substanzen können dann noch dazukommen. Aber Methadon ist so das Hauptsächliche, womit wir’s zu tun haben“, fasst Frau Bläser ganz ruhig und nüchtern zusammen, was mir immer noch unfassbar erscheint. Stillen ist bis auf sehr seltene Ausnahmen ausgeschlossen bei Entzugskindern.

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Mein erster Gedanke ist, warum die Frauen nicht frühzeitig entziehen, wenn sie merken, dass sie schwanger sind. Warum das aus medizinischer Sicht nicht vertretbar ist, erklärt Frau Bläser: „Das ist versucht worden, man ist aber davon abgekommen, weil man in der Schwangerschaft einen möglichst stabilen Verlauf haben will. Gerade im letzten Drittel steigt der Drogenbedarf eher an, das heißt der Stoffwechsel der Frauen verändert sich, so dass sie eher mehr brauchen. Und da sind dann mehr Frauen zum Beikonsum übergegangen oder haben sich doch wieder Heroin beschafft, sodass die ganze Sache wieder instabiler wurde. Deswegen macht man das eher nicht mehr.“

Dass Neugeborene „überraschend“ auf Entzug in der Klinik landen, ist eher die Ausnahme. Die meisten Fälle werden schon über die Schwangerschaft hinweg begleitet und einige engagierte Ärzte und Sozialarbeiter versuchen, die Frauen in einem möglichst dichten, wenn auch kaum flächendeckenden Netz aufzufangen. Die ersten Fälle kamen Ende der 90er in die Leipziger Kliniken. Heute sind es in der Uni-Klinik ca. 20 Kinder im Jahr, was zwar bei 600 Neugeborenen im Jahr einen kleinen Prozentsatz ausmacht, aber trotzdem besorgniserregend ist, vor allem, weil es vor einigen Jahren noch halb so viele waren. Es gibt noch ein weiteres Krankenhaus in Leipzig, das Entzugskinder behandelt und wahrscheinlich ähnlich viele Fälle im Jahr hat. Ganz genaue Statistiken gibt es aber zu dieser Thematik weder lokal noch bundesweit, erklärt Frau Bläser. „Es gibt keine zentrale Erfassung, wie viele Kinder mit Drogenentzug es in Deutschland gibt. Da kocht jede Stadt so ihr eigenes Süppchen.“ Es sind engagierte Ärzte wie Frau Bläser, die eigene Studien betreiben und zumindest die Fälle in ihren Krankenhäusern dokumentieren. Als ihr vor einigen Jahren der massive Anstieg auffiel, fing sie an, sich genauer mit den Entzugskindern zu beschäftigen und ist mittlerweile in der Uni-Klinik zur Hauptansprechpartnerin für die Thematik geworden. Neben fehlenden Erhebungen über das Vorkommen von neonatalem Entzug, gibt es auch sehr wenige Studien zu Spätfolgen. Es ist schwer, Studien zu Drogenentzugskindern zu machen, da in der Regel nur die Kinder, denen es gut geht und die in eine sichere Umgebung entlassen werden, wieder vorgestellt werden. „Die Kinder, die in eher schlechterem Milieu untergekommen sind, werden einem nicht wieder vorgestellt“, erklärt Frau Bläser. Diese Selektion macht es schwer, wirklich einzuschätzen, welche Folgen der Konsum in der Schwangerschaft oder die wochenlange Morphingabe in den ersten Wochen auf der Welt hat. Es gibt Untersuchungen, die gezeigt haben, dass Kinder, die in Drogenhaushalten aufwachsen, ein deutlich höheres Risiko haben, später mal selbst substanzabhängig zu werden. Ob das aber am Konsum in der Schwangerschaft und dem Entzug liegt oder daran, dass die Kinder das Abhängigkeitsverhalten von ihren Eltern und ihrem Umfeld gelernt haben, ist nicht nachvollziehbar. Allerdings, so erklärt Frau Bläser die gängige These, gehen die meisten Wissenschaftler davon aus, dass es eher am Umfeld liegt als an der Abhängigkeit in der Schwangerschaft. Medizinische Geräte sichern die optimale Versorgung und Überwachung der Kinder.

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Vor allem Crystal, das bei Erwachsenen schon in kürzester Zeit zu massiven Schädigungen am Gehirn führt, ist eine Substanz, bei der verlässliche Studien zu den Auswirkungen auf die intra-uterine Versorgung durch die Mutter fehlen, weil das Phänomen noch relativ neu ist und es keine zuverlässigen Daten zu Konsum und Folgen gibt. Nicht mal der Suchtbericht der Stadt Leipzig wagt es, das Thema Crystal genauer zu quantifizieren, weil die Datenlage nicht aussagekräftig genug ist. Beobachtet wird aber zunehmend, dass die Verfügbarkeit von Heroin abnimmt und die Konsumenten—darunter auch potenzielle Mütter—immer öfter auf Crystal umsteigen, was sich wiederum im Konsumverhalten der Mütter spiegelt, mit denen es die Ärzte im Uniklinikum zu tun haben.

Erst wenn der Entzug eines Neugeborenen durch die Morphin-Gabe und ggf. zusätzliche Maßnahmen einigermaßen unter Kontrolle ist, können die Neugeborenen anfangen, die Erfahrungen zu machen, die sonst direkt nach der Geburt beginnen, zum Beispiel der Körperkontakt zur Mutter. Das sogenannte „Känguruhing“, das auch bei ganz normalen Frühchen praktiziert wird, ist im Endeffekt nichts anderes, als für ein bis zwei Stunden mit den Eltern zu kuscheln. Das ist aber erst möglich, wenn das Kind so weit stabil ist, dass es keinen Stress bedeutet, den Inkubator zu verlassen. Wenn die Kinder entlassen werden, sind sie in einem „normalen“ Zustand. Sie trinken genug, um zuzunehmen, und es wurde nach dem Absetzen des Morphins drei bis vier Tage lang beobachtet, ob auch wirklich keine Entzugserscheinungen mehr da sind. Dann allerdings kommt die nächste große Gefahr auf die Kinder zu: die Versorgung, nachdem sie den geschützten Raum im Krankenhaus verlassen. Auch die Jugendämter haben keinen vollständigen Überblick darüber, was mit den Kindern langfristig passiert. Zu wenig flächendeckende Vernetzung und uneinheitliche Gesetzesauflagen führen dazu, dass es weiterhin Kinder gibt, die durchs Raster fallen. Wirklich tragische Fälle wie der des zweijährigen Kindes, das diesen Sommer in Leipzig neben seiner Mutter starb, die sich einen goldenen Schuss gesetzt hatte, sind die Fälle, auf die auch die Öffentlichkeit aufmerksam wird. Weniger drastische Fälle von Vernachlässigung oder einem traumatisierenden Umfeld bleiben oft ungesehen. Die Ärzte und Sozialarbeiter in der Klinik bemühen sich darum, die Mütter stark einzubinden. Vorurteile bleiben beim Pflegepersonal aber nicht immer aus, zum Beispiel, wenn sie den ungeschickten Umgang der Eltern mit dem Neugeborenen extra negativ bewerten, obwohl diesen auch „normale“ Eltern oft an den Tag legen. Aufgrund der Personallage ist es nicht immer möglich, ausschließlich die Pflegerinnen einzusetzen, die besonders gut mit dieser schwierigen Situation umgehen können. Mütter, die mit Entzugserscheinungen kämpfen, weil sie ihre nächste Dosis Heroin oder Methadon brauchen, sind mit ihren zitternden Händen und Schweißausbrüchen eine große Herausforderung für die Schwestern, die versuchen, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Die abhängigen Mütter halten es oft nicht aus, lange in einem geschlossenen Raum zu sein und haben Schwierigkeiten mit dem Stillsitzen, was z. B. das Känguruhing oft unmöglich macht. Die Väter sind in der Klinik wenig präsent und deswegen bin ich sehr überrascht, als ich erfahre, dass die meisten Frauen in Beziehungen leben. Die alleinerziehende Junkie-Mutter ist offenbar ein ziemliches Klischee. Der Entzug bei Neugeborenen dauert je nach Droge bis zu vier Wochen.

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Die Mütter werden in der Uni-Klinik nicht stationär aufgenommen—was bei vielen auch alleine deswegen schon nicht geht, weil sie sich ihre tägliche Dosis Methadon abholen müssen. In Ausnahmefällen gibt es für substituierte Frauen auch Wochenrationen, in der Regel wird die zuckerhaltige Lösung—die unmöglich intravenös injiziert werden kann und somit nicht high macht, sondern einfach nur die Sucht befriedigt—aber im Ein-Tages-Rhythmus verabreicht. Sie kommen möglichst täglich zu Besuch, was die Mitarbeiter des Krankenhauses genau beobachten, um später in ihre Empfehlung an den Sozialdienst einfließen zu lassen, wie motiviert und zuverlässig die Mutter sich gezeigt hat. Ich merke, dass Frau Bläser sich sehr um das Wohl und die Zukunft der Kinder sorgt und bin deshalb noch beeindruckter davon, wie fair und unvoreingenommen sie von den Müttern spricht.

Nach meiner Tour durch die beiden Neugeborenen-Stationen unterhalte ich mich mit Kathrin Mühler, die als Diplom-Sozialpädagogin seit 2005 im Krankenhaus Eltern von Frühgeborenen berät und sich ebenfalls um die drogenabhängigen Mütter kümmert. Sie erzählt mir relativ nüchtern von ihren Erfahrungen mit den Müttern, die sich in der Masse zu einem oft ähnlich ablaufenden Muster verdichten: Die Mütter sind zu Beginn sehr motiviert, überwältigt von Mutterliebe und zeigen einen großen Willen, sich zu verändern und ihr Leben in den Griff zu bekommen. Nach einigen Wochen oder Monaten jedoch kollabiert der gute Wille, und nur die wenigsten Mütter schaffen es, mit dem extremen Stress des Mutterseins in Verbindung mit ihrem Suchtproblem klarzukommen. „Der Gedanke an den Alltag zu Hause bereitet uns einfach große Bauchschmerzen, denn dann ist das Kind 24 Stunden da, und schreit und schreit, auch wenn die Mutter gerade im Entzug ist oder es ihr körperlich nicht gut geht“, sagt sie. Als ich Frau Mühler bitte, die Frauen, die sie in ihrer Tätigkeit kennengelernt hat, ein bisschen näher zu beschreiben, kann sie mir keine einfache Antwort geben. Viele Mütter kommen zwar aus sozial schwachen Verhältnissen, aber es gebe auch immer wieder Fälle von Müttern aus ursprünglich sehr wohlhabenden und gebildeten Familien, die in ihrer eigenen Jugend wenig Liebe und Zuwendung erfahren haben und dann über den Freundeskreis in der Drogenszene gelandet seien. Manche Mütter sind „Wiederholungstäterinnen“—wieder eine Information, die mich an die Grenze meines Verständnisses bringt. Sie haben in der Klinik bereits drei oder vier Kinder entbunden, ohne dass ihr Methadon-Problem sich jemals in Richtung eines tatsächlichen Entzugs entwickelt hat. Und Mütter, die in einer Abhängigkeit stehen, haben immer eine Priorität, die über dem Kind steht. Das gilt auch für substituierte Abhängige, denn auch Methadon ist ein Stoff, den der Süchtige mehr braucht, als alles andere. Frau Mühlers Prognose klingt wenig beruhigend: „Sicher gibt es vielleicht Einzelfälle, die es mit guter Begleitung und einem Elternhaus, das sich mit kümmert, in den Griff kriegen können, aber ich sehe trotzdem alle Kinder in einer großen Gefahr.“ Auch wenn die Mütter in der Regel ihrer Verantwortung alleine nicht gerecht werden können, geht es aber laut Frau Mühler weniger darum, die Kinder von den Müttern zu trennen—ich merke zwischendurch immer wieder, dass das leider ein sehr verlockender Gedanke sein kann—sondern darum, sie stärker zu unterstützen und zu überwachen, um ggf. reagieren zu können, wenn es nicht gut läuft. Es gibt keine einheitliche, verbindliche staatliche Regelung, die den Müttern z. B. eine überwachte Wohnform vorgibt, bis sie über mehrere Jahre hinweg wirklich bewiesen haben, dass sie alleine bzw. zusammen mit ihrem Partner oder den Großeltern das Kind versorgen können. „Die Eltern haben sicherlich mehrere Chancen, aber die Kinder haben nur eine, und diese eine Chance darf nicht vertan werden“, meint Frau Mühler. Infusionen werden in der Station individuell zusammen gemischt und gelabelt.

Ein Kind zu versorgen bedeutet—auch für Eltern ohne erschwerende Umstände wie die eigene Sucht—Schlafmangel, und die Notwendigkeit, sämtliche eigene Bedürfnisse hinten anzustellen, und übersteigt, wenn ich ehrlich bin, im Moment meine persönliche Vorstellungskraft von dem, was ich alleine hinkriegen könnte, und ich habe kein Suchtproblem. Bei Drogenabhängigen kommen dann noch ganz andere Probleme hinzu, erklärt Frau Mühler: „Wenn ich täglich so beeinträchtigt bin unter Drogen oder ich nicht pünktlich meine Drogenration oder das Methadon bekomme, weil vielleicht der Bus nicht fährt, der Arzt mal geschlossen hat und ich zum nächsten Arzt muss, dann frage ich mich, welche Reaktion dann zustande kommt.“ Das soziale Netz aus Jugendfürsorge, Gesetzgebung und Sozialdiensten beschreibt Frau Mühler als defizitär. Mich erschreckt aber am meisten die Vorstellung, dass es keine einheitliche Herangehensweise an die Problematik gibt, und die Zukunft jedes Neugeborenen, das gerade erst den Entzug gemeistert hat, davon abhängt, wie motiviert und sorgfältig die Sozialarbeiter sind, die die Weichen für seinen weiteren Lebensweg stellen. Die von Fall zu Fall stark variierende Handlungsweise des Jugendamtes führt laut Frau Mühler dann oft dazu, dass es schiefgeht, „und wir erleben nur die Fälle, wo Misshandlungen passieren, wo Gewalt im Spiel ist oder Kinder irgendwo verwahrlost auftauchen, wir erleben nicht die Fälle, wo Eltern in Trance zu Hause von einem Zimmer ins andere schweben, ihre Kinder nicht wahrnehmen, vorm Fernseher hängen, sich auf ihrer bunten Blumenwiese bewegen. Das Kind schreit, kriegt vielleicht nichts zu essen. Ich denke, dass es für die Kinder auch traumatisierend ist, die Eltern so zu erleben. Für mich war es ein traumatisierendes Ereignis, das erste Mal eine Drogenabhängige zu sehen, und wenn ich mir überlege, dass das meine eigenen Eltern sind, die mich nicht wahrnehmen, die mich nicht erhören, die nicht auf mich reagieren, die mich vielleicht auch nicht versorgen, dann ist das traumatisierend. Und das sind Situationen, die hinter verschlossener Tür passieren.“ Aber das war erst der Anfang. Ich begann selbst zu unterrichten und es dauerte nicht lange, bis ein Schüler in meinem Unterricht aufstand und einem anderen eine reinschlug. Nicht selten saßen nach der ersten Hofpause zwei Schüler im Sekretariat. Einer, weil er wegen gewalttätigen Verhaltens für den Rest des Tages vom Unterricht suspendiert wurde; der Andere, weil er so stark verletzt war, dass er nicht mehr am Unterricht teilnehmen konnte. Einmal lief ich in der Pause an einem Klassenraum vorbei und hörte zwei Jungs streiten. Ich wollte nach dem Rechten sehen und fand zwei Achtjährige sich gegenüberstehend, einer mit einem Stuhl in der Hand, der andere mit einer Schere. Aber es gab auch Mädchen in der Dritten die regelmäßig andere Kinder, zum Teil auch ältere, physisch und psychisch angriffen. Manche Geschwister verbrachten ihre Hofpausen nur gemeinsam, um aufeinander aufzupassen. Wie man Gewalt und Macht ausübt, lernen die Kinder zu Hause und auf der Straße. Die vielfältigen Reaktionen auf Gewalt begegneten mir täglich: sozialer und emotionaler Rückzug, Selbstverletzungen, Angst und aggressives Verhalten gegenüber anderen Kindern. Gleichzeitig schlug mir unheimlich viel Liebe entgegen. Es gab einen Zweitklässler, dem ich zu Beginn meiner Zeit mal zehn Minuten in Deutsch geholfen hatte. Danach hatte ich nie wieder mit ihm Unterricht. Trotzdem kam er jedes Mal, wenn er mich in der Pause sah, mit strahlendem Lächeln auf mich zugelaufen und umarmte mich. Am Anfang fühlte ich mich dabei komisch. Ich hatte während meiner Schulzeit nie auch nur einen meiner Lehrer umarmt. Liebe bekam ich zu Hause. Viele meiner Schüler leider nicht. 45 Minuten sind nicht viel Zeit um, neben dem fachlichen Unterricht, soziale Fähigkeiten zu entwickeln. Ich musste viel zu viel Zeit damit verbringen, eine erträgliche Arbeitsatmosphäre herzustellen. Das fing bei der Lautstärke an und hörte damit auf, dass ich ständig Arbeitsmaterialien für die Kinder organisieren musste, weil sie kein Papier, kein Buch, keinen Bleistift hatten. Lukas aus der Vierten hatte auch nach acht Wochen Schule keine Schere. Viele Sachen an der Tafel konnte er nicht lesen, weil er eine Brille brauchte, und seine Mutter es auch nach Monaten nicht geschafft hatte, mit ihm zum Augenarzt zu gehen.   Kontinuierliches Arbeiten war auch wegen der hohen Fehlzeiten kaum möglich. Der extremste Fall war Sandra aus der Sechsten. Irgendwann im Mai kam sie einfach gar nicht mehr. Als ich wegen ihres Schuleschwänzens in einer Beratung saß, musste ich mir erstmal ein Klassenfoto anschauen, um sicher zu gehen, über wen ich eigentlich rede.

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Fotos von Martin Fengel