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Reisen

Neutrinojagd in der Arktis

Es ist sehr einfach, jemanden in der kältesten, isoliertesten menschlichen Siedlung des Planeten abzuschleppen und nebenbei noch Jagd auf das Gottesteilchen zu machen.

Carlos Pobes, ein Physiker, musste einen Haufen medizinische und psychologische Tests bestehen, um zu beweisen, dass er mit mehreren Monate totaler Dunkelheit und Isolation, extremer Kälte, Trockenheit und der Höhenlage klar kommt. Nicht nur, weil Physik ein physisch brutales und anspruchsvolles Fachgebiet ist, sondern insbesondere, weil er sicherstellen musste, dass er sich für beinahe ein Jahr in der Antarktis eignet. Dort wird er mit dem „IceCube Project“ auf der Amundsen-Scott Basis am Südpol Neutronen untersuchen.

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Letzten Monat ist er angekommen und wird bis zum nächsten September bleiben. Im Sommer (der dort gerade mit einer Durchschnittstemperatur von -20°C herrscht) leben etwa 250 Menschen auf der Basis. Den -70°C kalten Winter genießen dann nur noch um die 50 Menschen. Das letzte Flugzeug verlässt die Basis am 15. März und während der sechs Monate dauernden Nacht, bis Mitte September, ist sie dann von der Außenwelt abgeschottet. Carlos ist der erste Spanier, der einen Winter in der Antarktis verbringt.

VICE: Bitte versuche, uns mal in einfachen Worten zu erklären, was du jetzt ein Jahr in der Antarktis machst.
Carlos Pobes: Na ja, es zeigt sich, dass das Universum so freundlich ist und uns, nur um den Physikern ihre Jobs zu sichern, massenweise unsichtbare Partikel zuschickt, die offenbar völlig unbrauchbar sind. Eins dieser Partikel ist das Neutrino. Neutrinos sind fundamental für unser Verständnis davon, wie das Universum im kleineren Maßstab funktioniert und sie beinhalten grundlegende Informationen, die uns beim Lösen solcher Mysterien wie zum Beispiel der Entstehung  hochenergetischer kosmischer Strahlung oder der Beschaffenheit dunkler Materie helfen. Selbst, wenn es kaum zu glauben ist, auch Menschen produzieren Neutronen. Das Problem ist, dass Neutronen im Vergleich zu anderen Partikeln sehr hinterhältig sind. Sie können die Erde durchqueren, ohne irgendwo anzustoßen. Um sie zu schnappen, muss man ihnen eine große Falle stellen.

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Neutrino-Teleskope wie IceCube benötigen einen mindestens einen Kubikkilometer langen Detektor (denkt eine Sekunde darüber nach, ein Kilometer in jede Richtung: Länge, Breite und Höhe). Man kann so etwas nicht bauen, also nutzen wir den Umstand aus, dass die Eisschicht am Südpol ungefähr drei Kilometer tief ist ist. Es wurden über 5.000 Sensoren im Eis verteilt, wozu man fast 100 Löcher, jeweils 2,5 Kilometer tief, machen musste. So wird das Eis selbst zum Detektor. Im letzten Jahr wurde der letzte Sensor installiert, jetzt sammelt der Detektor mit voller Power Daten. Das Problem ist, dass natürlich vieles schief gehen kann. Manches kann über das Internet repariert werden, manches nicht und es ist elementar, dass der Detektor konstant Daten sammelt, denn einige der astrophysischen Phänomene, die für uns interessant sind, dauern nur Minuten oder Sekunden. Daher brauchen wir permanent Mitarbeiter auf der Basis. Im Prinzip besteht mein Job hier also darin, sicherzustellen, dass das Gerät ständig voll funktionsfähig ist.

Wie sieht der Auswahlprozess für einen Job wie diesen aus?
Seltsam. Es gab keinen Moment, in dem ich nicht glaubte, ich würde es überhaupt schaffen, also habe ich voll auf das  Bewerbungsschreiben gesetzt und nicht darüber darüber nachgedacht. Ich schätze, sie mochten das. Außerdem, weil du nicht wirklich weißt, worauf du dich da einlässt, gibst du dir alle Mühe, so dass derjenige, der dich auswählt dich schon gut genug einschätzen kann—also wenn sie dich nehmen, dann, weil sie glauben, dass du es kannst.

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Musstest du irgendein spezielles Training absolvieren? Eine Nacht im Kühlschrank verbringen, zum Beispiel?
Ha! Das haben mir alle gesagt, bevor ich mit dem Training in den USA begonnen habe. Ich wurde ständig gefragt, ob man mich in einen Kühlschrank stecken würde. Sonderbarerweise gibt es kein spezifisches Training für die Kälte. Die einzigen spezielleren Übungen (neben dem, was nötig war, um das Experiment durchzuführen) drehten sich um Erste Hilfe und Feuerbekämpfung. Ich persönlich habe kein Konditionstraining oder so gemacht, auch wenn ich gern in den Bergen laufen gehe.

Ich kann nicht aufhören, daran zu denken, dass man etwas von einem mentalen und physischen Superman haben muss, um am Südpol zu leben.
Definitiv nicht. Na ja, wenn du zu Fuß dort hinkommen musst, dann ja, aber für den Rest von uns ist es schon genug, keine Angst vorm Fliegen zu haben. Die Wahrheit ist, die meisten der Leute hier laufen keine Marathons, das sind normale Menschen. Die einzige Anforderung ist, gesund zu sein. Und verrückt genug, hier sein zu wollen, aber nicht so verrückt, um es in das Overlook Hotel aus The Shining zu verwandeln. Je besser dein Sinn für Humor ist, umso besser kommst du hier zurecht.

Wie sieht so ein normaler Tag auf der Station aus?
Ich denke nicht, dass ich einen normalen Tag hatte, aber Stück für Stück wird es zur Routine. Das Essen wird nach einem bestimmten Zeitplan selbst gemacht, jeder tut, was für ihn funktioniert. Bisher haben wir die meiste Zeit damit verbracht, die Feinheiten des Experiments kennen zu lernen. Ich zum Beispiel bin in der Brandschutzeinheit, wir treffen uns einmal pro Woche. Nach dem Essen schauen die Leute Filme, spielen Fußball, Basketball oder Volleyball, besuchen Tanzkurse oder Üben im Musikzimmer. Wenn ich etwas Zeit finde, laufe ich auf dem Laufband oder draußen. Was die Hygiene betrifft, so dürfen wir zweimal zwei Minuten pro Woche duschen. Da ich drei Tage die Woche laufe, habe ich dafür gesorgt, diese vier Minuten auf drei Duschen zu verteilen. Aber, um realistisch zu sein, schwitzt man hier bei normaler Aktivität sehr wenig, weil die Luftfeuchtigkeit in der Station bei unter 10% liegt. Das bedeutet, dass wir alle sehr trockene Hände haben. Wir müssen ständig ein Radio bei uns tragen. Neben generellen Nachrichten, wird ein Alarm an das Funkgerät gesendet, wenn es innerhalb des Experiments irgendwelche ernsthaften Probleme gibt. Man muss darauf reagieren, egal zu welcher Uhrzeit. Im Prinzip ist das Experiment wie ein riesiges Tamagotchi.

Auf deiner Facebook-Seite und deinem Blog habe ich gesehen, dass die Leute auf der Base Bingospiele organisieren, Maskenbälle und Zombie-Kurzfilme… Ich bin ziemlich davon beeindruckt, dass es Menschen gibt, die an Zombie-Masken denken, wenn sie für die Antarktis packen.
Hier herrscht eine wahnsinnige Atmosphäre. Die Leute senden Pakete mit Kram und der Großteil davon ist zum Überleben nicht notwendig. Es gibt Räume für Kunst und Handwerk, also können wir das, was wir nicht haben, selbst machen. Zum Beispiel organisieren wir ein Filmfestival und die Leute machen beeindruckende Dinge. Und beim „Around the World“-Rennen an Weihnachten laufen die Leute auch in Kostümen. Das ist Wahnsinn.

Wie sieht es mit Sex aus? Ich stelle es mir echt heiß vor, in der kältesten, isoliertesten menschlichen Siedlung des Planeten jemanden abzuschleppen. Da gab es mal einen Artikel darüber, das tausende Kondome an eine Basis wie eure geschickt wurden.
Um ehrlich zu sein, ist mein Liebesleben noch genauso, wie es in Spanien war. Und das war nicht existent. Aber was das Abschleppen betrifft, das mache die Leute hier schon. In jedem Badezimmer gibt es ein Körbchen mit kostenlosen Kondomen, das ziemlich oft aufgefüllt werden muss. Sie sagen „Was am Südpol passiert, bleibt am Südpol.“