Letzte Woche habe ich mehrmals geweint, aber ehrlich gesagt am längsten und am innigsten als ich zum ersten Mal „Teil vomne Ganze“ gehört habe. Das liegt vielleicht auch einfach daran, dass ich ein Pathos-Heuler bin, der auf filmische Soundwände abfährt—als Kind kamen mir bei der William Wallace-Rede in Braveheart die Tränen—und noch viel mehr daran, dass die vergangene Woche recht viel Granit aus dem Steinbruch der Hoffnung (was für Pathos! Werde ich den jetzt nicht mehr los?) abgetragen hat.
Vor der vergangenen Woche habe ich dieses Jahr kaum je geweint. Als dann aber Herr Sarkozy am Samstagmorgen vom losgetretenen totalen Krieg schwadroniert und der unpäpstlichste Papst aller Zeiten mal kurz vom Dritten Weltkrieg gesprochen hat, hat das ein paar Dämme gebrochen. Und als ich dann am folgenden Freitagmittag einen Link zum neuen Greis-Album, den ich eigentlich nicht hätte haben dürfen, erhielt, gab mir das einen Grund zum Glücks-Weinen, Renitenz-Weinen, Widerstands-Weinen:
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„i bi nes ching vo däm land, bines lokauprodukt,/i weis wohär i ga, i weis o gnau wohär i chum…“
Nach dem Optimismus-Schunkler „Teil vo dr Lösig“ (Greis II) und der Absturz-Antwort „Teil vom Problem“ (Greis III) erzählt „Teil vomne Ganze“ auf dem neuen Album „Hünd i parkierte Outos“ eine Gegengeschichte. Eine Gegengeschichte der Gartenhag-Schweiz, eine Gegen-Hymne zu dem ewigen Morgenrots-Gesülze. Und wie es mit Hymnen so ist, wird ein „Wir“ besungen. (bzw. ein „Mer“, man spricht ja Bärndütsch. Meine Güte, wahrscheinlich hat mir Greis den Bärndüütsch-Fetisch eingebrockt. Sorry, an die betroffenen Frauen: Es war sicher mehr als der Dialekt.)
„i bi stouz uf üsi gschicht, üse wäg/mer si d s viufäutigste land wo’s git uf de wäut/wüu mer dä wäg o nie alei ggange si“
Meinem verblichenen Geschichtsstudenten-Ich gefällt das alles nicht: Es gibt nicht DIE Geschichte. Und eine Idealisierung von 1848 ist auch dämlich, ein Jahr davor war Bürgerkrieg (wenn auch mit „nur“ 300 Toten). Meinem Kulturbürger-Ich gefällt das auch nicht: Zu „graduus“, zu schweizerisch, zu plump. Meinem ewig pubertären Ich schon gar nicht: Die Schweiz als offenstes Land der Welt? Die Schweiz überhaupt, braucht es die? Und braucht dieses Land dieses Lied?
Meine Tränendrüsen haben die Antwort schon gegeben: JA! Und die Dauerschleife, die mich durch einen grauen Samstag begleitet, erneuert sie: Fuck nochmals, jaaa! Wie es bei Hymnen so ist, singt man bei „Teil vomne Ganze“ auch die Passagen mit, die man hinterfragt. Das geht in diesen Tagen wohl auch dem einen oder anderen Franzosen bei „Aux armes les citoyens!“ so, aber es ist eine Hymne! „Mer“, die irgendwie junge, irgendwie linke, irgendwie urbane Schweiz hatte bisher keine. Keine würdige Hymne.
„Teil vomne Ganze“ ist eine Hymne, die in 4 Minuten und 47 Sekunden daran erinnert, dass Swatch von einer libanesischen Familie begründet wurde und diese Familie Hayek die schweizerischste Marke schlechthin geschaffen hat (zumindest für japanische Touristen und von denen gibt es viele). Eine Hymne, die in 4 Minuten 47 daran erinnert, dass die Schweiz vor 200irgendwas und nicht vor 700irgendwas Jahren entstanden ist. Dass davor vor allem Söldner als „Schweizer“ bekannt waren. Dass davor Schweizer Orte andere Schweizer Gegenden beherrscht und kolonisiert hatten. Dass die Schweiz, die 1848-Schweiz, eine Entscheidung ist. Und an der dürfen alle teilhaben, denn in 4 Minuten 47 rappt Greis auch:
„frag di ob migration für üsi wirtschaft schlächt sig:/i 30 jahr si 2/3 vo de schwyzer über 60gi/mau luege wies denn usgseht wemer gränze schliesse/ob die pensionierte dr lade schmeisse u d’ränte fliesse“
Und weil das alles so wahr ist und weil dieser Track den Kampf aufnimmt, habe ich von Minute 00:30 bis über Minute 04:47 hinaus geheult. Am Schreibtisch. Im Büro. Ich habe den Link, den ich nicht hätte haben dürfen, an zehn Leute geschickt (Sorry, Greis!), unter anderen auch an Hanna Bay, Vizepräsidentin der JUSO Schweiz. Und im Chat-Fenster erinnerten wir uns gemeinsam daran, was frühere Greis-Tracks ausgelöst hatten. Nicht nur die „Teil vo…“-Reihe. „Global“ haben wir gekräht, an jeder Demo, ob 1. Mai-Umzug oder Bleiberechtsaktion. Oder „Ferdinand I-IV“ über die Schweizer Spanienkämpfer—No pasaran!
Mann, wie oft mir das Energie gegeben hatte, in meinem Kellerzimmer im oberen Wynental. Alleine in meiner Oberstufenklasse betrieben zwei Leute Nazi-Homepages. Natürlich: Die Musik von Greis hatte nie eine Volksbewegung ausgelöst, aber die Hymnen, die Geschichten, flössten und flössen meinem halben Umfeld Instant-Idealismus ein und drum werden sie jetzt Sozialarbeiter statt Bankkundenberater, Konsumentenschützer statt Konzernanwalt.
Am Abend nach der Wahl von Eveline Widmer-Schlumpf in den Bundesrat rief Greis im KiFF „EWS! EWS! EWS!“ und ich war nicht der einzige, der das blöd fand. Aber trotzdem nehme ich seine Ansagen und seine Texte ernst und sie gehen immer noch—langsam bin ich doch weit entfernt vom Teeniealter—direkt rein. Weil Greis eben nicht nur Durchhalteparolen und Hymnen rappt, weil immer wieder Tracks dazwischen grätschen, die zeigen, an was der Herr Vuilleumier so zweifelt. „Victory Gin“! („Greis I“) Über die heuchlerisch faule Linke—das erste Mal verstand ich, weshalb „Gutmensch“ manchmal eine berechtigte Beleidigung ist. Oder „Klarheitsmomänt“ („Greis III“), die Sehnsucht nach einer Depressionsdiagnose, die die eigene Traurigkeit erklären könnte.
Aber „Klarheitsmomänt“ ist nicht nur Gejammer, sondern auch der Song, der mir nach so manchem besoffenen Abend die Energie gab, das existenzielle „Ich bin so allein auf der Welt“-Gefühl produktiv umzusetzen—und sei es in einer Kurzgeschichte, die im Suizid des Protagonisten mündet. Greis litt und Greis leidet. Und wenn er nicht leiden würde, könnten wir seine Kampfansagen nicht ernst nehmen. Und deshalb ist nicht alles „Teil vom Ganze“-Optimismus:
„aues wo mir/teile hie/geit verby/aues wo mir/boue hie/spüelet’s wägg/und geit verloren ir zyt/tuusigi cho/ir glyche minute wini/tuusigi renne scho widr devo/finde dr fride wo si hei becho“
(„1000“—Hünd i parkierte Outos)
Und obwohl mir der Facebook-Algorithmus vor zwei Wochen einen Status von 2012 angezeigt hat—„Irgendwann wird jeder zu alt, um an Greis-Konzerte zu gehen!“—, treibt es mich nächsten Freitag an die Show ins Exil.
„chum säg mer wäg was, bini itz wäri bi/lug wäri itz angers, wäri chly anders oder glych glych/lug säg mer wäg was, bini itz wär i bi/säg wäri nid ig, wär i nid ig?“
(„Weni denn“—Hünd i parkierte Outos).
Wäre ich gleich wütend, wenn ich nie „Global“ gehört hätte? Hätte ich gleich oft morgens um 4 Uhr noch losgetippt, wenn ich im Zug nach Hause nicht von „Alarma“ angestachelt worden wäre?
Ich muss einfach ins Exil am nächsten Freitag. Ganz so sicher, ob wir wie früher ein gemeinschaftliches Dosenbier-Lager irgendwo hinter einem LKW-Anhänger anlegen, sind wir uns in der Whatsapp-Gruppe „Greis 5“ (hat ein alter Freund schon vor 10 Tagen gegründet) noch nicht. Aber wir brauchen sie, die Musik von Grégoire Vuilleumier. „Jetzt ganz besonders“, sagt auch ein gewisser Oltner Club-Besitzer, bei dem ich am 13. November den ersten Schock über die Anschläge in Paris in bis oben mit Wodka gefüllten Gläsern ertränken durfte.
Wir brauchen Biere, Shows, Ausraster, Flirtanlässe, um Panikmachern und Überwachungsfans zu zeigen, was Freiheit eigentlich heisst. Wir brauchen aber auch jemanden, der uns Geschichten gibt, für die wir eintreten wollen. Greis makes a difference. Und ich hoffe, dass es in Männedorf, Ostermundigen, Spreitenbach, Willisau, im unsäglichen Reinach AG und sonst wo auch 2015 noch Vierzehnjährige gibt, die nicht auf ihr Maul hocken können, von Winkelried das Kotzen bekommen, ihre Probleme mit diesem Land haben und denen Greis aus dem belanglosen Komposthaufen namens „Popkultur“ entgegensingt (so ganz ist „Hünd i parkierte Outos“ ja nicht das versprochene Rap-Album). Bis sie alt genug sind, um an Demos „Global“ mitzurappen.
Am 27.11. spielt Greis im Exil in Zürich und danach in Bern, Biel, Basel und Baden. Mehr dazu und überhaupt zum Hymnenschreiber findet ihr auf Facebook und Twitter.
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