Ausverkaufte Arenen, große Shows mit Tänzern und Regenbecken, Glitzerjumpsuits und tausende junge Mädchen in den ersten Reihen – nein, es geht nicht um Beyoncé oder Taylor Swift, sondern um die neue Riege des deutschen Schlagers. Helene Fischer und Vanessa Mai sind zwei der größten deutschsprachigen Popstars, und das, obwohl sie Schlager singen. Oder gerade deswegen?
Nicht nur an Karneval oder zu Oktoberfest-Zeiten singen Menschenmassen deutschsprachige Schlagerhits mit. Fischer und Mai touren das ganze Jahr über bundesweit durch Stadien und Arenen. Auf Instagram haben sie über 400.000 und knapp 300.000 Fans, ihre Alben erreichen regelmäßig Gold- und Platinstatus. Schlager ist seit Jahrzehnten ein großes Geschäft, vor allem, wegen der vielen älteren Fans, die Stars wie Andrea Berg oder Florian Silbereisen lieben. Doch bei Helene Fischer und Vanessa Mai wird schnell klar: Das hat nichts mehr mit den altbackenen volkstümlichen Hitparaden zu tun, die allen unter 60-Jährigen Schauer über den Rücken jagen. Guckt man die mit beruhigender Verlässlichkeit wiederkehrenden Schlagersendungen im Fernsehen, sieht man auch viele jüngere Fans. Stylische Mädchen mit pinken Haaren, die so auch Rihanna oder YouTube-Stars wie Dagi Bee zujubeln könnten.
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Jung, weiblich und modern sind Schlager-Fans heute – und so viele, dass sich sogar schon die Wissenschaft mit dem Phänomen beschäftigt. An der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover gibt es am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung (IJK) ein eigenes Seminar, das die Faszination junger Menschen mit Helene Fischer erforscht.
“Wenn wir in 80 Jahren die Geschichte der Renaissance des deutschen Schlagers schreiben, dann wird das erste Kapitel Helene Fischer gehören”, sagt Professor Helmut Scherer vom IJK zu Broadly. Er bot das Seminar an, weil er – trotz Dauerpräsenz des Schlagerstars in den Medien – eigentlich so gut wie nichts über die Sängerin und ihre Fangemeinde wusste. “Unter Studenten wird schon mal Schlager auf der Party gespielt, aber alle Teilnehmenden im Seminar haben immer wieder betont, dass sie Helene Fischer eigentlich nicht mögen”, so der Medienforscher. Trotzdem war die Sängerin plötzlich überall. In der Analyse stellte sich heraus, dass gerade junge Mädchen und Frauen leidenschaftliche Fans sind.
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So wie Nicky*. Sie ist 16 Jahre alt und seit mehr als zwei Jahren Helene-Fischer-Fan. Schlager-Fan wurde sie eher zufällig: Auf Faschingspartys von Freunden liefen die bekannten Hits wie “Atemlos”, sie hörte die Lieder immer wieder, um mitsingen zu können, sie gefielen ihr, irgendwann war sie Fan. Neben Fischer hört Nicky auch Schlagerstars wie Vanessa Mai, Klubbb3 oder Mia Julia – und deutschen wie englischen Rap. “Bei Schlager geht es oft um Liebe und Herzschmerz”, sagt die Schülerin zu Broadly. “Dadurch, dass Helene Fischer auf Deutsch singt, ist es anders für mich als bei englischsprachigen Sängerinnen.” Die Texte fühlten sich realer, authentischer an.
Doch die Schülerin war nicht immer so begeistert von deutschsprachiger Musik. Nicky erzählt von ihrer Schwester, die früher die Killerpilze gehört habe. “Damals fand ich das total schlimm, weil es auf deutsch und deswegen uncool war”, sagt sie. “Aber in unserer Generation hören viel mehr Menschen Schlager als früher. Das macht schon einen großen Unterschied.”
Eine der Schlagersängerinnen, die von jungen Mädchen bejubelt werden, ist Vanessa Mai. Die 25-Jährige wurde dem deutschen Mainstream als Jurorin bei Deutschland sucht den Superstar bekannt. Sie hat eine eigene Erklärung dafür, dass so viele junge Frauen lieber Schlager statt Pop hören. “Beyoncé ist für viele Fans unerreichbar. Sie ist zudem mehr als zehn Jahre älter als ich und singt Englisch”, sagt Mai. Auch sie glaubt, dass sich die Fans einfach besser mit jemandem identifizieren können, der ihre Sprache spricht. Außerdem: “Wo ist heute der gravierende Unterschied zwischen Pop und Schlager?” Die Stile gingen immer mehr ineinander über, findet Mai, eine strikte Trennung wie vor 30 Jahren – hier altbackener deutscher Schlager, da anspruchsvoller Pop – gebe es nicht mehr.
Professor Scherer gibt dem Schlagerstar Recht: Die sehr deutsche Eigenart des elitären Musikgeschmacks breche langsam auf. “Bei englischen Texten merkt man oft nicht, wie blöd die sind. Bei deutschen Texten kann man das nicht ignorieren”, so Scherer. Durch die gesteigerte Qualität des neuen Schlagers von Stars wie Fischer oder Mai falle diese Hürde jedoch für jüngere Generationen weg. “Man kann das anders genießen, als bei englischsprachigen Texten, die man nicht versteht und die auch nichts mit der eigenen Lebensrealität zu tun haben.” Dass junge Schlagersängerinnen moderner seien als ihre Vorgängerinnen und Vorgänger, sei eine regelrechte “Erlösung für die jungen Mädchen, die sich nicht mehr schämen müssen, das zu hören”.
Für die Fans gibt’s Instagram-Likes statt Autogrammkarten.
Für Jule Scheper zeichnet sich da ein allgemeiner Trend ab. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am IJK begleitet das Helene-Fischer-Seminar und hat eine Umfrage betreut, bei der das Fanverhalten junger Schlagerstars erforscht wurde. Gegenüber Broadly sagt sie: “Bei der Jugend bis Mitte 20 gibt es eine Tendenz, wieder offen und gerne deutschsprachige Musik zu hören.” Gerade junge Frauen, die mitten in der Persönlichkeitsentwicklung stünden, würden leidenschaftlich gerne Sängerinnen wie Helene Fischer hören. “Die stärksten Motive sind die Ästhetik, Unterhaltung und Identität. Für diese Fangruppe stellt Helene Fischer eindeutig ein Mittelpunkt in ihrem Leben dar – eine beste Freundin, ein Idol, das bei der Identitätsbildung im jungen Alter noch sehr helfen kann”, erklärt sie. Und: “Man kann schneller mitsingen. Das ist natürlich ein großer Vorteil”, ergänzt Professor Scherer.
Dem Wissenschaftler zufolge gibt es sogar einen unerwarteten Zusammenhang des Erfolgs deutschsprachiger Musik – mit Fußball. Das “Sommermärchen” 2006 und der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 2014 hätten dafür gesorgt, dass Nationalstolz in Deutschland wieder salonfähiger geworden sei. “Das kann natürlich auch dazu führen, sich wieder mehr zu deutscher Musik zu bekennen. Helene Fischer kam da in ein Lebensgefühl hinein, wo man deutsche Texte, aber auch ganz generell die deutsche Identität, für akzeptabler hielt.”
Und wie passen da die jungen Fans rein? Wo Schlager früher bedeutete, dass mittelalte Frauen und Männer auf der Alm über Heimat sangen, repräsentiert die neue Riege Schlagerstars ein anderes Lebensgefühl. Glamouröser, zeitgemäßer. “Wir ziehen durch die Straßen und die Clubs dieser Stadt / Das ist unsre’ Nacht, wie für uns beide gemacht” singt Helene Fischer in “Atemlos”. In “Nie wieder” säuselt Vanessa Mai “Ich gebe dir Zeichen, du weißt was ich meine / Ich lege meine Hand jetzt nur noch in deine” über elektronisch anmutende Beats. Statt Piefigkeit geht es um Zusammengehörigkeit und Geborgenheit, eine recht lose Definition des Heimatbegriffs – und eine recht moderne. Für die Fans gibt’s Instagram-Likes statt Autogrammkarten.
Gerade Vanessa Mai betreut erfolgreich eine große Fangemeinde auf Instagram. Dort teilt sie immer wieder Selfies ihrer Fans und sucht in den gängigen Hashtags wie #maiteam, #maistalking oder #maiteamisstrong nach Bildern, die sie liken und reposten kann. Carolin* ist 16 Jahre alt und großer Mai-Fan. Sie besitzt ein eigens auf Vanessa Mai zugeschnittenes Profil und teilt und kommentiert täglich Inhalte der Sängerin.
“Das ist ein Quantensprung gegenüber damals, als man ‘Bravo’ gelesen hat und seinem Star vielleicht mal auf dem Konzert begegnete.”
“Angefangen hat alles mit DSDS. Sie war mir sehr sympathisch, deshalb habe ich dann einfach mal ein paar ihrer Lieder gehört”, sagt Carolin. Die 16-Jährige mag, was sie hört, seitdem ist ihr Vanessa Mai immer wichtiger geworden. Neben der Tatsache, dass Carolin gerne deutschsprachige Musik hört, bedeutet ihr gerade die gefühlte Nähe des Schlagerstars zu ihren Fans viel. “Sie versucht, uns Fans ganz nah zu sein. Es fasziniert mich einfach, dass sie so viele Menschen mit so kleinen Dingen glücklich machen kann, selbst wenn es nur ein Lächeln ist.” Der Fankontakt ist gerade im Schlager immens wichtig.
“Man darf den Schlagersänger nicht als unnahbare künstlerische Persönlichkeit inszenieren, wie das in anderen Bereichen geht”, sagt Helmut Scherer. “Star sein, heißt ein Geheimnis haben” träfe zwar noch in der Popularmusik, aber nicht im Schlager zu. Authentisch und greifbar müssten die Schlagersängerinnen sein, schließlich kokettieren sie mit dem Image des “Mädchens von Nebenan”. Als der schweizerische Schlagersängerin und DSDS-Gewinnerin Beatrice Egli letztes Jahr nachgesagt wurde, sich nach ihren Shows nicht genügend um ihre Fans zu kümmern, sorgte das wochenlang für Negativ-Schlagzeilen.
Helene Fischer hingegen schrieb gleich mehrere lange Posts an ihre Fans, als ihre Konzerte aufgrund von Krankheit im Februar ausfielen; Vanessa Mai liket sich regelmäßig durch die Posts ihrer Fans, kommentiert und schreibt manchen Fans auf WhatsApp. Carolin sagt, dass sie gerade das so an ihrem Idol möge: “Sie liest und beantwortet alle Fanbriefe selbst. Sie liebt alle ihre Fans und zeigt das jeden Tag.”
Ob Vanessa Mai wirklich alles selbst liest, ist natürlich nicht nachprüfbar. Die Sängerin selbst betont allerdings, wie wichtig ihr diese vermeintliche Nähe sei: “Wir sind heute ja multimedial mit den Fans verbunden, über unsere Konzerte, die Alben, die sozialen Netzwerke”, sagt Vanessa Mai. “Das ist ein Quantensprung gegenüber damals, als man Bravo gelesen hat und seinem Star vielleicht mal auf dem Konzert begegnete.” Nach den Konzerten stehe sie häufig zwei, drei Stunden bei ihren Fans, schreibe Autogramme und mache Selfies.
Diese Verbundenheit füttert die Sehnsucht nach Zugehörigkeit – wie bei vielen jungen Fans anderer Stars auch. Über Social Media finden die Fans Anschluss, Nähe und Geborgenheit. Dinge, die schlussendlich eben auch ein Gefühl von Heimat ausmachen. Und das ist vielleicht das Wichtigste, was Menschen mit Schlager verbinden – egal, wie banal es klingt.
*Namen wurden geändert