“Ich weiß, das wird jetzt zwar aufgenommen, aber anders kann ich es nicht ausdrücken: Erdoğan leidet ganz offensichtlich an psychischen Problemen.”
Bilal Baltaci war es als junger Journalist nie gewohnt, mit Kritik gegenüber dem türkischen Machthaber zu sparen. In diesen Tagen wählt aber auch er seine Worte mit etwas mehr Vorsicht.
Über ein Jahr lang arbeitete der 24-Jährige als Redakteur für den Österreich-Ableger der türkischen Zeitung Zaman, war wöchentlich quasi allein für 9 Seiten politischer Berichterstattung in deutscher Sprache verantwortlich. Anfang März wurde das Mutterblatt in der Türkei dann kalt gestellt.
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Polizisten stürmten das Redaktionsgebäude und gingen mit Tränengas gegen Protestierende vor. Chefredakteur Bilici wurde gefeuert, die Zeitung, die bis dahin die auflagenstärkste des Landes war, unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt. Der Grund: Zaman galt als eines der letzten großen regimekritischen Medien—und vor allem als Sprachrohr der sogenannten Gülen-Bewegung, die von Erdoğan nun für den jüngsten Putschversuch verantwortlich gemacht wird.
“Überrascht hat uns dieses Vorgehen hier in Wien damals nicht”, meint Bilal in perfektem Deutsch und dezentem Tiroler Akzent. “Eigentlich hatte ich schon viel früher damit gerechnet.” Schon als er im Mai 2015 bei Zaman Österreich anfing, habe es finanzielle Schwierigkeiten gegeben. Neben den Abonnements war man stets auf Spenden der lokalen Anhängerschaft angewiesen, die im Gegensatz zur Türkei in der Regel keine besonders wohlhabenden Leute wären. Dazu kämen die Inserate. Der Druck auf Spender und Inserenten stieg kontinuierlich.
“Ich erinnere mich, als Ende letzten Jahres eine bosnische Firma bei uns Anzeigen schalten wollte. Kurz darauf kam der Anruf, dass sie das doch lieber bleiben lassen. Eine türkischstämmiges Unternehmen hatte angedroht, in dem Falle die Geschäftsbeziehungen mit der Firma abzubrechen”, sagt Bilal.
Wie realistisch sind die Verschwörungstheorien rund um den Putsch in der Türkei?
Zaman erscheint zwar auch heute noch in der Türkei, berichtet jedoch gänzlich auf Regierungslinie. Schon zwei Tage nach dem Übergriff im März und der Absetzung der unliebsamen Redaktionsbelegschaft, strahlte Präsident Erdoğan von der Titelseite, unterlegt mit wohlwollenden Schlagzeilen. Für Zaman Österreich sind die türkischen Seiten, die man bis dahin aus Istanbul bezog, seither unbrauchbar. Man sucht sie sich nun aus anderen Publikationen versprengter Gülen-Journalisten zusammen.
Zum Gülen-Netzwerk war er gestoßen, als er sich nach der HTL in Tirol dazu entschloss, in Wien Publizistik und Soziologie zu studieren. “Wenn du als Migrant, vor allem als türkischstämmiger, an höherer Bildung interessiert bist, kommst du da recht schnell mit den Leuten in Kontakt”, meint er heute. So bezog er eine von zirka zehn WGs, sogenannten “Lichthäusern”, die die Bewegung für junge Studierende in Wien zur Verfügung stellt. Daneben unterhält die Bewegung hierzulande Nachhilfeschulen, ein Realgymnasium in Favoriten, sowie das “Friede”-Bildungsinstitut im ersten Bezirk.
Sekte, Terror, Islamismus – die Vorwürfe an die Gülen-Anhänger sind vielfältig
Wer also ist diese Bewegung, deren internationale Verbreitung auch Bilal Baltaci schon fast als “Imperium” bezeichnet? Und was genau sind ihre Ziele?
Geht man nach dem türkischen Machthaber, haben sich die Gülen-Anhänger über die Jahre zu einer terroristischen Bewegung verschworen, deren Mitglieder die Polizei, die Justiz und das Militär unterwandert haben, um die Regierung—so wie es nun gewesen sein soll—auf undemokratischem Wege zu stürzen.
Für Erdoğan die günstigste aller Gelegenheiten, endgültig gegen sie vorzugehen. In einer Säuberungswelle von absurdem Ausmaß wurden bisher rund 60.000 Personen suspendiert, verhaftet oder entlassen, die auch nur irgendwie im Verdacht stehen, mit den Ideen Gülens, ergo den Putschisten, zu sympathisieren. Darunter tausende Militärs, Richter, Staatsanwälte, aber auch Professoren und Journalisten. Hunderte Schulen wurden geschlossen, etliche weitere Medien dicht gemacht. Erst vergangene Woche wurde Haftbefehle gegen 42 ehemalige Zaman-Journalisten ausgestellt.
Aber nicht nur die AKP-Führung steht der Bewegung feindselig gegenüber, auch die Opposition betrachtet das Netzwerk kritisch. 2011 befand sich etwa der bekannte Investigativjournalist Ahmet Şik in Recherchen für ein Buch, das den Titel Die Armee des Imams tragen sollte und die vermeintliche Unterwanderung des türkischen Staates zum Aufdecker-Thema machte. Noch vor Veröffentlichung wurde Şik festgenommen und ein Jahr lang in U-Haft gesteckt. In einem Interview mit der NZZ sprach er zuletzt von einer “ironischen Wendung” in den jüngsten Entwicklungen, während der Redakteur ganz beiläufig die Bewegung als “Sekte” bezeichnete. Politikwissenschafter Thomas Schmidinger wiederum beschrieb im Kurier die Ziele des Netzwerks als “machtorientiert”, sie “züchte künftige Eliten heran.”
“Gülen und Erdoğan waren nie Verbündete. Erdoğan kommt aus dem politischen Islam, Gülen war immer für Trennung von Politik und Religion.”
Gülen, das ist zunächst einmal die Person des islamischen Predigers Fethullah Gülen, der ab den 1960er-Jahren als staatlicher Imam in der Türkei tätig war und in den folgenden Jahrzehnten durch sein rhetorisches Talent immer mehr an Popularität gewann. Spätestens ab den 1990ern engagierte sich der Prediger dann auch intensiv im Bildungsbereich, investierte in die Gründung von Schulen und Universitäten, von denen es bis heute von Pakistan über den Kaukasus und Bosnien bis in die USA Tausende gibt. Seit 1999 lebt Gülen selbst in Pennsylvania im Exil, da er schon unter den damals regierenden Kemalisten eines geplanten Staatsstreichs beschuldigt wurde.
Nachdem Erdoğan und die neugegründete AKP 2003 an die Macht kamen, arrangierte man sich mit den Gülen-Anhängern. Sie hätten die fähigen, gut ausgebildeten Leute gehabt, die Erdoğan für den neuen, post-kemalistischen Staatsapparat gebraucht hatte, ist sich Journalist Bilal Baltaci sicher. Und er ist überzeugt: “Gülen und Erdoğan waren nie wirkliche Verbündete. Erdoğan kommt aus dem politischen Islam, aus der Milli-Görüş-Bewegung, deren einstiger Führer Erbakan sich ebenfalls nie mit Gülen verstanden hat. Gülen war immer für eine Trennung von Politik und Religion.”
Die Meinungen sind allerdings darüber geteilt, welchen Islam jedoch die Gülen-Bewegung vertrete. Es gibt Vorwürfe, nach denen sich Gülen in letzter Konsequenz nach der Scharia sehne; auf der anderen Seite heißt es, das Netzwerk propagiere einen modernen, aufgeklärten Islam, der sich einer intellektuellen Debatte stellt.
“In Wahrheit war Gülen der erste, der gesagt hat: ‘Man kann und soll sich als gläubiger Muslim auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen engagieren, als in den Moscheen’”, meint Ercan Karakoyun. Er ist Vorsitzender der “Stiftung Dialog und Bildung”, dem offiziellen Ansprechpartner von Hizmet (so nennen sich die Gülen-Anhänger selbst) im deutschsprachigen Raum. “In unseren Schulen wird in Wahrheit keinerlei religiöse Lehre vermittelt. Die Schulen sind für die Bildung da und halten sich an die Lehrpläne.”
Wenn man auf die Website der “Stiftung Dialog und Bildung” klickt, erscheint ein großer Banner mit dem Gesicht Fetthullah Gülens und der Aufschrift “Wir verurteilen den Putschversuch in der Türkei aufs Allerschärfste!”, mitsamt einer entsprechenden Pressemitteilung. Karakoyun ist derzeit auch sonst bemüht, das Image seiner Bewegung aufzupolieren, tritt im Fernsehen auf und gibt Radiointerviews.
Dass sich die AKP mit den Gülen-Anhängern verfeindete, sieht Karakoyun in einer Kette von Ereignissen, vor allem aber im zunehmenden autoritären Stil Erdoğans, der mit den Lehren von Gülen nicht vereinbar sei. Schon beim “Ship-to-Gaza”-Vorfall habe man sich überworfen, weil Gülen die Autorität Israels nicht in Frage stellen wollte, wofür die Anhänger der Bewegung auch als “Zionisten” bezeichnet wurden. Dann kamen die Gezi-Proteste, wo Gülen für den Dialog statt für Knüppel eingetreten sei. Letztlich waren es dann die großen Korruptionsfälle und Geheimdienstaffären, “Vorschlaghammer” und “Ergenekon”, in denen sich Staatsanwälte unliebsam gegenüber dem AKP-Machtzirkel verhalten hätten, was schließlich zur offenen Verfolgung ab 2013 führte.
“Bei meiner letzten Ausreise wurde mir gesagt: Du kommst nie wieder rein!”
Karakoyun übt aber auch Selbstkritik, vor allem an die Kollegen in der Türkei. “Ja, auch sie müssen demokratische Spielregeln zum Teil erst lernen.” Das hänge aber auch mit den unterschiedlichen politischen Systemen zusammen, in denen man—hier in Europa und eben in der Türkei—sozialisiert ist. Zur Verhaftung von Ahmed Şik und seinem kritischen Buch über die Gülen-Bewegung im Jahr 2011 sagt er: “Ich weiß natürlich nicht, wer dahinter steckt. Ich weiß nur, was Fethullah Gülen selbst dazu gesagt hat, nämlich dass niemand aufgrund dessen, was er schreibt, ins Gefängnis sollte. Hier haben unsere Freunde in der Türkei aber sicher nicht gut reagiert. Man hätte sich, etwa bei Zaman, mit Ahmet Şik solidarisieren sollen. Ich selbst hab sein Manuskript, auch wenn es sich gegen meine Bewegung richtet, damals als Zeichen auf meine Homepage gestellt.”
Dass nun endgültig eine Art Hexenjagd auf alles, was nur irgendwie mit Gülen zu tun hat, stattfinde, habe natürlich eine neue Qualität. Er selbst kommuniziere nicht mehr mit Leuten in der Türkei, das sei einfach zu gefährlich. Zudem sei er bereits letztes Jahr mit einem Einreiseverbot belegt worden. “Ich wurde an der Grenze drei Stunden festgehalten. Offenbar hat man mitbekommen, was ich im Land auf Twitter oder Facebook so geschrieben habe. Man hat mir dann gesagt: Du kommst nie wieder rein.”
Übergriffe, Drohungen und Denunziationen auch in Österreich
Wenige Stunden nach den ersten Meldungen über den Putschversuch hatte Erdoğan bereits den Schuldigen für das Geschehen ausgemacht: es handele sich um FETÖ—die Bezeichnung, die die AKP der angeblich terroristischen Gülen-Bewegung gegeben hat. Die österreichische UETD, also die Interessenvertretung der AKP im Ausland, verbreitete diese Meinung ebenfalls unmittelbar danach auf Facebook.
Daneben rief man dazu auf, “kriminelle und terroristische Aktivitäten” in den sozialen Medien unmittelbar dem türkischen Informationsministerium mitzuteilen. UETD-Verbände, wie auch türkische Nachrichtenportale in Wien riefen zur Denunziation angeblicher Gülen-Anhänger auf.
Einer Aufforderung, der auch nachgekommen wurde. Ein Erdogan-Fan aus Salzburg etwa gab stolz an, bereits 37 seiner Facebook-Freunde gemeldet zu haben. Sie werden “an ihn denken, wenn sie die Grenze überschreiten”.
Der Wunsch nach der Todesstrafe fand recht bald auch hierzulande Zuspruch. Ein Mann aus Tirol, der im Übrigen für die Caritas tätig ist, sprach sich dafür aus, die verantwortlichen Gülen-Anhänger zu hängen.
Für besonders viel Aufregung sorgte wiederum der Eintrag eines Mannes aus Deutschland, der davon fantasierte, im “Blut der FETÖ-Anhänger zu baden.” Nach wie vor ist das Facebook Posting öffentlich einsehbar.
Die Aggression auf die “Feinde des Volkes” beschränkte sich aber nicht nur auf die sozialen Netzwerke. Schon einen Tag nach dem Putschversuch demonstrierten AKP-Anhänger in Wien gemeinsam mit einem vermeintlichen Links-Bündnis. Es kam dabei auch zu einem Übergriff auf das kurdisch-geführte Lokal Türkis. Wenig später wurde dann das Gülen-nahe “Phönix”-Realgymnasium in Wien Favoriten mit Steinen beworfen. Mehrere Anzeigen sind anhängig. Entwicklungen, die man mit Sorge beobachtet—und wegen denen natürlich auch bereits entsprechend ermittelt wird, heißt es von Innenministeriumssprecher Karl-Heinz Grundböck. Die Gülen-Bewegung stehe in Österreich jedenfalls nicht unter Beobachtung.
Letzten Endes zeigt sich, so ist sich Journalist Bilal Baltaci sicher, bei den Übergriffen gegen seine Gesinnungsgemeinschaft einmal mehr, dass das Hauptproblem bei der mangelnden Bildung liege. “Ich war selbst ultra-konservativ, aber die Bildung hat mir Respekt und Toleranz beigebracht. Gläubig bin ich aber immer noch.”
In der Türkei seien die Intellektuellen vor allem im linken Spektrum anzusiedeln, so der 24-Jährige. Diese könnten das Dilemma im Land aber alleine nicht lösen. “Die Menschen in der Türkei sind meiner Meinung nach zu etwa 80 Prozent konservativ und gläubig. Die einzig Gebildeten aus diesem Teil gehören der Gülen-Bewegung an. Es sind nicht viele, aber gegen sie wird jetzt vorgegangen.” Unter AKP-Anhängern herrsche mittlerweile eine regelrechte Bildungsfeindlichkeit.
Viel Mitschuld an der jetzigen Gesellschaft hätten die 50 Jahre Kemalismus und ein falsch verstandener Säkularismus hinterlassen, der die Religion lange diskriminiert hätte. “Deshalb klammern sich die Leute heute so an Erdoğan und wollen ihn nicht mehr loslassen.”
Thomas bei Twitter: @t_moonshine