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suizid

Wie das Leben weitergeht, wenn sich ein naher Verwandter umbringt – Betroffene erzählen

"Ich kann auf mich selbst aufpassen", sagte er. Es waren seine letzten Worte. Er hat sich nicht verabschiedet.

Marie, 19, Psychologiestudentin in Berlin | Alle Fotos: Lisa Ziegler

100.000 bis 150.000 Selbstmordversuche, 10.000 Tote: so die erschreckende Suizid-Bilanz jedes Jahr in Deutschland.

Im Alter zwischen 15 und 29 Jahren ist Suizid die zweithäufigste Todesursache. Demnach sterben mehr Menschen durch Selbstmord als durch (Drogen-)Unfälle oder Gewalt. Und jeder Suizid betrifft 6 bis 23 weitere Menschen, die danach häufig selbst auf psychologische Hilfe angewiesen sind, so eine Studie der WHO. Warum schweigen wir dennoch, wenn es um Selbsttötung geht? Ist es Unsicherheit, wie man am besten reagieren soll? Suizid ist kein einfaches, lockeres Gesprächsthema. Wie reden wir mit Hinterbliebenen am besten? Wie offen kann man sie auf die Ursachen für einen Tod ansprechen? Im deutschen Pressekodex heißt es: "Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung." Details über den Tod, Namen oder Bilder sollen nicht veröffentlicht werden. Journalisten möchten Nachahmungstäter vermeiden. Soziologen, Medienwirkungsforscher und Sozialpsychologen haben herausgefunden, dass eine ausgiebige Berichterstattung der Medien über einen Suizid weitere Suizide nach sich ziehen kann. Der Werther-Effekt.

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Auch bei VICE: Auf Patrouille mit Südkoreas Selbstmord-Rettungsteam


Anders aber ist es, wenn man über die Folgen von Suiziden für das Umfeld berichtet. "Wir möchten, dass Selbsttötung entstigmatisiert wird", so eine Sprecherin der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention zu VICE. "Die Betroffenen sind nicht verrückt. Sie müssen sich nicht schämen. Sie haben eine Krankheit, die jeden treffen kann, die aber heilbar ist." Der offene Umgang der Gesellschaft mit Suizid mache es für Betroffene leichter, sich Hilfe zu suchen. "Die Darstellung von Menschen, die weiter machen, kann sogar präventiv wirken." Auch Hinterbliebene wünschen sich, über den Suizid ihrer Angehörigen sprechen zu dürfen. Bei VICE erzählen zwei ihre Geschichte.

Marie, 19, Psychologiestudentin in Berlin: "'Ich kann auf mich selbst aufpassen', sagte mein Vater. Er hat sich nicht verabschiedet."

Meine Eltern haben sich oft gestritten, aber dieser Streit war ihr letzter. Ich lag bereits im Bett, als meine Mutter mein Zimmer betrat. "Warum hast du nicht auf meine Anrufe reagiert?", fragte sie mich. Und dann bat sie mich, zu Papa zu gehen. "Pass du auf ihn auf. Ich kann heute nicht bei ihm schlafen." Es war Freitagabend gegen 21 Uhr. Sie hatte sich gerade von ihm getrennt. Als meine Mutter an diesem 5. Dezember mein Zimmer betrat, war ich nicht überrascht. Ich habe immer zwischen meinen Eltern vermittelt. Gerade zu meinem Vater hatte ich eine enge Bindung. Er kam oft zu mir, um seinen Kummer abzuladen. "Ach Mariechen", sagte er dann. Ich war ein Papa-Kind. Er blieb zu Hause und kümmerte sich um meinen Bruder und mich, holte uns von der Schule ab oder sah sich meine Chor-Aufführungen an. Meine Mutter ging arbeiten. Ich stand also noch einmal auf und lief durch den Garten zu Papa, vorbei am Teich und am Schilf, in dem er später sterben würde. Wir lebten auf einem großen Grundstück am Waldrand in Klein Schönhagen. Auf der anderen Seite des Gartens hatten wir ein zweites, kleineres Häuschen, in dem das Schlafzimmer meiner Eltern war. Es war ebenerdig. Das war besser für meinen Vater, der Probleme mit dem Rücken hatte. Er war schon 60. Mama war seine fünfte Frau. Mein Vater lag im Bett, als ich das Schlafzimmer betrat. Ich legte mich neben ihn. Wir sprachen kaum. Ich konnte in der Dunkelheit neben ihm nicht schlafen, ich war unruhig, hatte ein schlechtes Gefühl. Ich hatte Angst, dass etwas Schlimmes passieren würde: dass er seinen Koffer packen und abhauen würde. Dass er sich umbringt – daran habe ich nicht gedacht. Also sagte ich ihm, dass ich mich nicht wohl fühlte und zurück in mein Zimmer ginge. Er akzeptierte das. "Ich kann auf mich selbst aufpassen", sagte er. Es waren seine letzten Worte. Er hat sich nicht verabschiedet. In meinem Zimmer habe ich sofort einen Freund angerufen und ihm die Situation geschildert. M. hörte mir zu, versuchte, mich zu beruhigen, während mein Vater im anderen Haus seine schicke Jagdbekleidung anzog: ein grüner Anzug mit Stehkragen, aufgestickten Rehen und Hirschen. Dazu trug er ein beiges Hemd. Nur die Mütze, die eigentlich zu dem Anzug gehörte, ließ er weg. In diesem Aufzug verabschiedete er sich von meiner Mutter. Sie verstand sofort, was er vorhatte. Suizid hatte unsere Familie begleitet. Mein Vater verlor mit drei Jahren seine Mutter und auch der Vater meiner Mutter hatte sich erschossen. Papa hatte daher wohl schon lange den Selbstmord für sich als einen Ausweg akzeptiert. Das Bitten meiner Mutter, nicht zu gehen, hielt ihn nicht auf. Mein kleiner 15-jähriger Bruder lief ihm nach, aber mein Vater wollte nicht mit ihm sprechen. Ich telefonierte weiter und hielt mir die Ohren zu, damit ich den Schuss des Gewehrs nicht hören musste. Ich telefonierte noch immer, als meine Mutter mein Zimmer betrat, und mich in den Arm nahm. "Es ist vorbei", sagte sie. Papa hatte sich durch einen Kopfschuss im Schilf das Leben genommen. Ich schrie und schlug meinen Kopf gegen das Fenster. Ich wollte es nicht glauben. Um 5 Uhr morgens war die Polizei mit allen Untersuchungen fertig. Nach dieser Nacht war ich wie taub. Ich spürte nicht mehr, dass ich weinte. Meine Augen waren zugeschwollen. Aber ich machte trotzdem weiter. Am gleichen Tag nahm ich das Handy meines Vaters und rief seine Freunde an, um ihnen zu sagen, was passiert war. Sie sollten es nicht über Dritte erfahren. Am Abend war der Abschlussball meines Bruders und mir. Wir hatten gemeinsam einen Tanzkurs gemacht. Das war immer mein Traum gewesen. Mein Bruder ging mit seiner Freundin zu dem Ball. Ich blieb mit M. zu Hause und bestellte Pizza. Was sollte ich bei dem Ball, wenn mein Vater nicht da war, um mit mir zu tanzen? In der Schule zog ich mich zurück. Ich hielt die Zickenkriege, den Small-Talk auf dem Schulhof nicht mehr aus. Es gab Wichtigeres. Ich stürzte mich in die Schule, wollte fertig werden und aus dem Dorf wegziehen. Ich hatte das Gefühl, das einzige Gesprächsthema zu sein. In Berlin kann ich mit den Menschen über meinen Vater sprechen. Es hilft mir zu erzählen, was passiert ist. Auch mein Umfeld kann dann meine Launen besser einschätzen. An Papas Todestag oder an seinem Geburtstag bin ich labil. Ein falsches Wort, ein falscher Blick kann mich aus der Bahn werfen. Ich habe das Gefühl, nicht zu genügen. Schließlich war ich nicht einmal Motivation genug für meinen Vater zu leben. In schlimmen Momenten zünde ich eine Kerze an und betrachte alte Fotos und Videos. Ich möchte die schönen Momente in Erinnerung behalten. Das hilft mir, die Ereignisse der Nacht zu verdrängen. Ich bin nicht sauer, aber ich vermisse ihn. Er hat nicht mitbekommen, wie ich angefangen habe zu studieren. Ich würde gerne wieder mit ihm reden. Manchmal sehe ich andere Männer in der Bahn, die ihm ähneln. Sie haben seine Handform, oder einen ähnlichen Bart. Fast sind sie wie Papa – fast. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn noch vor mir.

Kerstin, 37, studierte Pädagogin aus Berlin: "Ich ging in die Klinik. Ich wollte an einen Ort, an dem es OK war, dass es mir scheiße ging."

Der Tod meines Bruders hat mich total aus der Bahn geworfen. Ich hatte gerade meinen neuen Job als Studienberaterin angefangen und bin mit meinem damaligen Freund zusammengezogen. Er hatte kurz darauf Geburtstag. Ich war daher in den Arkaden der Schönhauser Allee, einem Einkaufscenter im Prenzlauer Berg, um ihm ein Buch zu kaufen, als mein Handy klingelte. Mein kleiner Bruder sprach zu mir, aber es war, als würden in meinem Kopf nur Hubschrauber landen. Ich hatte das Gefühl, der Boden tut sich unter mir auf. Ein schwarzes Loch unter meinen Füßen. Es war der 16. August 2012. Danach habe ich nur noch funktioniert. In den folgenden drei Wochen habe ich versucht, die Familie zusammenzuhalten. Mein kleiner Bruder war verzweifelt, aber vor allem meine Mutter war kurz davor aufzugeben. Sie ertrug es nicht, erneut mit Suizid konfrontiert zu werden. Ihre Mutter hatte sich 1995 auf Sylt umgebracht. Sie hatte sich eines Nachts einfach ein Taxi bestellt, war zum Strand gefahren und ins Meer gegangen. Es war ein Alters-Suizid. Ich habe in dieser Zeit weiter gearbeitet. Donnerstag starb mein Bruder, Montag saß ich in der Uni und habe Studenten beim Studienwechsel beraten. Heute halte ich das für vollkommen idiotisch, ich war total neben der Spur. Nach Feierabend kümmerte ich mich dann um die Beerdigung, suchte nach Liedern für die Beisetzung. Der Druck in dieser Zeit war so hoch, dass ich keine Zeit hatte zu trauern. Vielleicht habe ich das alles auch deswegen getan – um zu verdrängen. Bei der Beerdigung, an seinem Grab, hielt ich seine kleine Tochter an der Hand. Er hatte zwei Kinder. Sie waren erst vier und sechs Jahre alt. Während wir dort Hand in Hand standen, wurde mir klar: Er wird sie nicht aufwachsen sehen. "Du Arschloch", habe ich gedacht. "Was hast du uns angetan?" Am liebsten hätte ich geschrien. Ich hätte ihn in diesem Moment noch einmal umbringen können. Aber nach außen blieb ich still. In der Nacht fuhren mein Freund und ich nach Hause. Für wenige Sekunden fiel die Lichtanlage auf der Autobahn aus, für wenige Sekunden war es dunkel. Erst da – drei Wochen nach seinem Tod – wurde ich hysterisch. Es war alles geregelt, jetzt war ich dran. Ich fühlte mich hilflos und allein gelassen. Niemand war für mich da, obwohl ich versuchte, alles für Andere zu tun. Ein Selbstmord hat etwas Aggressives, etwas Schmutziges, schließlich beendet ein Mensch gewaltsam sein Leben. Ich hatte das Gefühl, jedem beweisen zu müssen, dass ich nicht so war wie mein Bruder. Aber ich bin fast wahnsinnig geworden. Ich bekam Angst, dass die Welt böse ist. Überall sah ich Gefahr. Ich konnte nicht mehr unter einem Baugerüst durchlaufen. Der Tod war für mich plötzlich so präsent. Die Menschen, mit denen ich redete, konnte nicht damit umgehen, dass ich meinen Bruder durch Suizid verloren hatte. Ein Blick auf den Boden, ein genuscheltes Beileid, ein Schulterklopfen: "Das Leben geht weiter." Ich distanzierte mich immer mehr von meiner Umwelt, zog mich zurück. Dann begannen die Bilder in meinem Kopf. Ich malte mir aus, wie mein Bruder sich betrank, wie er zugedröhnt ins Auto stieg und auf die Kiesgrube zusteuerte. Ich rekonstruierte immer wieder in Gedanken seinen Tod: das aufkommende Auto, den Aufschrei, das Ende. Ich ging in die Klinik. Ich wollte an einen Ort, an dem es OK war, dass es mir scheiße ging. Jetzt kratze ich mich wieder an die Oberfläche. Mein kleiner Sohn hilft mir, er hat viel von Martin. Es wäre schön, wenn Martin hier wäre, neben mir auf dem Holzstuhl in der Küche säße. Seine Witwe schickt mir ab und zu Fotos von den Kindern. Ich bin sehr dankbar, dass ich noch am Leben bin. Das ist ein großes Geschenk. Ich nehme mir jetzt die Zeit, gesund zu werden, und fokussiere mich nicht mehr nur darauf zu funktionieren. Selbsthilfegruppen für Hinterbliebene, wie die AGUS-Gruppe, bieten Angehörigen die Möglichkeit, sich auszutauschen. Sie zeigen den Trauernden, dass sie nicht alleine sind.

Notrufnummern für Suizidgefährdete bieten Hilfe für Personen, die an Selbstmord denken – oder sich Sorgen um einen nahestehenden Menschen machen. Die Nummer der Telefonseelsorge in Deutschland ist: 0800 111 0 111. Hier gibt es auch einen Chat.