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gewalt im fußball

Magdeburg-Fan im Koma—merkt ihr noch was?

Provokationen—gerne; Fahnenklau—gehört zum Spiel; verabredete Schlägereien—wenn's Spaß macht. Doch wenn Unschuldige wie der 25-jährige Hannes aus dem Zug ins Koma gedrängt werden, dann muss die Ultrakultur ihre eigenen Grenzen hinterfragen.
Foto: Facebook

„Kämpfe Hannes", stand am Montag auf einem Banner, das 200 bis 300 Fans des FC Magdeburg vor dem Walther-Friedrich-Krankenhaus aufspannten. Der 25-jährige Hannes muss dort mit schweren Verletzungen noch mindestens zwei Wochen im künstlichen Koma liegen. Am Wochenende stürzte er aus einem fahrenden Regionalzug, nachdem er von einigen Fans des Halleschen FC bedrängt wurde—weil er Fan des FC Magdeburg ist.

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Die laut Polizeisprecher Frank Küssner „große Menge gewaltbereiter und betrunkener Fußballfans des HFC" war auf der Rückreise von ihrem Auswärtsspiel in Köln. Die Täter hätten den Mann anhand seiner Tätowierungen und seines T-Shirts als FCM-Fan erkannt und sollen seine drei Begleiter am nächsten Haltepunkt zum Ausstieg gezwungen haben—Hannes blieb in der Bahn zurück und „wurde körperlich attackiert". „Er hat dann auch selbstständig offensichtlich diesen Notöffnungsmechanismus der Waggontür betätigt und ist dann quasi aus der geöffneten Tür herausgefallen", so Küssner. Die Rettungskräfte fanden den verletzten FCM-Fan erst nach einer Stunde etwa 300 Meter vom Bahnhof entfernt. Was sich genau ereignete, ist aber noch unklar.

Die Beamten konnten bisher 27 Hallenser aus dem Zug ermitteln, doch es seien viel mehr gewesen. Die Bundespolizei erklärte, sie ermittle wegen eines versuchten Tötungsdeliktes—was jedoch am Dienstagnachmittag wieder zurückgezogen wurde. Mittlerweile heißt es von den Beamten, dass Hannes aus der Bahn „gefallen" sei. Ob er nun fiel, geschubst wurde oder gar selbst sprang, scheint beinahe eine untergeordnete Rolle zu spielen: Es wirft genug Fragen auf, dass mehrere Dutzend Fans einen einzigen Mann so weit drängen konnten, dass er wenig später aus dem Zug stürzte und mit schweren Verletzungen neben den Gleisen lag—nur weil er Fan eines anderen Vereins ist.

Woche für Woche treffen Fans verschiedener Vereine vor und nach den Spielen auf Rastplätzen, Bahnhöfen oder in Zügen aufeinander. Zwar sind die Spielpläne schon so konzipiert, dass es im besten Fall nicht zu Begegnungen verhasster Fangruppen kommt, doch in so manchen Ballungsgebieten können Aufeinandertreffen großer regionaler Rivalen nie ausgeschlossen werden. Dass die Rivalität nach einigen Bieren, einer Niederlage oder ermutigt durch die eigene Gruppe mal ausgelebt wird, ist normal. Ein Feindbild, beleidigende Provokationen und böse oder böse Verarschungen gehören definitiv zur Fan- und Fußballkultur dazu—aber Hetzjagden durch einen Zug? Mindestens 27 gegen 1? Der Vorfall von Hannes ist leider Teil einer Entwicklung, die schon länger von Teilen der Fan- und Ultraszenen gelebt und ausgereizt wird.

Einige Fans und Ultras können nicht mehr zwischen gesunder Rivalität und kopflosen Gewaltangriffen auf Einzelpersonen differenzieren. Zudem scheinen sie auch nicht zwischen Ultras anderer Vereine und Normalo-Fans unterscheiden zu wollen. Ob das Rastplatzangriffe von Ultras mit Eisenstangen auf normale Fanbusse, Autobahnverfolgungen oder ein lebensgefährlicher Fäkalienangriff auf eine Fan-Schifffahrt sind. Einige Mitglieder der Ultrakultur scheinen einige Grenzen nicht mehr wahrnehmen zu wollen. Auf der einen Seite einigen sich Ultras stillschweigend, dass der Diebstahl von Schals und Zaunfahnen zur Ultrakultur gehört, trotzdem werden auch immer wieder Schals von Fanklub-Opas, Trikot-Kindern oder Sitzplatz-Normalos geklaut. Neben diesen Spielchen kommt es oft auch zu Gewaltandrohungen oder körperlichen Angriffen—auch auf normale Fans, die nicht Teil dieser Kultur und so gar nicht auf Gewalt aus sind. Doch es gibt auch eine eigene Gefahr: In kleineren Gruppen müssen Ultras an Verkehrsknotenpunkten immer wieder aufpassen, nicht auf größere Gruppen anderer Szenen zu treffen. Der extreme Vorfall „Hannes" zeigt wie weit es gehen kann und wirft die Frage auf, was noch passieren soll.

Ein Großteil der Ultras lehnt solche Vorfälle wie im Fall Hannes ab und voreilige Schlüsse sollten vermieden werden. Niemand weiß genau, wie Hannes nun aus dem Zug im Krankenhaus landete. Doch eines ist klar: Wenn mittlerweile mehr als zwanzig Männer auf eine Person losgehen wollen und Menschen aus einer fahrenden Bahn ins Koma „fallen", sollte sich diese so wichtige Subkultur des Fußballs langsam die gar nicht mehr so populistische Frage stellen, ob sie bis zum ersten Todesfall so weiter machen will. Wie weit darf Rivalität gehen? Einschüchterung scheint nicht mehr genug zu sein—wenn ein einzelner und unterlegener Fan eine Abreibung bekommen soll.

Die HFC-Fans sind auch betroffen. „Trotz aller Rivalität—kämpfe Hannes!", prangt in Großbuchstaben auf der Internetseite der HFC-Ultras „Saalefront". Es sind nur fünf Worte, die in dieser noch viel zu kurzen Stellungnahme stehen, doch sie sagen auch etwas aus: Es gibt Dinge, die wichtiger sind als Fußball, Derbysiege und Rivalität. Zum Beispiel die Gesundheit und das Leben eines Menschen. Man kann nur hoffen, dass auch die Fans des FC Magdeburg sich das vor Augen halten—und nicht eine Rache-Spirale in Gang setzen.

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