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In Utrecht bekommen Sozialhilfeempfänger bald 900 € Grundeinkommen

Utrecht überholt die finnische Regierung von links und testet noch im Herbst diesen Jahres das bedingungslose Grundeinkommen auf Herz und Nieren.
Am Kanal in Utrecht. Bild: imago

Noch in diesem Herbst wird der Stadtrat im niederländischen Utrecht ein Experiment beginnen, das weit über die Landesgrenzen hinweg aufmerksam verfolgt werden wird: Die Stadt schenkt einigen ihrer Bürger für ein Jahr ein bedingungsloses Grundeinkommen und testet das System in der Praxis.

Das Experiment, das zusammen mit Forschern der Uni Utrecht durchgeführt wird, sieht mindestens drei Gruppen Sozialhilfeempfänger zur parallelen Beobachtung vor:

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Eine Gruppe wird wie gehabt Sozialhilfe und Wohngeld erhalten—für sie ändert sich gar nichts. Eine weitere Gruppe wird in ein deutlich druck- und regelärmeres System aus Anreizen und Belohnungen eingebunden. „Die letzte Gruppe wird das bedingungslose Grundeinkommen erhalten, ohne Regeln oder Einschränkungen", erklärte der Utrechter Abgeordnete für Arbeit und Einkommen, Victor Everhardt, auf der kommunalen Website DeStadt Utrecht.

Finnland hat erstmalig in Europa ein Grundeinkommens-Experiment im Koalitionsvertrag verankert

In einem dort geführten Interview stellte Victor Everhardt die entscheidende Frage, die mit der Utrechter Studie beantwortet werden soll: „Was passiert, wenn jemand Geld bekommt—ohne Verpflichtungen und Bedingungen? Werden die Menschen nur passiv zu Hause hocken oder sich entwickeln und einen Beitrag für ihre Gesellschaft leisten?"

Insgesamt sollen rund 300 Menschen an dem Experiment teilnehmen; darunter würden mindestens 50 Personen das bedingungslose Grundeinkommen erhalten. Wie genau die Teilnehmer ausgewählt werden, ist bislang nicht bekannt. Die überschaubare Größe der Stadt Utrecht mit 311.367 Einwohnern scheint allerdings prädestiniert für verwertbare Ergebnisse eines Versuchs im abgesteckten Rahmen.

900 Euro monatlich für einen Alleinstehenden, 1300 Euro für ein Paar.

„Die momentanen Regularien der Sozialhilfe sind bürokratisch und beruhen oftmals auf Misstrauen", sagte Everhartdts Sprecherin Jacqueline Bartoks dem Business Insider. Ein Beispiel: Wenn Sozialhilfeempfänger nicht in der Lage sind, in einer begrenzten Zeit einen Job zu finden, verlieren sie die Ansprüche auf staatliche Leistungen. „In unserem wissenschaftlichen Experiment werden wir den Menschen mit weniger oder keinen Regeln begegnen, und schauen, ob sie sich dann immer noch anstrengen."

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Die Pläne in Utrecht sind dabei schon weiter ausgereift als der Beschluss im finnischen Koalitionsvertrag: Ein alleinstehender Erwachsener soll 900 Euro erhalten, ein Paar 1300 Euro pro Monat. Sollten sich die Teilnehmer dafür entscheiden, arbeiten zu gehen, dürfen sie das Geld vollumfänglich behalten, ohne Abzüge (abgesehen von der Einkommenssteuer) befürchten zu müssen.

Der niederländische Innenminister Roland Plasterks begrüßt ein solches Praxis-Experiment ausdrücklich. Plasterks hatte bereits zu Beginn seiner Amtszeit die Kommunalverwaltungen zu mehr Experimentierfreude mit dem Wohlfahrts- und Sozialsystemen ermutigt. Die Niederlande haben die höchste Quote an Teilzeit-Arbeitnehmern in ganz Europa. Vielen Befürwortern gilt das bedingungslose Grundeinkommen nach dem Ende der Vollbeschäftigung als ideales Grundgerüst des Wohlfahrtsstaats, besonders da Robotik und Automatisierung die Rolle menschlicher Arbeitskraft in Zukunft weiter radikal verändern werden.

Die Stadt, die all ihren Bewohnern ein Grundeinkommen schenkte

Das Grundeinkommen wurde bislang trotz allem nur unter Laborbedingungen getestet—zum Teil, weil es eine logistische Herausforderung darstellt, zum anderen aus Angst vor Missbrauch. Viele Politiker sperren sich gegen die Idee, weil sie befürchten, dass Menschen ihren Anreiz zur Anstrengung verlieren könnten.

Die bisher durchgeführten Experimente deuten soweit auf das Gegenteil hin. Eine stringente Evaluation eines Praxisprojekts fehlt allerdings bislang. Die Niederlande möchten daher auch überregional weitere Versuche dieser Art starten, um die in Utrecht gesammelten Daten auf eine breitere Basis stellen zu können. Als nächstes sollen Städte wie Wageningen, Tilburg, Groningen und Nijmegen folgen. Über die Details der Durchführung will sich die Utrechter Kommunalverwaltung noch in diesem Sommer mit den Stadträten der anderen Kommunen in einem Treffen austauschen.