Wie ein italienisches Restaurant aus Versehen ein Abendessen für 100 Terroristen veranstaltete
Alle Fotos von Gianni Barlassina.

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Italien

Wie ein italienisches Restaurant aus Versehen ein Abendessen für 100 Terroristen veranstaltete

1970 traf sich eine linksradikale italienische Terroristengruppe, die Roten Brigaden, in einem Restaurant in Costaferrata, um dem Staat den Krieg zu erklären. Doch die Besitzerin hatte keine Ahnung, wer ihre Gäste eigentlich waren.
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Das Restaurant Da Gianni in Costaferrata im Nordosten Italiens. Alle Fotos von Gianni Barlassina.

Costaferrata ist ein kleines italienisches Dorf, 40 Autominuten von Reggio Emilia, einer Industriestadt im Nordosten Italiens, entfernt. Trotz der unglaublichen Schönheit des Orters, seiner Hügel, seiner Äckern und Wälder, besteht Costaferrata heute aus kaum mehr als ein paar Häusern und Scheunen.

Im Dorfzentrum befindet sich Da Gianni, ein Familienrestaurant, in dem seit seiner Eröffnung 1964 traditionelles Essen der Emilia-Region serviert wird. Als wir ankommen, wartet die Besitzerin Anna Incerti bereits am Fenster auf uns.

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„Ich habe heute morgen ein Feuer gemacht, es könnte euch hier oben kalt werden", sagt sie mit einem breiten Lächeln.

Ihr Ton ist herzlich und ich bin erleichtert. Als Incerti und ich uns vor ein paar Tagen übers Telefon unterhielten, wirkte sie schon fast bedrohlich auf mich.

„Du kannst hierher kommen und eine Geschichte darüber schreiben, aber eins möchte ich von Anfang an klarstellen: Ja, die Roten Brigaden wurden hier geboren, aber ich hatte keine Ahnung, dass die Gruppe vor mir jahrelang Schlagzeilen wegen ihrer Terroranschläge schreiben würde", sagte sie zu mir.

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Incerti bezieht sich auf den Sommer 1970, als sich die zukünftigen Mitglieder der Roten Brigaden—Italiens ältester bestehender linken Terroristengruppe—drei Tage lang bei Da Gianni trafen und beschlossen, dem italienischen Staat den Krieg zu erklären.

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Die Besitzerin des Da Gianni, Anna Incerti.

„Es war kurz nach dem neofaschistischen Bombenanschlag auf der Piazza Fontana, bei dem 17 Menschen ums Leben gekommen waren, und die radikale Linke Italiens fragte sich, wie sie eine Gegenoffensive organisieren könnte", erklärt Giovanni Fasanella, Autor mehrerer Bücher über die linksradikale Terroristengruppierung. „Die Zusammenkunft in Costaferrata sollte genau diese Frage beantworten."

Wir betreten das Restaurant, das wahrscheinlich noch sehr ähnlich aussieht wie damals, als die ersten brigatisti—wie die Mitglieder der Roten Brigaden in Italien genannt werden—hier speisten und die Revolution diskutierten. Die Holzwände erinnern an ein Schweizer Chalet, während der offene Kamin, die Poster, Fotos und das schummrige Licht eine Wes-Anderson-esque Atmosphäre schaffen. In jeder Ecke hängen Gemälde.

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In einem Artikel in La Stampa 1994 versuchte sich Vincenzo Tessadori an einer historischen Rekonstruktion des Abendessens. „Salami aus der Emilia und Würste", schrieb er. „Prosciutto und Ciccioli als Appetizer gefolgt von einem Chor, der ‚Bella ciao' [das Lied, das von der italienischen antifaschistischen Bewegung gesungen wird] sang." Dann wurde die Vorspeise und der zweite Gang serviert: „Cappelletti, Tortelloni, Lasagne und Cannelloni sowie Braten, Perlhuhn und Lamm mit Kartoffeln und Salat."

Das heutige Menü im Da Gianni wirkt genauso unverändert wie die Einrichtung, mal abgesehen von der Vorspeise. Incerti serviert uns Gnocco fritto, ein typisches Gericht aus der Gegend aus frittiertem Teig, der mit süßem Parmaschinken gegessen wird. Dazu trinken wir einen roten, perlenden Lambrusco.

Während wir essen, gesellt sich Loris Tonino Paroli, eine er der Gründer der Roten Brigaden (heute ein Maler) zu uns. Er trinkt ebenfalls ein Glas Lambrusco, während wir uns über die Roten Brigaden und ihre Banküberfälle, mit denen die Terroristengruppe finanziert wurde, unterhalten.

Bald finden wir heraus, dass Paroli Incertis Cousin ist und der Kopf hinter der Zusammenkunft in diesem Restaurant 1970 war. Die Brigaden waren auf der Suche nach einem geeigneten Treffpunkt und der damals 25-jährige Paroli bat Einheimische, seine Kollegen unterzubringen, von denen er behauptete, es wären Unistudenten. Er fragte sogar den Priester des Dorfs, ob er ein paar zukünftige brigatisti im Pfarrhaus beherbergen könnte, jedoch ohne Erfolg.

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Inside Da Gianni.

Als sich die 100 Linksradikalen bei Da Gianni trafen, mussten sie sich einer wichtigen Entscheidung stellen: weiterhin mit „klassischer" politischer Arbeit wie Protesten und Streiks weiterzumachen oder sich in dem Kampf auf eine neue Ebene zu begeben, in sie untertauchen und „die Feinde der Revolution" entführen und erschießen.

Im Laufe der darauffolgenden 20 Jahre wurden durch die lotta armata oder die „bewaffnete Schlacht" 86 Menschen getötet, darunter der Vorsitzende der größten politischen Partei Italiens, Aldo Moro. Aber im Da Gianna nahmen die Gründungsprinzipien der Roten Brigaden erstmals Form an.

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Das Gründungsmitglied der Roten Brigaden, Loris Tonino Paroli, im Da Gianni.

„Wir diskutierten als erste über ‚SIM und seine Auswirkungen', wie wir es nannten", erzählt Paroli und bezieht sich auf den „Imperialistischen Staat der Multinationalen Konzerne", eine Art dystopische Zukunft, in der sich Konzerne über Regierungen hinwegsetzen und Entscheidungen unter Verlust der Rechte der Arbeiter durchsetzen.

Als die Unterhaltung politisch wird, setzt sich Incerti zu uns.

„Es ist nicht einfach, sie zu interviewen, sie redet nie über diese Zeit", scherzt ihr Sohn Elvio. Ich frage sie, ob sie böse auf ihren Cousin ist, dass er 100 zukünftige Terroristen in ihr Restaurant brachte. Sie antwortet mit einem anmutigen Lächeln und nickt.

„Nicht wirklich", sagt sie. „Sie haben wenigstens ihre Rechnung bezahlt."

Aber als ich nachhake und weitere Fragen stelle, steht Incerti auf und geht zu einem anderen Tisch.

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„Ich habe nie jemanden umgebracht", sagt Paroli aus dem Nichts, als hätte er meine Frage schon erwartet. „Ich war bei einem Anschlag auf das Monferrato-Gefängnis dabei, um Curcio [der Anführer der Roten Brigaden] zu befreien und in einem weiteren gegen eine FIAT-Fabrik, um Dokumente zu beschlagnahmen und sie zu verteilen, sonst nichts. Mitte 1975 wurde ich ins Gefängnis gesteckt und das war für mich das Ende."

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In Parolis Worten steckt Traurigkeit. Er sagt es zwar nicht, aber ich hab den Eindruck, dass er die Geschichte nicht noch einmal wiederholen würde, wenn er die Chance hätte. Die Erinnerungen an diese Tage sind so ein großer Teil seiner Welt.

„Kürzlich hat mich eine Gruppe Deutscher kontaktiert. Sie interessierten sich für die Roten Brigaden und wollten sich Da Gianni ansehen kommen", sagt er. „Unglaublich, wie sich dieser Ort und dieses Treffen herumspricht, ich kann mir das nicht erklären."

Die Zeit wird zeigen, ob das Restaurant, in dem alles angefangen hat, über die Anziehung der Post-1968-Nostalgie hinausgeht.