Wie ein Food-Festival im Slum von Rio de Janeiro aussieht
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Brasilien

Wie ein Food-Festival im Slum von Rio de Janeiro aussieht

Der Slum-Komplex Maré in Rio de Janeiro ist berüchtigt für seine Bandenkriege. Trotzdem versuchen Bewohner mit einem ein Monat langem Food-Festival die Gastroszene der Favela zu beleben und den Austausch zwischen den durch Gewalt gespaltenen...

Starr die Waffen nicht an.

Das ist der Ratschlag, den ich bekam, als ich beim Comida de Favela-Food-Festival in Rio de Janeiro ankam. Aber es ist ziemlich schwierig, die Teenager in Boardshorts, die wie festgemeißelt mit ihren halbautomatischen Gewehren in den Armen am Straßenrand stehen, zu ignorieren.

Im labyrinthischen Slum-Komplex von Maré, der von rivalisierenden Drogenbanden beherrscht wird, ist das kein ungewöhnlicher Anblick. Das hat die Organisatoren jedoch nicht davon abgehalten, ein ambitioniertes Food-Festival in einer der unruhigsten Favelas von Rio zu veranstalten.

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Bar da Marilda, eines der teilnehmenden Restaurants beim Food-Festival Comida de Favela. Foto von Matt Taylor.

„Wenn wir auf Frieden in diesem Krieg warten, werden wir nichts erreichen", sagt Fernanda* von Redes da Maré, einer NGO, die das Festival promotet.

Comida de Favela ist das erste Festival seiner Art und bietet den drei Restaurants mit dem beliebtesten Gericht Geldpreise zwischen 800 und 3.000 brasilianischen Real (190 bis 710 Euro). Die Jury sind die Kunden, die über einen Zeitraum von einem Monat abstimmen können.

„In den Favelas müssen wir kreativ sein", fügt Fernanda hinzu.

Maré ist das Zuhause von 130.000 Menschen in 16 Gemeinschaften und ist in drei Territorien aufgespaltet, die zwischen der Terceiro Comando Puro, der Comando Vermelho und den Amigos dos Amigos—den drei konkurrierenden Bandenfraktionen—aufgeteilt sind. Die Spannungen wurden vergangenes Jahr als Bürgerkrieg bezeichnet, als das Militär mehr als 2.500 Soldaten schickte, um den Komplex 12 Monate vor dem Fußballweltmeisterschaften zu besetzen.

ARTIKEL: Das beste Essen gibt es in den Favelas

Aufgrund der regelmäßigen Schießereien gibt es nur wenig Austausch zwischen den Gemeinschaften der Nachbarschaft. Das, sagt Fernanda, war eines der Ziele des Food-Festivals. 16 Etablissements aus allen Territorien haben teilgenommen und sowohl Einheimische als auch von außerhalb Kommende haben einen Grund, die verschiedenen Teile der Favela über die Grenzen der Banden hinaus kennenzulernen. Dabei wird eine Art der Integration gefördert, die bisher schwierig zu erreichen war.

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Zwei kostenlose Busse—einer aus der wohlhabenden Südzone und der andere aus dem Norden der Stadt—wurden am Wochenende angeboten, um mehr Besucher anzuziehen. Aber von den 900 Besuchern in der ersten Woche des Festivals kam die Mehrheit aus der Favela.

„Maré ist sehr groß", sagt Fernanda. „Die Leute kennen ihre eigene Gemeinschaft nicht. Unser Schwerpunkt liegt auf der lokalen Arbeit."

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Marilda Vieira Alves Silva, die mit ihrem Restaurant ebenfalls am Food Festival teilnimmt. Foto von Matt Taylor.

Meiner erster Stopp ist Bar da Marilda in der Nähe des Eingangs von Vila do João im Süden von Maré. Marilda Vieira Alves Silva, eine flinke und effiziente 57-Jährige, setzt mich an einen Plastiktisch und verschwindet hastig in ihre bescheidene Küche, um langsam gegarter Ochsenschwanz, gekochter Maniok—eine in ganz Brasilien beliebte Wurzel—und Brunnenkresse für mich zuzubereiten. Das leckere, beliebte Wochenendgericht wurde für das Festival angepasst. Normalerweise würde eine solche Mahlzeit als riesige Portion serviert—da könnte eine gesamte Familie davon essen. Um am Wettbewerb teilzunehmen, verlangte das Festival jedoch nur eine Kostprobe.

„Sie mussten zuerst verstehen, dass wir keine Mahlzeit wollten, von der Leute satt werden würden, wie man normalerweise hier bekommt", erklärt Fernanda. „Es ist eine einfache Mahlzeit, nur zum Probieren."

Nachdem sie mir das Essen serviert hat, lehnt sie schüchtern an der Tür ihrer Küche und wartet auf meine Reaktion. Sie sagt, das Rezept für den Ochsenschwanz, das von ihrer Großmutter an ihre Mutter und von ihrer Mutter an sie weitergegeben wurde, ist sonst auch freitags und samstags gut angekommen, aber dank Comida de Favela habe sie viele neue Besucher aus der Gemeinschaft, aber auch außerhalb von Maré bekommen.

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Ochsenschwanz, Maniok und Brunnenkressen bei Bar da Marilda. Foto von Donna Bowater.

An dem Samstag, an dem ich bei ihr esse, sitzen einige Stammkunden mit dem Ochsengericht und einem kalten Bier neben mir. Als ich sie frage, was sie von dieser Veranstaltung halten, leuchten ihre Augen.

„Ich finde es großartig. Ich hoffe, dass die Leute auch nach dem Festival noch hier herkommen—das ist der Hintergedanke, oder?—und endlich von der Vorstellung ablassen, dass es hier nichts Gutes gibt", sagt Silva. „Gewalt gibt überall. Gott sei Dank war es hier immer in Ordnung."

Ein paar Häuser weiter an den herumschleichenden Bewaffneten vorbei befindet sich Point do Maccarão. Der Pasta-Lieferservice von Thiago Ferreira Rodrigues und seiner Familie hat seit Beginn des Comida de Favela seinen Umsatz um 20 Prozent gesteigert. Immer mehr Gäste kommen zum Essen, anstatt es zum Mitnehmen zu bestellen. Sein Beitrag zum Wettbewerb ist eine Lammkrokette mit Apfelmus.

„Die Esskultur in den Favelas dreht sich um selbst gemachtes Essen", sagt Rodrigues. „Unsere Spezialität ist Pasta, was zwar italienisch ist, aber der Geschmack ist sehr brasilianisch."

Ein großer Teil der Bevölkerung von Maré sind Immigranten und dementsprechend hat die Favela vielseitige kulinarische Traditionen aufzuweisen, darunter nord- und nordostbrasilianische und afrikanische. Während viele der Gerichte für den Wettbewerb typische brasilianische Zutaten wie Chayote, schwarze Bohnen oder viel Rindfleisch enthalten, gibt es auch ungewöhnlichere Kreationen wie Gourmet-Sushi, Paella und mexikanische Bohnen.

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Mehr als 100 Restaurants haben sich beworben, um am Comida de Favela teilzunehmen. Das Konzept für das Festival entstand erstmals 2011 und es wird vom Kulturförderprogramm der brasilianischen Bank Itaú finanziert. Die Organisatoren haben aber selbst entschieden, wer von den Bewerbern teilnehmen darf. Zu den Auserwählten zählt Eulina Grambola, die vor 20 Jahren aus dem nördlichen Bundesstaat Paraiba nach Maré gezogen ist. Sie nimmt mit ihrem Hähnchen in Blutsauce teil, ein portugiesisches Gericht, das auch im Nordosten Brasiliens gegessen wird.

„Ich finde das Festival gut", sagt sie, als wir vor ihrem Restaurant Bar da Buchada stehen. „Und ich werde gewinnen."

Die aufstrebende Gastronomieszene der Favela wird für die lokale Wirtschaft immer wichtiger. Laut einer Umfrage in Maré im vergangenen Jahr sind zwei von fünf Unternehmen in der Gastronomiebranche angesiedelt. Für Rodrigues ist das Comida de Favela-Festival eine gute Gelegenheit, sich einem größeren Publikum über die Favela hinaus zu präsentieren.

„Die Idee ist toll, weil mein größtes Problem ist, das Geschäft über die Favela hinauszutragen", sagt er. „Durch dieses Festival habe ich es geschafft. Wir haben sehr viele Kunden, die von außerhalb kommen."

Und was ist mit dem Image von Maré, nachdem das Militär die Favela besetzt hat?

„Wir, die hier leben, haben davon nur profitiert", fügt Rodrigues hinzu. „Jede Maßnahme gegen Gewalt ist für uns eine positive Entwicklung."

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Foto von Donna Bowater.

Während sich die Straßen langsam füllen, fängt es an zu regnen und Abfall von den Ständen dämpft auf dem Gehsteig. Der gratis Festivalbus zurück in Rios Südzone steht zur Abfahrt bereit und bringt eine große Gruppe von Besuchern wieder nach Hause, nachdem sie alle 16 Restaurants ausprobiert haben.

„Sie sind wahrscheinlich müde, es ist ein weiter Weg zu jedem einzelnen Lokal", sagt Fernanda. Aber es stellt sich heraus, dass die Gruppe ihren Besuch in Maré so sehr genossen hat, dass sie beschließen, noch ein bisschen zu bleiben.

Als ich mich auf den Rückweg mache, treffe ich noch einmal Silva.

„Komm bitte zurück", verlangt sie und greift nach meiner Hand.

*Name geändert.