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Demonstrationen

Schnippeldisko—Turntables und Sparschäler

Was vor vier Jahren in der Markthalle 9 begann, ist inzwischen zu einer globalen Schnippelbewegung geworden: Unverkäufliches, aber einwandfreies Gemüse wird zu einer Protestsuppe verkocht. Und dabei wird getanzt.

Berlin, Ostbahnhof: Wie versorgt man tausende Menschen, die gegen industrielle Landwirtschaft demonstrieren? Die Organisation „Wir haben es satt" hat dies ganz unkonventionell gelöst: Eine Tonne Gemüse, die sonst weggeschmissen worden wäre, wurde zu einer gigantischen Suppe verarbeitet.

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Während in den großen Backsteinhallen gerade Shows für die Fashion Week vorbereitet werden, sitzen vor den zwei Zirkuszelten Leute am Boden und braten Burger auf einem Hockergrill. Es ist der Vorabend der „Wir haben es satt" -Demonstration, die dieses Jahr 50.000 Mitstreiter zählte, alle mit dem einen Wunsch: die Lebensmittelqualität zu verbessern.

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Am Eingang des einen Zeltes wird man gebeten, sich die Hände zu waschen und von Gemüse schleppenden Menschen fast über den Haufen gerannt. Es sieht alles nach viel Arbeit aus, doch aus dem Zelt kommt laute Soul- und Funk-Musik. Der Blick fällt als erstes auf tanzende Menschen in der Mitte des Zeltes, erst wenn man sich an das Halbdunkel gewöhnt, fallen einem die Reihen um Reihen an Bierbänken auf, auf denen mehrere hundert Menschen Gemüse schneiden. Zum Großteil jung und alternativ, aber mittendrin auch ältere Semester. Das Gemüse wurde von Bauern aus der Umgebung gesponsert: Gemüse, das als unverkäufliche Restware sonst weggeschmissen worden wäre.

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Unentwegt werden 400-Liter-Töpfe von Typen mit Dreadlocks, Zunfthosen und -hüten mit Gemüse gefüllt. Neben eifrig schnippelnden Veganern und Alternativos unterhalten sich drei Vollbärtige übers Schlachten und Wursten. Einer von ihnen fuchtelt mit einer Salami herum, als wär es seine Fahne. Augenscheinlich wartet er auf den besten Zeitpunkt, um Fleisch unter die vegane Masse zu verteilen. Egal, ob Veganer oder Fleischliebhaber, das Thema der Debatte geht alle an: Wir wollen gutes Essen, das schmeckt und sauber produziert wird.

Auf der Bühne des vollbesetzten Zirkuszelts stehen Menschen aus aller Welt und beschreiben, was ihrer Meinung nach falsch läuft mit unseren Lebensmitteln. Daneben steht Wam Kat, Punkmusiker mit 40-jähriger Demo- und Volksküchenerfahrung, der Rote Beete-Suppe in einem Monstertopf zubereitet.

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Die Idee zur Schnippeldisko ist vor vier Jahren im Slow Food Youth Network entstanden, dem jungen Teil der Ökogenießer von Slow Food: Mehrere tausend Menschen werden mit warmem Essen versorgt, setzen noch dazu ein Zeichen gegen Verschwendung und haben richtig Spaß. Was in der Markthalle 9 begann, fand im letzten Jahr bereits in São Paulo, New York, Südkorea, Indien, Spanien, Italien, den Niederlanden und Frankreich statt. Eine globale Schnippelbewegung, sozusagen.

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Am Tag nach der Demo sind die Schlangen an den Ausgabestellen vor der Heinrich-Böll-Stiftung meterlang. Der Diskoeintopf findet, nach vier Stunden Demo in der Kälte, reißenden Absatz, weckt die Lebensgeister und hebt die Stimmung. Die Leute sind mit ihrer Aktion zufrieden. Statt mit Angst und Weltuntergangsstimmung wurde die Debatte rund um eine nachhaltigere Landwirtschaft und gegen Agrarindustrie, ungezügelten Freihandel und Lebensmittelverschwendung mit einem gehörigen Schuss Lebensfreude und Feierlaune aufgetanzt.

Fotos: Maria Dorn