Ich war beim Rage Yoga, um schreien zu lernen
Alle Fotos: Hanko Ye

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Erfahrungsbericht

Ich war beim Rage Yoga, um schreien zu lernen

Ich hebe mein Beine und pinkele in der "Hund uriniert an Laternenpfahl"-Position metaphorisch meine Matten-Nachbarin an.

Update, 01.11.2017: In einer vorherigen Version des Artikels wurde Mirella Precek fälschlicherweise als "Mirella Obert" bezeichnet. Diesen Fehler haben wir korrigiert.

Update, 02.11.2017: Zur besseren Verständlichkeit wurde der dritte Absatz um weitere Informationen zur Kampagne ergänzt.

Wenn ich wütend bin, stelle ich mir immer vor, wie schön es wäre zu schreien. Einfach auf einen Berg steigen, oder besser noch fahren, und das ganze Angestaute rausschreien – diese Vorstellung übt einen seltsam starken Reiz auf mich aus. Als Kontrollfreak und sich rund um die Uhr schämender Mensch, ist mir der Ausdruck von Wut oder jeglichen anderen extremen Emotionen zuwider. Was könnte beim Schreien nicht alles passieren? Meine Stimme könnte brechen, mein Gesicht eine verwirrende Farbgebung annehmen und vielleicht, ganz vielleicht könnte ich einfach nicht mehr aufhören. Ich würde mich so gerne trauen, zu fluchen oder zu schreien oder auch einfach mal auf dem Fahrrad laut zu singen, aber ich traue der Unberechenbarkeit meines Körpers einfach nicht.

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Und doch will ich es einmal versuchen. Nicht auf einem Berg, nicht auf dem Tempelhofer Feld oder in meinem WG-Zimmer, sondern zusammen mit anderen beim Rage Yoga. Rage Yoga (auf Deutsch Wut-Yoga) ist nach Bier-Yoga der neueste heiße Scheiß für dehnbare – und in diesem Fall wütende – Frauen. Entwickelt wurde diese Yoga-Form ausgerechnet von einer Frau aus einer der friedliebendsten Nationen der Welt: Kanada.

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Die Gründerin Lindsey Istace trifft sich normalerweise zweimal die Woche mit 15 Interessierten im Hinterraum eines Pubs im kanadischen Calgary, um Yoga zu machen und gemeinsamen zu schreien. Jetzt ist sie zu Gast in Berlin und bittet Interessierte im Rahmen der #PussyisPower-Kampagne auf die Yoga-Matte. Die Aktion der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung schickte Influencer nach Kenia, um dort lebende Jugendliche in ihrem Alltag zu begleiten. Durch die so entstandenen Videos soll auf die globale Ungleichheit von Mädchen und Frauen aufmerksam gemacht werden. Istace hingegen will mit ihrem ungewöhnlichen Konzept dafür sorgen, dass junge Frauen sich ihren Alltagsstress aus dem Körper schreien. Als ich lese, dass es bei ihren Veranstaltungen auch Bier gibt, bin ich überzeugt. Ich habe Lust zu schreien! Aber dazu brauche ich Alkohol.

Immerhin möchte ich jetzt wirklich gerne schreien – und zwar aus Frust.

Als ich an der Location, dem "Glashaus", ankomme, nimmt meine Schrei-Motivation jedoch kurzzeitig rasant ab. In der Warteschlange davor stehen vor allem Teenie-Mädels, schnatternd machen sie ihrer Aufregung Luft, denn es werden die YouTuberinnen erwartet, die schon bei den Kampagnen-Videos mitwirkten. Dann muss ich auch noch mein Bier hinter einer Mülltonne verstecken, denn der Türsteher sackt alle Getränke ein. Also doch kein Yoga mit Bier; als ich mich umsehe, verstehe ich auch warum: Der Altersdurchschnitt lässt es nicht zu. Mit 22 bin ich zwar nicht alt, aber eindeutig zu alt für YouTube-Fan-Girls. Immerhin möchte ich jetzt wirklich gerne schreien – und zwar aus Frust.

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Drinnen warten auf uns eine im Feminismus-Lila ausgeleuchtete Halle, Vulva-Cupcakes und Tische voller Merchandise. Die #PussyIsPower-gebrandeten Shirts, Turnbeutel und Yoga-Matten plus Tragegurt dürfen wir kostenlos mitnehmen. Das ist fast so gut wie ein Pfand-Einkauf oder ein Ersti-Tag: Kondome, Bier und Feuerzeug, alles geschenkt! Nur dieses Mal halt in jugendfreier Version. Es sind zwar knapp 200 Mädchen hier, aber in der riesigen Location wirken sie trotzdem etwas verloren. Einige 14- bis 15-Jährige stehen vor einem Glücksrad an, wo es noch mehr Zeug zu gewinnen gibt. In Yoga-Pants und den schnell übergezogenen #PussyIsPower-Shirts sehen alle gleich aus. Hoch motiviert tritt eine Moderatorin vor ihr junges Publikum. Im lilafarbenen Licht auf der Bühne strahlt sie betont gute Laune aus.

Ob wir uns auf die YouTuberinnen freuen, fragt sie uns fröhlich, und alle kreischen. Mirella Precek vom YouTube-Kanal mirellativegal und Diana zur Löwen mit gleichnamigem Kanal treten auf die Bühne und alle Blicke sind auf sie gerichtet. Ich blicke in die jubelnde Runde und fühle mich alt. Die erste Stunde vergeht mit Infos über die Kampagne. Wir sollen beim Rage Yoga schreien, "um lebensbejahende Power auszudrücken und der Benachteiligung von Mädchen und Frauen vor allem in Entwicklungsländern Gehör zu verschaffen", liest die Moderatorin von einer Karte ab. Dann stellt sie die Kampagnen-Videos mit den beiden YouTube-Sternchen vor. Zur Löwen erzählt, wie sie an der #PussyIsPower-Kampagne mitgearbeitet hat. Und wie schade sie es gefunden habe, dass die Leute auf Instagram vor allem kritisiert hätten, dass sie bei einem Besuch im Slum Markenschuhe getragen hat – anstatt sich mit der Kampagne auseinanderzusetzen. Ich falle in ein Stimmungstief.

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"Wenn du dich extra sassy fühlst, kannst du dein Bein zur Seite öffnen, als würdest du auf alles pissen."

Aber dann geht's endlich los: Metal-Musik geht an, die Türen zu einer mit Yoga-Matten gefüllten Halle öffnen sich, Istace wartet dort schon auf uns. Also ab auf die Matten!

Wir beginnen im Schneidersitz und bewegen uns dann auf alle Viere in die Katzen-Position. "Wenn du dich extra sassy fühlst, kannst du dein Bein zur Seite öffnen, als würdest du auf alles pissen", motiviert uns Istace und ich hebe zögernd mein Bein. Scheiße, bin ich verklemmt! Vielleicht ist mein Problem, dass ich ohne Freunde hier bin und stattdessen in "Hund uriniert an Laternenpfahl"-Position metaphorisch meine Matten-Nachbarin anpinkeln soll. Istace ruft "Kann ich bitte ein 'Hell Yeah!' hören?" und alle schreien. Ich schreie tonlos mit – aber nur für den Fotografen, der mich hierher begleitet hat. Weil er die ganze Zeit mit seiner Kamera auf mich zielt, fühle ich mich noch unwohler als ohnehin schon.

Ein muskelbepackter Kollege von Istace positioniert sich im herabschauendem Hund neben mir und korrigiert meine mittlerweile zitternden Beine. Er und der Fotograf blicken meinen unsportlichen Körper an und nicken einvernehmlich. Ich bin froh, als der Muskel-Yogi weiterzieht, aber mein Kollege ruft ihn für weitere Fotos noch mal zurück. Ich fürchte, abermals bloßgestellt zu werden und zische dem Fotografen ein panisches "Ich hasse dich!" zu, welches er freundlichst ignoriert. Dieser Ausbruch sei mir verziehen: Beim Rage Yoga soll man seine Wut schließlich rauslassen.

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Unterdessen macht Istace fröhlich weiter. "Wenn du dich extra sassy fühlst, kannst du das 'Devil-Horns-Symbol' machen", fordert sie die Metal-Seite in uns heraus. Da mein verklemmter Körper ein Abbild meiner Seele ist, mache ich zuerst das gute alte Leisefuchs-Zeichen, bis ich mir bei meiner Nachbarin die richtige Handstellung abgucke. Verschüchtert stoße ich ein leises "Hell Yeah" aus. Coolness war noch nie meine Sache, aber so uncool habe ich mich selten gefühlt. Die Stimmung um mich herum ist energiegeladener, als ich es bin: Wir dehnen unsere Hüften, kreisen sie wie eine Waschtrommel, tanzen auf der Matte, atmen schnaubend, schreien hier und da und werden immer wieder von Istaces ironischen Einwürfen angefeuert.

Was nutzt es dem Mädchen im indischen Slum, wenn ich auf meiner Yoga-Matte anfange zu schreien?

Ich versuche, den Fotografen und den Muskel-Yogi für den Rest der Zeit auszublenden. Denn eigentlich wollte ich mich hier von all dem Gedankenballast befreien, dem "ganzen unnötigen Scheiß", wie Istace sagen würde. Ich will meine Anspannung rausschreien, aber so einfach tue ich mich damit nicht. Wenn ich die Mädchen und jungen Frauen um mich herum betrachte, denke ich darüber nach, warum wir eigentlich gerade hier sind. Schreien sollen wir, um auf die benachteiligte Stellung von Frauen aufmerksam zu machen. Als ehemalige Ethnologie-Studentin halte ich dieses Vorhaben zwar für medial wirksam, aber ansonsten extrem ineffektiv. Was nutzt es dem hungernden Mädchen im indischen Slum oder dem genitalverstümmelten, somalischen Mädchen, wenn ich hier auf meiner Yoga-Matte anfange zu schreien?

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Ein Typ vom Kampagnen-Team fährt mit seiner Kamera auf einem Skateboard an mir vorbei. Er dokumentiert das gemeinschaftliche Geschrei der Mädchen und Frauen in den Kampagnen-Shirts. Vielleicht funktioniert das sogar: Leute gucken sich den Film an, denken "Toll, was die da machen, da sind ja sogar Youtuberinnen mit Reichweite dabei und die Yoga-Mädchen in ihren #PussyIsPower-Shirts machen Promo-technisch ja auch schön was her…" und spenden ordentlich Geld. Schön wäre es ja.

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Schwitzend und stinkend auf einem Bein balancierend, wird mir aber etwas anderes über die Mädchen klar, die neben mir inbrünstig schreien und Yoga machen. Sie machen etwas, das ich mich in ihrem Alter nicht getraut hätte – und ja selbst heute nicht richtig hinkriege. "Pussy is Power" schreien sie und schämen sich nicht, weder für die Worte noch für die Message. Ich bin mir sicher: Mit ihrem Schreien ändern sie nichts für die Mädchen in den sogenannten "Entwicklungsländern". Sie ändern etwas für sich.

Schade, dass ich so verklemmt bin.

Als Gruppe junger Mädchen und Frauen zwischen 14 und 22 kollektiv zu schreien und sich gegenseitig in einer feministischen Grundhaltung zu bestätigen, zeigt ihnen, dass sie mit ihrer Weltsicht nicht alleine sind. Andererseits: Frauen ohne Pussy werden in dieser Message vorm Wortlaut her ausgeschlossen. Nur klingt 'women are power' eben einfach nicht so catchy, wie irgendwas mit Pussy. Vielleicht ist es das, was mich an dieser Kampagne und der Veranstaltung stört. Es geht darum, etwas Gutes voranzubringen, aber letztlich fühlt es sich an, als wäre man inmitten einer Marketing-Kampagne. Überall Videodrehs, Fotos, YouTuber – ich möchte die Veranstaltung gut finden, aber kann es nicht.

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Zum Abschluss atmen wir tief ein, lassen uns mit dem Oberkörper nach unten fallen und schreien uns beim Ausatmen nochmal richtig aus. Davon gibt es drei Durchgänge. Beim ersten Mal bewege ich nur die Lippen. Der Fotograf raunt mir zu, dass er noch ein Schrei-Bild von mir braucht. Beim zweiten Mal stoße ich tatsächlich einen verhaltenen Ton aus, aber der Fotoapparat löst zu spät aus. Dann ist die letzte Chance gekommen, ein Bild zu schießen, von dem ich nie wollte, dass es existiert: Ich amte tief ein, schreie zum ersten Mal wirklich laut und lasse mich fallen. Der Raum lacht, ich lache mit. Schade, dass ich so verklemmt bin. Schade, dass wir nicht einfach in dem Keller schreien, in dem Istace ansonsten ihre Kurse macht.

Ich hätte jetzt nochmal richtig Lust darauf, mich fallen zu lassen. Ich habe immer noch Lust auf schreien. Mein Bild von mir wurde beim Rage Yoga nicht tiefgehend erschüttert, es wurde bestätigt. Trotzdem enttäuscht es mich, dass ich nur einen einzigen Schrei zustande bekommen habe. Dieser eine Schrei klang schräg, das Gefühl meines sich verziehenden Mundes fühlte sich ungewohnt und unschön an, das Gefühl der Befreiung dauerte nur kurz an. Aber für einen kurzen Moment habe ich die Kontrolle über meinen Körper dem Schrei überlassen und das fühlte sich – trotz allem – richtig gut an. Genug habe ich von dem Gefühl noch lange nicht.

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