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Polizeigewalt

Fußballfans wollen "für die Anwältin saufen" – und mit dem Geld die Polizei verklagen

Bei einem Pokalspiel in Brandenburg hatte es nach einem Polizeieinsatz Dutzende Verletzte gegeben.

Hunderttausende Fans fahren jedes Wochenende durch die ganze Republik, um 90 Minuten Fußball zu schauen – begleitet von einem Ritual aus gegenseitigem Misstrauen zwischen ihnen und der Polizei. Meist bleibt es friedlich, manchmal knallt es. Die Gräben zwischen Polizei und Fans werden jedes Jahr tiefer – auch weil die Sicherheitsbehörden Politikern und Journalisten umstrittene Zahlen zur Gewalt im Fußball vorlegen. In diesem ewigen Streit konnten Fußballfans Anfang November einen wichtigen Sieg erringen: Zwei Anhänger des TSV 1860 München hatten sich zehn Jahre durch alle Instanzen bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gekämpft, weil sie 2007 von ungekennzeichneten Polizisten mit Pfefferspray und Schlagstöcken attackiert worden waren. Das Straßburger Gericht verdonnerte den deutschen Staat zu einer Entschädigungszahlung von je 2.000 Euro und riet den Behörden dazu, Polizeibeamte bei Einsätzen mit Nummern zu kennzeichnen. Nun wollen Fans des SV Babelsberg 03 es den beiden Münchnern gleichtun.

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Der Viertligist gewann vor fast anderthalb Jahren im Brandenburger Landespokal gegen den FSV Luckenwalde mit 3:1. Über das Ergebnis redet heute keiner mehr, dafür über einen umstrittenen Polizeieinsatz. Nach dem Auswärtssieg feierten Babelsberger Spieler mit ihren Fans, aber ein Absperrzaun gab nach. Danach eskalierte die Situation: Auf Videos, die zwischendurch aus unerklärten Gründen gelöscht und später auf anderen Kanälen wieder hochgeladen wurden, sieht man, wie Polizisten scheinbar willkürlich die Tribüne mit Pfefferspray einnebeln und auf helfende Fans einknüppeln. Trotzdem gehen die Aussagen über die Vorkommnisse bis heute weit auseinander. Die Polizei redet von einem versuchten Platzsturm, Fans und Verein von Polizeigewalt und einer Überreaktion der Beamten. Ein Mitglied des Babelsberger Fanbeirats fasste damals gegenüber VICE Sports die Lage zusammen: "Es gab keine Randalierer und Chaoten. Vielleicht sahen diese optisch so aus, doch das Gefahrenpotenzial ging nur von der Polizei und dem maroden Stadion aus."


Auch bei VICE: Ein verdeckter Ermittler erzählt von seiner Vergangenheit


Was in Luckenwalde geschah, wurde nie ganz aufgearbeitet. Nach den Vorkommnissen sprach die Polizei von 36 Verletzten, das Babelsberger Fanprojekt hatte hingegen 128 Leicht- und 27 Schwerverletzte gezählt. Darunter fielen "angebrochene Lendenwirbel, Platzwunden am Kopf, aufgerissene Hände und Finger sowie eine bewusstlose Person, die bis zu 15 Minuten nicht anzusprechen war." Obwohl die Polizei ihren Einsatz bis heute als "verhältnismäßig" bezeichnet, bedauerte Polizeileiter Peter Meyritz schon wenige Tage nach den Vorfällen gegenüber den Potsdamer Neuesten Nachrichten (PNN), "dass offenbar auch Unbeteiligte durch den Einsatz von Reizgas betroffen waren".

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Die Polizei bei ihrem umstrittenen Einsatz in Luckenwalde | Foto: imago | Camera 4

Das Landeskriminalamt Brandenburg hat seine Ermittlungen zu den damaligen Vorfällen schon vor Monaten abgeschlossen. Die Polizei habe laut PNN 22 Ermittlungsverfahren gegen Babelsberg-Fans an die Staatsanwaltschaft abgegeben und fünf Verfahren gegen Polizeibeamte wegen des Verdachts der Körperverletzung eröffnet. Nach polizeiinternen Ermittlungen hatten zudem zwei Beamte ihre gesetzlich vorgeschriebene Kennzeichnung abgelegt. Bisher gibt es jedoch noch keine Ergebnisse. "Anzeigen und Verfahren gegen gewalttätige Beamte liefen bisher ins Leere und wurden mit fadenscheinigen Argumenten eingestellt", schrieb die Faninitiative "Nordkurve Babelsberg" am Montag in einem Aufruf mit dem Titel "Luckenwalde - unvergessen!". Ihre Kritik: Trotz hieb- und stichfester Beweise weigere sich die Staatsanwaltschaft, Anklage gegen die "Gewalttäter in Uniform" zu erheben. Eine Nachfrage von VICE ließ die Staatsanwaltschaft bislang unbeantwortet.

Nun wollen die 03-Fans die Vorkommnisse nach dem Vorbild der zwei 1860-Anhänger juristisch aufarbeiten: "Wir werden, wenn nötig, durch alle Instanzen ziehen und euch mit euren eigenen Waffen schlagen!" Für die Finanzierung haben sie sich etwas Spezielles einfallen lassen. Unter dem Motto "Saufen für die Anwältin" verkaufen sie bei ihrem nächsten Regionalligaspiel am Samstag gegen den BFC Dynamo einen Soli-Glühwein. "Der Erlös kommt ausschließlich den Klägern zu Gute, sodass ihre Anwält*innen weiter am Ball bleiben können", so die Initiative, die sich solidarisch gibt: "Wir werden die Kläger und Opfer nicht alleine stehen lassen!"

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Wie kampferprobt die Babelsberger sind, zeigen sie nicht erst nach der von ihnen so betitelten "Schande von Luckenwalde". Vor einigen Monaten sorgten der SVB und seine Fans mit einer "Nazis raus"-Aktion deutschlandweit für Aufsehen. Hintergrund war ein Urteil des Nordostdeutschen Fußballverbands, welches den Klub für "Nazischweine raus"-Rufe bestrafte, aber den Gegner Energie Cottbus nicht für rechte Schmähgesänge wie "Zecken, Zigeuner und Juden – Babelsberg 03" belangte. Die Babelsberger Fans gelten seit Jahren als linkspolitisch und auch ihr Verein ist bekannt für seine antirassistische Arbeit. 2014 integrierte 03 als erster deutscher Klub ein Flüchtlingsteam in seine Vereinsstrukturen.

Ob "Saufen für die Anwältin" genug Geld für einen möglicherweise jahrelangen juristischen Kampf einbringt, ist ebenso unsicher wie die Antwort auf die Frage, ob die Vorkommnisse von Luckenwalde irgendwann restlos aufgeklärt werden. Dass es etwas aufzuklären gibt, hat sich bis in die Politik herumgesprochen. Ein Jahr nach dem Spiel sagte Ursula Nonnemacher, die innenpolitische Sprecherin der Grünen im brandenburgischen Landtag: "Die vielen Ermittlungsverfahren sowohl gegen Fußballfans als auch gegen Polizeibeamte verdeutlichen, dass es sich nicht um einen Routineeinsatz handelte." Seitdem ist nichts passiert.

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