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Antisemitismus

Wie junge Schweizer Juden Antisemitismus erleben

Spoiler Alert: Nicht alle Juden tragen Kippa oder Kopftuch und Judenhass existiert auch heute noch.
Alle Fotos zur Verfügung gestellt

Antisemitismus ist leider nach wie vor ein Thema. Wie der aktuelle Antisemitismusberichtvom Schweizerisch Israelitischen Gemeindebund (SIG) und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) zeigt, haben antisemitische Vorfälle im Jahr 2017 im Vergleich zum Vorjahr deutlich zugenommen. Um nur einige Beispiele zu nennen: In Baden wurde ein Mann mit Kippa von einem Jugendlichen angespuckt und als "Judensau" beschimpft, in Basel erhielt eine jüdische Familie antisemitische Bücher mit der Post, die diese nie bestellt hatten und der Präsident einer jüdischen Gemeinde, erhielt Exkremente mit der Post. Nicht nur der SIG, sondern auch der Bund nimmt diese Bedrohungen ernst. Zum ersten Mal werde der Schutz der jüdischen Gemeinschaft als "eine Angelegenheit von nationaler Tragweite" angesehen, heisst es im Bericht.

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Wir haben uns gefragt, wie ihre Religion die Lebensrealität von Juden in der Schweiz prägt. Und haben uns mit drei jungen Juden darüber unterhalten, wie sie Antisemitismus in der Schweiz wahrnehmen und wie es ist, hierzulande jüdisch zu sein.

Benjamin, 19

ZVG

VICE: Wann wurdest du das erste Mal mit Antisemitismus konfrontiert?
Benjamin: Richtig mit Beschimpfungen auf der Strasse habe ich das noch nie erlebt. Aber ich trage auch keine Kippa, darum sieht man mir nicht an, dass ich Jude bin. Aber als ich etwa in der dritten Klasse war, kam es aus irgendeinem Grund zu einem Streit zwischen mir und einer Mitschülerin. Da argumentierte das Mädchen damit, dass ich Jesus getötet hätte. Im Gymi – das passierte auch im Streit – warf mir ein Mitschüler mal sowas wie "Saujude" an den Kopf. Aber der kannte da wohl gerade keine bessere Beleidigung.

Hat dein Umfeld schon Formen von Antisemitismus erlebt?
Meine Mutter hat mir und meinen Geschwistern oft ein Beispiel aus ihrer Schulzeit in Amerika erzählt. Einfach, um uns aufzuzeigen, was für absurde Vorurteile gegenüber Juden zum Teil vorherrschend sind. Einer ihrer Mitschüler fragte sie in vollem Ernst: "Du bist doch Jüdin. Wo sind eigentlich deine Hörner?"

In Zürich stehen ab und an Sicherheitsleute in Vollmontur vor der Synagoge. Ist das die Norm?
Ich kann nur für Bern sprechen, aber für uns ist das grundsätzlich nicht die Norm. Aber wenn viele Menschen kommen, herrscht natürlich eine grössere Vorsicht.

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Fühlst du dich dadurch sicherer?
Ja, aber wenn ich auf dem Weg in die Synagoge bin und diese erhöhte Vorsicht sehe, macht es mich nachdenklich und ein bisschen traurig, dass es noch nötig ist. Wenn ich dann in der Synagoge bin, konzentriere ich mich auf andere Dinge. Ich schätze, weil ich mich sicher fühle, muss ich mir auch keine Gedanken darüber machen.

Wofür wünschst du dir mehr Verständnis von Nicht-Juden?
Dass die Sicherheitsvorkehrungen nötig sind. Juden wurden erst vor wenigen Jahren vom Bund als gefährdete Minderheit anerkannt. Wenn man sich fragt: Muss es eine Schleusentür und Sicherheitsglas haben? Ja, durchaus. Heutzutage ist es leider nötig. Das wird einem gerade auch klar, wenn man sich die Geschichte des Judentums anschaut und man merkt: Diese Zeiten sind noch nicht vorbei. Nur weil man nicht selbst damit konfrontiert wurde, heisst es nicht, dass es diese Bedrohungen nicht gibt.

Susan, 23

ZVG

VICE: Erlebst du im Alltag Antisemitismus?
Susan: Ich persönlich nicht. Mir fällt das aber vor allem im Netz auf: Wenn du dir die Kommentare unter einem Video zu Israel durchliest, ist es extrem, wie das mit dem Zionismus ausartet. Das findet aber nicht nur unter Videos von Israel, sondern etwa auch bei Wirtschaftsthemen statt. Die Verschwörungstheorien sind crazy! Die Theorien mit dem Rothschild-Clan sind ja auch Antisemitismus. Einen gibt es immer, der mit so einer Theorie kommt. Dass scheinbar so viele Menschen daran glauben, ist traurig.

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Wie fühlst du dich, wenn du so etwas liest?
Zum einen muss ich lachen, weil ich solche Kommentare nicht ernst nehmen kann. Aber gleichzeitig machen sie mich auch sprachlos und ich weiss nicht, was ich darüber denken soll. Das ist in meinen Augen so absurd. Ich finde es krass, dass das im 21. Jahrhundert noch existiert und diese Theorien noch weiterleben.

Hast du in deinem Umfeld schon Formen von Antisemitismus erlebt?
Ich habe schon mal von einem Bekannten gehört, dass ihm jemand auf der Strasse in Zürich "Scheiss Jude" nachgerufen hat, weil er eine Kippa trug. Ich habe ein paar Freunde die modern-orthodox leben. Sie leben kosher, machen Shabbat und die Männer tragen eine Kippa. In der Öffentlichkeit tragen sie aber oft ein Baseballcap über der Kippa, damit nicht jeder gleich auf der Strasse sieht, dass sie jüdisch sind.

Wie ist es, wenn du Menschen sagst, dass du Jüdin bist?
Manche reagieren nicht gross darauf. Aber andere wiederum finden dann: "Was?! Du bist Jüdin? Das hätte ich nicht gedacht!" Dann denke ich mir: "Wie sieht denn eine jüdische Person aus?!" Da sieht man, wie sehr Stereotypen auch in unserer Gesellschaft verankert sind. Ich finde das aber eher amüsant oder ein bisschen nervig als schlimm.

Wofür wünschst du dir mehr Verständnis von Nicht-Juden?
Wenn ich sage, dass ich Jüdin bin, kommt immer auch eine Frage zu Israel. Das finde ich manchmal etwas unsensibel und vor allen Dingen extrem anstrengend. Israel und das Judentum sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Ich spreche gerne mit dir darüber, aber komm mir bitte nicht gleich mit einem Vorwurf. Ich finde es wichtig, dass man sich vorher informiert und sich nicht zu plumpen Aussagen hinreissen lässt. Man kann ja schon nachfragen aber wenn man dann mit Halbwissen kommt, finde ich das einfach etwas mühsam.

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Yael, 18

VICE: Wann wurdest du das erste Mal mit Antisemitismus konfrontiert?
Yael: In der Primarschule war ich die einzige Jüdin. Die anderen Kinder kannten das Judentum nur vom Holocaust und der Verfolgung durch Nazis. Als Witz machten sie den Hitlergruss, wenn ich irgendwo durchlief. Ich fand das nicht so lustig. Oder sie malten Hakenkreuze auf Blätter, einmal auch auf die Wandtafel. Die haben aber gar nicht verstanden, was das bedeutete. Ich habe in dieser Phase mit meinen Lehrern darüber gesprochen und wir behandelten den Zweiten Weltkrieg und die Bedeutung der Nazis anschliessend in der Schule. Dann hörte das auf.

Gab es Situationen, in denen du dich aufgrund deines Glaubens ausgegrenzt fühltest?
Ich fühlte mich nie richtig ausgegrenzt, eher anders. In der Primarschule sangen wir Weihnachtslieder, manchmal auch in der Kirche. Das war mir unangenehm. Den Juden ist es eigentlich nicht erlaubt, in die Kirchen zu gehen. Ich aber ging nicht nur in eine Kirche, sondern habe auch christliche Lieder gesungen. Da ging es um den heiligen Jesus und Jesus als Sohn von Gott. Im Judentum ist Jesus ja nicht unbedingt ein Heiliger, sondern ein normaler Mensch.

Wofür wünschst du dir mehr Verständnis von Nicht-Juden?
Dass ich mich nicht immer zum Thema Israel äussern will. Ich habe zwar Familie in Israel, aber habe weder den israelischen Pass, noch spreche ich Hebräisch. Wenn es in der Schule um den Nahostkonflikt geht, schaut meist die ganze Klasse zu mir. Israel ist schon der einzige Staat, in welchem die Mehrheit jüdisch ist und das Judentum die Staatsreligion. Dennoch nervt es mich manchmal, dass fast erwartet wird, dass ich als Jüdin eine Meinung zu Israel habe. Folge VICE auf Facebook und Instagram.