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Sex

Dieser Künstler verwandelt seine Grindr-Dates in Grindr-Porträts

Über die App Grindr finden viele Schwule unkomplizierten Sex, Daniel Marin Medina findet Modelle. Und Freunde.
Alle Illustrationen: bereitgestellt von Daniel Marin Medina

Samstagabend, irgendwo in der Millionenmetropole New York. Daniel Marin Medina nimmt sein Handy in die Hand, öffnet die Schwulen-Dating-App Grindr und schickt eine Nachricht nach der anderen raus. So landet er in einer fremden Wohnung, ihm gegenüber sitzen vier nackte Männer. Er berührt keinen von ihnen, nur seinen Stift. Dann bringt er sie in melancholischen, entspannten und lustvollen Posen aufs Papier – ein intimer Einblick, nicht nur auf ihre nackten Körper sondern in ihre Gefühle.

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Medina ist ein 24-jähriger, queerer Künstler aus Kolumbien. Die vergangenen beiden Jahre hat er bei Grindr nach Motiven für seine Porträtserie gesucht. Mithilfe dieser Porträtserie setzt sich Medina mit den Themen Sexualität, Identität und Körperbild im Social-Media-Zeitalter auseinander. Sein "Jagdrevier" ist New York City, egal ob nun die Häuserschluchten von Manhattan, das Finanzzentrum um die Wall Street oder die bescheidenen Wohngegenden in der Bronx. Insgesamt hat Medina über 400 Männer gezeichnet und ihre Geschichten dokumentiert.

"Das Zuhause fremder Menschen zu betreten, erfordert immer Mut. Aber sobald ich diese Menschen zeichne, entwickelt sich eine ganz andere Machtdynamik", erklärt der Künstler.


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Medinas Projekt begann als Teil seiner Abschlussarbeit mit dem Titel "Looking?". 2011 zog er für sein Studium nach New York und war damals laut eigener Aussage noch ein "angehender Homosexueller". Er hatte sich schon ausgemalt, wie er zusammen mit seinen queeren Künstlerfreunden durch Greenwich Village zieht.

Dann musste er jedoch feststellen, dass die goldenen Zeiten des Schwulen-Hotspots längst vorbei sind. Auch die legendäre Bar Stonewall Inn ist inzwischen mehr Monument für die Lesben- und Schwulenbewegung als angesagter Nachtclub. Schon bald bekam er mit, dass sich homosexuelle Männer heutzutage vor allem über Grindr kennenlernen.

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Wie Medina erzählt, hat jede Gegend von New York ihre eigenen Grindr-User. So finde man in Hell's Kitchen vor allem "muskulöse, behaarte und wahrscheinlich mit Tribals tätowierte Männer", in Williamsburg hingegen eher "Typen mit coolen Topfschnitt, Hals-Tattoos und Hornbrillen". Genauso gebe es Bereiche, wo man keine Weißen trifft – und vice versa. "Klingt komisch, ist aber so", sagt er.

Als sich Medina sein Grindr-Profil erstellte, wollte er eigentlich nur neue Freunde finden. Er musste jedoch schnell feststellen, dass auch er einem bestimmten Typ entspricht. Und bei Dating-Apps machen Schwule oft keinen Hehl daraus, was genau sie wollen und was nicht. Angaben wie "Keine Tunten", "Keine Schwarzen" oder "Keine Fetten" sind dort alarmierend geläufig.

Medina will sich mit seinen Zeichnungen auch gegen eine solche Diskriminierung positionieren, bei seiner Motivwahl ist er deswegen für jeden Menschen offen. Um Modelle zu finden, verschickt er bei Grindr eine vorgefertigte Nachricht mit seinem Anliegen an so viele Männer wie möglich. Dann wartet er einfach.

Die Antworten sind immer etwas zwischen geschmeichelt ("Beste Nachricht, die ich jemals bekommen habe … Wir können das Ganze gerne näher besprechen!") und vulgär ("Wie wärs, wenn du uns beim Ficken oder Blasen zeichnest?"). Medina hat mit seinen Models jedoch nie Sex. Er verlangt auch nicht, dass sie sich ausziehen. Aufgrund seiner bisherigen Porträts gehen die meisten Männer jedoch davon aus, dass sie beim Posieren nackt sind.

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So ging es auch Andrew Seng, einem 32-jährigen Restaurantmanager, der sich vergangenes Jahr vom Medina zeichnen ließ. Er hatte so etwas vorher noch nie gemacht, kannte aber Medinas Arbeiten und war deswegen sofort Feuer und Flamme.

"Durch seine anderen Porträts wusste ich, dass er das Ganze sehr professionell angeht und in meiner Wohnung dann nicht einfach so seine Hose runterlässt oder so", sagt Seng. "Er machte Witze, erzählte Geschichten und tat alles, damit ich mich wohlfühlte."

Es gibt jedoch auch bizarre Begegnungen. Einmal ging Medina zu einem Mann nach Hause und bat ihn, so zu posieren, wie es für ihn am angenehmsten sei. Der zog sich daraufhin aus und schnappte sein Banjo.

Er spielte Lieder und erzählte dabei, dass er beim Masturbieren auf Kokosnussöl schwört. Als das Porträt fertig war, legte er für Medina noch Tarotkarten, schwatzte ihm Salbei und einen Zimtrinden-Tee auf.

Oftmals kommt es zwischen Medina und seinen Models auch zu Momenten, die wie eine Therapiesitzung anmuten. Im Gegensatz zu vielen anderen Künstlern oder Fotografen interessiert ihn nämlich, wer ihm da gegenübersitzt. Deshalb stellt er beim Zeichnen Fragen wie "Welcher Teil deines Körpers gefällt dir am besten?", "Vor was hast du Angst?" oder "Was liegt dir am Herzen?".

"Er ist richtig gut darin, den Kern deines Wesens zu erkennen", erklärt Tommy Hart, der schon mehrmals für Medina posiert hat. Schon beim ersten Aufeinandertreffen wurden die beiden zu Freunden. Seitdem gehen sie zusammen joggen und feiern.

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Mitch Mathias, Mitarbeiter bei der LGBTQ-Nonprofit-Organisation Athlete Ally, findet, dass es etwas außergewöhnlich Intimes hat, für Medina zu posieren: "Die meisten Künstler wollen ja immer, dass man nur still dasitzt und den Mund hält. Medina will seine Motive hingegen kennenlernen." Durch diese persönliche Komponente könnten die künstlerischen Arbeiten über die Körperhaltung und den Gesichtsausdruck eine intime Geschichte erzählen.

Obwohl Grindr im Allgemeinen als Sex-App gilt, nutzen viele Leute den Dienst auch für andere Zwecke, sagt Medina. Er habe gelernt, dass selbst die User mit extrem versauten Profilen angenehme Menschen mit dem Wunsch nach einer tiefgreifenden Verbindung sein können.

Demnächst will Median nach Berlin reisen, seine Grindr-Porträtreihe dort fortführen und die weltweite LGBTQ-Community so noch besser kennenlernen. "Es hat zwar einige Jahre gedauert, aber heute bin ich so selbstbewusst wie noch nie", sagt der Künstler. "Das ist meine Bestimmung."

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