Die Berliner Öffis haben noch mehr Ideen von Bloggern geklaut

Am 15. Januar 2015 sollten die Berliner Öffis endlich sympathisch werden. Nein, die Ticketpreise stiegen weiterhin. Auch die Busfahrer schickte man nicht geschlossen ins Benimm-Seminar, die hauen einem noch immer gern mal die Türe vor der Nase zu. Und der “Drogentodeszug” U7 war auch nicht plötzlich sauberer als vorher.

Es war das Image, das poliert werden sollte. Dafür starteten die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) an diesem Tag vor fast drei Jahren eine großangelegte Kampagne. Mit #weilwirdichlieben sollten die Fahrgäste “ihre schönsten BVG-Momente” teilen. Es folgten – wen wundert es – wütende Tweets über Verspätungen, Schienenersatzverkehr und ständigen Kotzgeruch in der U8.

Videos by VICE

Ein “kalkulierter Shitstorm” sei das gewesen, verkündeten die BVG-Marketing-Experten fast zwei Jahre später stolz. Und schon dieser erste Streich bringt den Markenkern der Kampagne ziemlich gut auf den Punkt. Einer Kampagne, die es in den letzten Jahren immer wieder geschafft hat, genervte U-Bahn-Fahrer mit den kleinen und großen Unzulänglichkeiten der BVG zu versöhnen. Die Taktik: Der schnarchige ÖPNV wird umgedeutet zur frechen Marke. Mit “provokanter Berliner Schnauze” und kecken Antworten, wie für die sozialen Netzwerke geschaffen. Der Shitstorm von damals legte die Basis. Laut und krawallig wie ein U-Bahn-Horn rauscht die BVG seitdem durchs Internet. Und sammelte ganz nebenbei einen Haufen Preise für ihre Kreativität – die sie sich, ziemlich kreativ, auch mal im Internet organisierte.

Vor einer Woche hatte eine Instagram-Userin öffentlich gemacht, dass die BVG für ein Plakatmotiv die detailgetreue Kopie eines Fotos genutzt hatte, das sie selbst vor fünf Monaten gepostet hatte. Die beiden Bilder sahen beinah identisch aus: eine Frau mit Schirmmütze, blauer Bluse und gelben Haaren steht zwischen zwei Trams (bzw. Bussen). Zufall ausgeschlossen, Leugnen zwecklos.

“Das ist eine exakte Kopie bis auf die Farben der Kleidung und die Kette, da gibt es keine Ausreden”, räumte dann auch BVG-Pressesprecherin Petra Reetz vergangene Woche gegenüber VICE ein. Sie beteuerte, dass man der Instagrammerin nun ein Honorar zahlen wolle, und erklärte, dass es sich um den Fehler einer ihrer Agenturen handeln würde. “Unserer Agentur haben wir eins hinter die Ohren gegeben”, so Reetz. “Wir zahlen denen sehr gut, weil das Profis sind. Aber das ging gar nicht.” Gemeint war die Berliner Werbeagentur GUD.

Ungewohnte Schärfe und Ehrlichkeit lagen in den Statements – wie man es von konfliktscheuen Pressestellen eher nicht kennt. Die Message der BVG: Wir kümmern uns, sind ehrlich und vertuschen nichts. Eine Strategie, die mit ihrer direkten Berliner Art beinahe im eigenen Kampagnen-Zug hätte mitfahren können. Aber eben nur beinahe. Denn: Nach VICE-Recherchen ist es nicht das erste Mal, dass die BVG für ein eigenes Werbeplakat ungefragt ein Motiv aus dem Internet nachstellt. Die BVG zahlte sogar schon einmal eine Entschädigung.

Nachdem unser Artikel über die Plakat-Kopie der BVG online gegangen war, meldete sich nämlich eine zweite Frau bei VICE. Sie nennt sich “JJ”, ihren echten Namen will sie aus der Sache raushalten. Auch sie hätte, so erzählt sie, vor rund einem Jahr ein exakt nachgestelltes Foto von sich auf einem BVG-Plakat entdeckt. Darunter der Satz: “Wenn es nicht als It-Girl klappt, probiers mal als IT-lerin bei der BVG.” Mal abgesehen davon, dass der Slogan ein bisschen wackelt und dass zum Beispiel die taz in dem lustigen Werbeplakat eine Reproduktion von “Klischees naiver kleiner Mädchen” sieht – JJ selbst wusste auch gar nichts von dem Plakat.

JJ und ihre Freundinnen | Foto: Privat

“Das Motiv war angelehnt an ein Faschings-Foto, das ich 2013 mit 16 Jahren auf meinem Blog hochgeladen hatte”, sagt sie. Dass die BVG an diesem Foto interessiert war, wusste sie zwar: Im vergangenen Jahr habe sie eine Modelagentur angerufen, die das Bild mit ihr nachstellen wollte – im Auftrag von GUD. 400 Euro habe man ihr angeboten, sagt JJ, sie habe abgelehnt. Doch nur ein paar Wochen später habe sie dann entdeckt, dass die Agentur das Bild einfach eins zu eins nachgestellt hatte – ohne JJ zu fragen. Das Plakat gehört laut BVG zur eigenen Recruiting-Kampagne und hing vor allem in der Nähe von Berliner Schulen. JJ beschwerte sich bei der BVG und forderte eine Entschädigung. “Die meinten erst, dass ich rechtlich nicht damit durchkomme”, sagt sie heute. “Dann habe ich damit gedroht, mal beim Red Dot Design Award anzurufen, und sie haben eingelenkt.”

Und spätestens jetzt wird es richtig peinlich für die BVG. Denn schon damals, ein Jahr vor dem aktuellen Fall, gab sich deren Presseabteilung plötzlich ehrlich bestürzt über die Praktiken der beauftragten Agentur: “Ich bin auch überrascht, dass sich eine unserer Agenturen an fremden Ideen bedient”, schrieb der BVG-Marketingchef in einer Mail an JJ, die VICE vorliegt und deren Inhalt verdächtig nach den Statements von heute klingt. Man sei an einer “fairen Lösung des Problems” interessiert, hieß es da etwa, auch wenn die Agentur versichere, dass es keinen Anspruch auf eine Zahlung gäbe. Am Ende wurde JJ mit 600 Euro entschädigt. “Gewundert hat mich das aber schon”, sagt sie heute – “dass eine Firma, die zahlreiche Marketing-Preise gewinnt, solche Bilder unbekannter Blogger aus dem Internet nachstellt.”

Und wundern darf man sich tatsächlich, denn der erneute Plagiatsvorwurf mag so gar nicht zum Erfolg der “Weil wir dich lieben”-Kampagne passen. Seit diese raus ist, wurde die BVG mit etlichen Preisen ausgezeichnet. Aus dem größten kommunalen Verkehrsbetrieb Deutschlands wurde eine Marke, die nicht mehr nur für Personenverkehr steht, sondern sich sympathisch und frech wie Berlin gibt. Das sicherte der BVG die Sympathien ihrer Kunden, und offensichtlich öffnete es auch deren Geldbeutel: Über 12.000 Berliner sollen allein im zweiten Quartal 2016 ein neues Abo abgeschlossen haben. Die BVG wertet das als direkten Erfolg der Kampagne. Wie teuer die ist, ist hingegen nicht bekannt. Wie viel für Entschädigungen bezahlt wurde, will die BVG ebenfalls nicht verraten. Dabei besteht durchaus ein öffentliches Interesse an den Zahlen: Die BVG ist ein Unternehmen des Landes Berlin und strich im vergangenen Jahr rund 443 Millionen Euro aus der Berliner Landeskasse ein.

BVG will von weiteren Fällen nichts wissen

Als VICE die BVG mit dem zweiten Fall konfrontiert, spielt die ihn herunter. Zwar habe man im Fall von JJ tatsächlich eine Entschädigung gezahlt: “Es gab im Jahre 2016 eine Anfrage, die zur Zufriedenheit aller geregelt wurde”, so die BVG gegenüber VICE. Weitere Plagiatsfälle seien dem Unternehmen aber nicht bekannt. Und überhaupt: Die eigentliche Verantwortung liege bei der beauftragten Agentur. Genau dort fragen wir nach: Denn wie kann es bitte passieren, dass eine professionelle Werbeagentur von der Halskette bis zur Haarfarbe einfach Fotos aus dem Internet kopiert?

Die Werber können die Aufregung nicht nachvollziehen. Für sie sei die Kopie aus dem Internet eine Form von Satire gewesen. “Eine der grundlegenden Ideen der BVG-Kampagne ist es, skurrile oder schräge Motive und Memes aus dem Web zu recherchieren und diese satirisch aufzugreifen”, so ein Sprecher von GUD gegenüber VICE. Dieses “kreative Prozedere” sei “bekannt” und wäre auch seit Jahren kommuniziert und praktiziert worden. Weder GUD noch andere Agenturen oder gar die BVG stellten “systematisch Bilder nach”. Außerdem seien “sämtliche reale oder surreale Situationen im ÖPNV nicht nur einmal, sondern vielfach von Dritten” bildlich festgehalten worden. Heißt so viel wie: Bestimmt hat mal ein Tourist aus England in der U-Bahn einen kleinen Mops fotografiert, also dürfen wir auch Fotos von Blogs eins zu eins nachstellen. So weit, so logisch.


Auch bei VICE: Warum sich nordkoreanische Zwangsarbeiter in Polen zu Tode schuften können


Die Agentur gibt sich aber auch selbstkritisch: “Es ist eine Gratwanderung”, so die Agentur GUD zur rechtlich komplizierten Lage. “Es gilt, jedes Mal neu zu prüfen, inwieweit Urheberrechte Dritter betroffen sind und die Urheber um Erlaubnis gefragt werden müssen.” Das habe man getan, wenn Urheberrechte betroffen gewesen seien.

Klar ist: Auch die Nachstellung einer Fotografie kann eine Urheberrechtsverletzung darstellen, wenn die schöpferische Leistung und die prägenden Merkmale in der Ursprungsfotografie übernommen werden. Der aktuelle Fall ist aber tatsächlich knifflig: Die Agentur hat die Fotos mit all ihren prägenden Merkmalen wie den Klamotten, der Haarfarbe und den Accessoires bei beiden Fotos nachgestellt und mit einem lustigen Text versehen. Ist das schon Satire oder einfach eine dreiste Kopie?

Im Fall der Instagrammerin mit den markanten gelben Haaren unter der Schirmmütze sehe die Agentur aufgrund der “satirischen Aufladung” jedenfalls keine Urheberrechte verletzt. Auf einen Shitstorm oder gar ein Nachspiel vor Gericht will man es aber scheinbar nicht anlegen: Man habe der Ideengeberin ein Honorar angeboten, teilt die Agentur mit. Wie hoch das ist, wollen weder die Instagrammerin noch die Agentur verraten. Für die Zukunft will die GUD sich die Rechtslage nun aber etwas gründlicher ansehen: “Wir nehmen die gegenwärtige Diskussion zum Anlass, dies einer erneuten Prüfung zu unterziehen”, so ein Sprecher.

Die BVG wird die Plagiatsaffäre, ähnlich wie die wütenden Verspätungs-Tweets, vermutlich aussitzen – und auch in diesem Jahr nicht weniger als eine Milliarde Fahrten zählen. Nur für die berühmte Kampagne dürfte es künftig wohl ein paar Preise weniger geben – zumindest wenn noch weitere Hobby-Kreative beim Warten auf die nächste Bahn ihre nachgestellten Fotos auf Plakaten finden.

Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.