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Krise in der Ukraine

Haben junge Ukrainer Angst vor Krieg?

Wir haben uns mit verschiedensten jungen Ukrainern unterhalten. Sie haben uns erzählt, was sie sich wünschen und wovor sie sich derzeit am meisten fürchten.

Gesichter aus der Kampfzone. Foto von Giles Clarke.

In der Ukraine geht die Angst vor einem Krieg mit Russland um. Die Bevölkerung ist extrem verunsichert, die neue Regierung fest entschlossen, das Land zu verteidigen. Aber während die Lage in dem osteuropäischen Land für den Großteil der westlichen Medien klar zu sein scheint und die Russen als Aggressoren gelten, herrscht in dem Land selbst große Uneinigkeit. Die südlichen und östlichen Landesteile, die mehrheitlich von russischsprachigen Bürgern bewohnt werden, fühlen sich durch die Revolution bedroht. Sie befürchten Repressionen und verlangen Schutz vor der Regierung in Kiew.

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Für die Demonstranten auf dem Maidan ist die Angst hingegen unbegründet. Im Gegenteil. Sie fühlen sich von Russland bevormundet und fordern ein freies und selbstbestimmtes Land. Von einer nationalistischen oder gar faschistischen Stimmung wollen sie nichts wissen. Auch eine Teilung des Landes kommt für sie nicht in Frage. Jetzt weiß niemand so recht, wie es in dem Land weitergeht.

Wir haben uns deshalb mit verschiedensten Ukrainern unterhalten und versucht zu verstehen, wie es wirklich um die Stimmung in dem Land steht. Journalisten, Maidan-Aktivisten, Designer und Unternehmer, Menschen unterschiedlichster Meinungen haben uns erzählt, was sie sich wünschen und wovor sie sich fürchten. Aber bei einer Frage waren sich alle einig: Bei allen gewünschten Veränderungen soll die Ukraine in ihren Grenzen bestehen bleiben.

Nadiia Shapoval, 24, Model & Stylistin. Nadiia kommt aus Kiew, lebt aber momentan in Mailand, wo sie Fashion Business und Brand Management am Marangoni Institut studiert.

VICE: Die Welt verfolgte die ukrainische Revolution online. Auch du hast die Ereignisse in deiner Heimatstadt vor dem Computer verfolgt. Wie war das für dich?
Nadiia Shapoval: Ich habe sehr viele Nächte nicht schlafen können und verfolgte die Geschehnisse im Internet. Aber für mich war das kein filmisches Drama, es war real. Ich war ziemlich besorgt und wollte unbedingt dabei sein—auf dem Maidan. Aber jetzt habe ich so ein unwirkliches Gefühl über die Dinge, die ich da gesehen habe. Es war schwer zu begreifen, dass ukrainische Politiker dieses Blutbad zugelassen haben. Ich habe einige Unterstützerveranstaltungen besucht und legte an den gewalttätigsten Tagen Blumen an den Türen des ukrainischen Konsulats nieder. Das war das einzige, was ich hier in Mailand tun konnte.

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Haben die Geschehnisse auf dem Maidan deine Wahrnehmung der Ukraine verändert? Bist du patriotischer geworden?
Ich bin in der Ukraine geboren und dort aufgewachsen, deshalb hatte das Land immer einen Platz in meinem Herzen. Meine Eltern und Großeltern haben dieses Thema auch immer sehr ernst genommen. Zu Zeiten der Sowjetunion wurden einige meiner Familienangehörigen und Freunde unterdrückt und in Konzentrationslager geschickt, weil sie Patrioten waren. Also weiß ich aus erster Hand, dass schlimme Dinge mit dir passieren können, nur weil du dein Land, die Ukraine, liebst. Aber bisher wollte ich lieber immer nur in einer modernen Konsumgesellschaft leben und habe mir nie ernsthafte Gedanken über Patriotismus oder nationale Identifikation gemacht. Doch jetzt, wegen der Revolution, habe ich mich verändert. Mir ist klar geworden, dass wo immer ich gerade bin, die Ukraine meine Heimat ist.

Was denkst du, was passiert jetzt, nach der Revolution?
Wenn du einem Huhn den Kopf abschlägst, dann rennt es noch eine Weile rum. Dasselbe wird auch mit unserer Regierung passieren und sie werden versuchen das kriminelle Regime erneut zu etablieren. Aber sie werden keinen Erfolg damit haben. Natürlich steht das Land vor ernsthaften Problem und Veränderungen. Und ich bin über die separatistischen Bewegungen und Provokationen, die von Russland ausgehen, sehr besorgt. Meine russischen Kommilitonen sagen, dass das Grauen in der Ukraine einkehren wird, weil radikale Nationalisten oder Faschisten Russen töten wollen und dass es eine starke Abneigung gegen Russen gibt und so einen ganzen Scheiß. Das ist das Resultat der grundlosen russischen Propaganda. Aber wir brauchen niemanden, der sich in unsere Angelegenheiten einmischt.

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Wie siehst du die Entscheidung des russischen Parlaments, Truppen in die Ukraine zu entsenden?
Ich glaube Putin hat sich selbst zum Tode verurteilt. Falls er wirklich eine militärische Operation starten sollte, wird sein Teufelsimperium untergehen. Er drückt und drückt und am Ende dringt er in das Land ein. Vielleicht will er ja morgen dasselbe auch in Europa tun.

Anton Schnaider, 33, Art Director bei SILA. Mitbegründer des Ksenia Schnaider-Fashionstudios und russischer Staatsbürger, der in Kiew lebt.

VICE: Du bist Russe und lebst seit drei Jahren in Kiew. Hast du die Maidan-Demonstrationen besucht?
Anton Schnaider: Während den Demonstrationen bin ich oft am Maidan vorbeigelaufen, aber den Platz selbst habe ich nie betreten. Ich habe mir alles im Internet angesehen—auf Youtube, Facebook usw. Ich hab häufig mit Freunden und Bekannten darüber diskutiert. Ich las alles zu diesem Thema, verglich Fakten und Meinungen und schaute mir Karten an. Ich bin die Sache mit dem Verstand eines Designers angegangen. Mein Job ist es schließlich, zu verstehen wie die Dinge funktionieren, alles Bestehende anzuzweifeln und nach den Wurzeln zu suchen. Aber auch auf dem familiären Level spielte die Revolution eine Rolle, denn meine Frau ist Ukrainerin und wir diskutierten häufig miteinander. Und die Karten habe ich mir angesehen, um das Stadtzentrum zu umgehen.

Was denkst du über die Dinge, die dort passiert sind?
Das Ganze macht mir Angst. Weil nichts klar zu sein scheint, aber gleichzeitig alles klar ist. In diesem Konflikt sind so viele Interessengruppen verwickelt. Und der Informationskrieg und die ganzen Provokationen von allen Beteiligten, tragen ihren Teil zu dieser allgemeinen Verwirrung bei. Aber so ist das in einem Bürgerkrieg. Da sind die Bilder von dir und deinem Feind ziemlich verschwommen.

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Wie fühlt man sich als in der Ukraine lebender Russe während so eines Konflikts?
Ich fühle eine russophobe Stimmung, aber gleichzeitig lese ich die Posts von meinen Freunden, die schreiben: „Oh nein, nein. Es geht nicht gegen Russland. Es geht gegen das Regime von Janukowitsch. Und dann wieder solche radikalen Äußerungen wie: „Russen sind Sklaven“ und „Wir sind keine Russen“. Mir gefällt das nicht. Das erste Mal, dass ich gehört habe, dass Russen Ukrainer hassen, war in Kiew. Von den Ukrainern selbst. Und wenn das wahr ist, dass da wirklich so was wie Hass besteht, dann ist es derselbe Hass, wie er zwischen St. Petersburgern und Moskauern herrscht. Das ist also primitiver Nonsens, den man überall auf der Welt finden kann.

Wie denkst du, wird die Ukraine nach der Revolution aussehen?
Ich hoffe, die Menschen lassen sich nicht auf die Manipulationen der Medien ein. Ich hoffe, die Ukraine wird ein Ganzes und bleibt unabhängig. Mit den selben Grenzen, aber mit einer coolen Regierung, die den Menschen das Gefühl gibt, dass sie ihr Land zukunftsorientiert gestalten können. Aber ich habe Angst davor, dass das noch nicht alles war und sich das Land spalten wird. Dass sich zum Beispiel die Krim abspaltet. Ich habe nicht von der Abspaltung selbst Angst, aber von den Dummheiten, die darauf folgen würden.

War die Ankündigung des russischen Präsidenten, Truppen in die Ukraine zu entsenden, eine Überraschung für dich?
Ja, das war sie. Russland will zeigen, dass es bereit ist, wenn es einschreiten muss. Das ist alles ein großes Schachspiel. Aber die meisten meiner Freunde haben Angst, gegen ihre Brüder kämpfen zu müssen.

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Ksenia Kalinovskaya. 25. Maidan-Aktivistin, Produzentin und Journalistin. Lebt in Odessa. (Foto: Kristina Podobed)

VICE: Warum hast du dich dafür entschieden, nach Kiew zu kommen und die Demos auf dem Maidan zu unterstützen?
Ksenia Kalinovskaya: Nach der Orangenen Revolution, wurde ich zu einem sehr apolitischen Menschen, wie die meisten Ukrainer. Aber als die ganze Sache mit der europäischen Integration und den dazugehörigen Reformen ins Rollen kam, veränderte sich etwas in mir und weckte mein politisches Bewusstsein. Ganz intuitiv. Also fuhr ich Ende November nach Kiew, um Teil des Maidan zu werden und zu sehen, welche Aufgaben ich dort für mich finden kann. Ich begann als Journalistin für unabhängige Medien zu arbeiten. Aber ich habe ein aktivistisches Naturell, also begann ich verschiedene freiwillige Tätigkeiten zu übernehmen. Anfangs schmierte ich Brote in den Küchen und am Ende besorgte ich Steine, um die Jungs bei den Kämpfen gegen die gewalttätige Bereitschaftspolizei vom 19. und 20. Februar zu unterstützen.

Also warst du während den blutigsten Tagen dort?
Ja, und diese Tage waren grauenvoll. Es war echter Krieg und ich hatte Angst, dass er sich auf das gesamte Land ausweiten könnte. Ich habe sie alle gesehen: verletzte und tote Demonstranten. Ich erinnere mich an die vorbei fliegenden Kugeln und explodierenden Granaten. Aber wenn du da bist, dann hast du keine Angst davor. Denn wenn du siehst, wie deine Brüder sterben, dann verändert sich alles. Hier ist mein Rat an alle Ukrainer: Hört auf, die falschen Informationen im Internet zu lesen. Bewegt einfach euern Arsch auf den Maidan. Dann werdet ihr das wahre Naturell und die Bürger eures Landes kennenlernen.

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Was erhoffen sich du und die Leute auf dem Maidan von den Parlamentswahlen am 25. Mai?
Ich persönlich will keine „Stabilität“, welche das Hauptmotto der bisherigen Regierung war. Für mich ist Stabilität fauler Scheiß. Wir brauchen Entwicklung und Veränderungen. Stetige Entwicklung. Nur so werden wir sehen, wie zukunftsträchtig wir alle wirklich sind. Jetzt wissen die Menschen, wie man sich versammelt, wie man Fackeln abbrennt und Molotow Cocktails wirft. Es ist nicht der intelligente, europäische Weg, so zu agieren, aber leider verstehen unsere Politiker nur diese Sprache. Jetzt müssen sie neue Dinge lernen. So machen wir das, die Ukrainer. Hoffentlich werden keine Fehler mehr gemacht.

Was wirst du als nächstes tun?
Ich werde alles dafür tun, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Der Boden des Maidan ist noch nicht abgekühlt. Und nach dem hunderte Helden gestorben sind, werden wir wieder unterdrückt. Und wer macht das? Der, der sich selbst „große Bruder“ nennt. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Ich wünsche mir Putin und Janukowitsch zusammen in Den Haag zu sehen.

Alexander Nevedrov (links), 31, Mechaniker und Mitbegründer von ICM (Iron Custom Motorcycles). Er kommt aus Kharkiv und ist gegen den Maidan.

VICE: Wie hast du auf die Ereignisse auf dem Maidan erlebt?
Alexander Nevedrov: Noch bevor es hieß, dass die Unterzeichnung des Abkommens mit der EU ausgesetzt wird und die Demonstrationen begannen, war ich mir sicher, dass ein Abkommen oder gar ein EU-Beitritt für die Ukraine nicht von ökonomischem Vorteil wäre. Aber vor zehn Jahren, während der Orangenen Revolution, als noch junges Blut in mir brodelte, war ich auch dort. Deshalb kann ich verstehen, wenn die Jungs in den Kiewer Straßen für mehr Demokratie und Gerechtigkeit demonstrieren.

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Natürlich streben die Menschen nach einem besseren Leben, aber als jemand, der sehr viel im Ausland gearbeitet hat, weiß ich, dass das Leben in Deutschland, Österreich und anderen EU-Ländern auch nicht so süß schmeckt wie es scheint. Unsere Medien kreierten eine Illusion. Sie erzählten den Leuten, dass es sich bei dem Abkommen um ein Abkommen zum EU-Beitritt handelte. Und niemand las nach, worum es sich wirklich handelte. Das war der Punkt, an dem ich bemerkte, dass die Leute gezielt manipuliert werden.

Wann hast du dich entschieden, gegen die Revolution zu sein?
Vielleicht als sie das Lenin-Denkmal niedergerissen haben … aber du kannst jetzt sagen, dass es einfach nur ein sehr emotionaler Moment gewesen ist. Ich glaube so richtig ging es los, als ich die Porträts von Bandera gesehen habe. Für mich war das der Moment, an dem der demokratische EuroMaidan zu einer radikalen revolutionären Bewegung mutierte.

Was passiert als nächstes? Was würdest du dir wünschen?
Ich hoffe, dass unsere ausländischen Partner die Leute auf dem Maidan entwaffnen und solche Radikalen wie Yarosh, Muzichko und Pharion daran hindern, politische Macht zu erlangen. Radikalität muss reduziert werden und die Interessen der östlichen und südlichen Landesteile müssen berücksichtigt werden. Ich glaube eine Teilung wäre nicht das Beste für unser Land. Ein föderales Staatsgebilde wäre gut. Und nein! Föderalismus ist nicht gleich Separatismus. Das ist wieder nur so ein Slogan. Ungebildete Menschen lieben es, in Slogans zu reden. Aber Deutschland, Kanada, USA—sind das zusammengebrochene Staaten? Nein. Die Erlaubnis, regionale Entscheidungen zu treffen, würde die vernünftigste Entscheidung sein.

Erwartest du einen Krieg?
Nein. Nur im ukrainischen Fernsehen und auf CNN haben wir Kriege. Sie vermitteln ihre Informationen sehr aggressiv. Ich bin mit Julia Timoschenko einer Meinung: „Das ist ein Nervenkrieg.“

Yurko Ivanyshyn, 42, Mitbegründer von UkrStream.TV, Filmproduzent. Aus Lwiw stammender Maidan-Aktivist.

VICE: Stimmt es, dass es deine Idee war, die Ereignisse auf dem Maidan live zu streamen?
Yurko Ivanyshyn: Ja, UkrStream ist mein Projekt. Ich begann damit während des EuroMaidan—ich meine die ersten Tage auf dem Maidan, als da noch friedliche Demonstranten standen und für die europäische Integration demonstrierten. Als ehemaliger Journalist realisierte ich, dass die Menschen eine solch historische Zeit unverstümmelt mitverfolgen sollten. Also stoppte ich alle meine Projekte und rief UkrStream.TV ins Leben. Ich und meine Kollegen beschlossen Kameras aufzustellen und die Ereignisse kommentarlos in alle Welt zu streamen.

Du warst mehrere Monate auf dem Maidan. Wie würdest du die Stimmung beschreiben?
Da gibt es viel Trauriges zu erzählen, aber es hat auch was Gutes: „Ärger verbindet“. Auf dem Maidan haben die Menschen kleine unwichtige Dinge vergessen, die sie gestern vielleicht noch getrennt hätten. Sie sind jetzt hier für einen höheren Zweck. Es ist sehr wichtig tolerant zu bleiben, aufeinander zuzugehen und nicht zu streiten. Glaubt nicht daran, wenn euch erzählt wird, dass Radikale oder Faschisten auf dem Maidan sind. Ja, da sind Anhänger von Stepan Bandera—ich zum Beispiel—aber bevor du uns Faschisten nennst, dann vergewissere dich, dass du nicht unter dem Einfluss von anti-ukrainischer Propaganda stehst. Du kannst historische Quellen lesen oder auf den Maidan kommen und mit den Menschen reden.

Hast du eine Art Offenbarung auf dem Maidan erlebt?
Weißt du, die Europäer haben mich überrascht. Viele internationale Journalisten wohnten im Hotel „Ukraina“ und einmal, nach der blutigen Nacht, haben die Jungs von Selbstverteidigungseinheit dort nach Scharfschützen gesucht. Sie versuchten jeden Raum zu überprüfen, um nachzusehen, ob professionelle Scharfschützen dort Geiseln genommen haben. Das ist ganz normal. Und manchmal, wenn ein Mann die Tür öffnet und sagt, dass es ihm gut geht, kann er trotzdem eine Geisel sein. Ein französischer Journalist begann zu schreien und zu lamentieren…Er nannte uns „Faschisten“. Ein Journalist, der ein intelligenter und offener Mensch sein sollte und Informationen in sein Land weitergibt! Ich war geschockt. Also ist auch in Europa nicht alles ganz richtig. Sie verstehen nicht wirklich, was Faschismus ist. Ich wäre stolz, wenn wir Ukrainer in ganz Europa beispielhaft für Vernunft stehen würden.