Sonntagabends guckt Deutschland Tatort, ist so. Wenn Til Schweiger die Hauptrolle spielt, will es keiner gesehen haben, aber am Ende sind die Einschaltquoten so hoch wie nie. Ist auch so. Dieses Mal hat der NDR einen Coolness-Move für uns urbane Tastemaker eingebaut, die wir uns über Twitter ab 20.15 Uhr darüber aufregten, dass Nick Tschiller nur einen Gesichtsausdruck kann: sie platzierten einen Song von Haftbefehl im Tatort.
Beim Song handelte es sich um „Psst!“ aus dem Jahr 2010. Ziemlich alt und noch nicht mal eine reguläre Veröffentlichung—trotzdem ziemlich bekannt. Denn dank dieses Songs hat Aykut Anhan alias Haftbefehl schon seit einiger Zeit ein Problem: Ihm wird anhaltend Antisemitismus vorgeworfen. Grund dafür ist eine Zeile: „Und ticke Kokain an die Juden von der Börse“.
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Exakt diese Zeile wurde nun am Sonntag im Tatort gespielt. Die Szene allerdings war etwas skurril: Ein paar Kids gucken sich—wie das so ist in Deutschlands Ghetto-Hinterhöfen—auf ihrem Handy Haftbefehl-Videos an. Genauer: Das Video zu „Chabos wissen wer der Babo ist“. Unterlegt wurde diese Szene allerdings mit einem anderen Song, eben „Psst“.
Es stellt sich die Frage, was die Tatort-Redaktion des NDR dazu bewegt hat. Warum haben sie nicht passend zum Video „Chabos wissen der der Babo ist“ gespielt? Vielleicht weil dieser Song schon längst durch alle Medien gegangen ist und damit weniger Skandal-Potenzial hatte?
Die Verantwortlichen haben sich jedenfalls entschieden, etwas tiefer in der Kiste alter Hafti-Songs zu graben. Sie haben sich entschieden, einen Song zu spielen, der—als der Offenbacher noch sehr viel unbekannter war—schon für einen Skandal gesorgt hat. Und sie haben sich dazu entschieden, exakt die Zeile zu spielen, die schon lange für Kritik an Haftbefehl sorgt.
Die Motivation dafür liegt auf der Hand: Der NDR wünscht einen Skandal—selbst wenn er billig inszeniert ist. Dankbarer Aufmerksamkeitstriggerer und Skandal-Lostreter—und auf diese Art Partner in Crime des NDR—ist die BILD-Zeitung. Die stürzt sich mit Wonne auf das Thema, titelt: „Antisemitischer Tatort-Rap—Fall für den Fernsehrat“.
Klar, da freut man sich im Springer-Hochhaus, endlich kann man Klicks mit jemandem abgraben, der der Zeitung mit den vier großen Buchstaben bisher konsequent alle Interviews verweigert. Und natürlich springen in kürzester Zeit alle auf den nun in Fahrt kommenden Antisemitismus-Zug auf, man muss sich nur mal die Google News-Artikel aus den letzten drei Tagen ansehen—es sind mehr als 4600.
Wie schon bei der unsäglichen Plakatkampagne des CSU-Stadtratskandidaten Fabian Giersdorf geschieht hier etwas mit Haftbefehl, für das er selbst kaum etwas kann—sein Fame und seine Person werden von Dritten zu ihren Gunsten instrumentalisiert und missbraucht.
Haftbefehl selbst könnte sich nun fein raushalten und warten, bis der sogenannte Skandal nächste Woche wieder vergessen ist. Aber der Vorwurf des Antisemitismus scheint ihn wirklich zu treffen, also versucht er sich zu wehren. Heute veröffentlichte er auf seiner Facebookseite ein Statement:
„…Ich bin kein Antisemit. Darüber hinaus beurteile ich keinen Menschen aufgrund seiner Religion, Ethnie oder Hautfarbe. Bei uns existiert so was nicht und jeder der sich die Mühe macht, sich mit mir und meinem Umfeld zu beschäftigen, wird dies erkennen und verstehen. Wir sind Kanaken, Balkans, Kartoffeln, Schwarze, Zigeuner, Ölaugen und Juden. Wir sind Brüder und Schwestern. Wir schätzen und lieben uns…“
Die Zeile entstand laut Haftbefehl tatsächlich aus persönlichen Erfahrungen, eben mit Bankern aus Frankfurt.
„…Zu der Textzeile, die aus mir einen Antisemiten machen soll, möchte ich folgendes ergänzen: Als ich noch als Jugendlicher am Frankfurter Banken und Bahnhofsviertel Drogen verkaufte, hatten einige meiner ‘Stammkunden’ jüdische Wurzeln.
Hätte ich Gummibärchen an Eskimos verkauft, wäre die Textzeile anders ausgefallen…“
(Das gesamte Statement könnt ihr hier lesen.)
Wer Haftbefehl und seine Musik kennt, wird die Zeile besser einschätzen können als BILD oder der NDR. Dass sich Hafti beim Schreiben dieser Zeile wirklich keine Gedanken um Antisemitismus gemacht hat, klingt vielleicht naiv, aber es ist vermutlich wahr. Dieser Mann hat als Jugendlicher Drogen an Banker verkauft und seine Wahrnehmung war, dass viele davon jüdische Wurzeln hatten, kurz: „Ich ticke Kokain an die Juden von der Börse.“ Auf die darauf folgende Zeile aus dem Text achtet dagegen niemand, dabei setzt sie alles in Relation: „Alter, ich schwöre, ich hab alles erlebt, weiß, wovon ich Rede, mein Leben war nicht schön.“
Abgesehen davon ist die Diskussion über die Kokain-Juden-Zeile übrigens schon uralt. Vor zwei Jahren (immerhin war der Song auch da schon fast zwei Jahre alt), schrieb Boris Peltonen in der Welt erstmals darüber. Daraufhin interviewte VICE-Autor Stefan Zehentmeier den Azzlacks-Kollegen Celo, der sich schon damals mit einer ähnlichen Formulierung gegen die Vorwürfe verwehrte, wie jetzt Haftbefehl.
Die perfekte Zusammenfassung der Diskussion schrieb (wohlgemerkt vor beinahe zwei Jahren) Marcus Staiger bei den Kollegen von Spex. Ein sehr lesenswerter, tiefgehender Artikel über Antisemitismus im deutschen Rap, auch für die Kollegen der Bild interessant.
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