Hang Loose zwischen Maschinengewehren: Warum jeder Surfer mal nach Israel sollte

Warum mein Reisepass noch so neu ist und ob ich mein weißes Hemd selbst gebügelt hätte, möchte die Grenzbeamtin am Terminal 1C in Frankfurt gerne wissen? Wer meinen Koffer gepackt hat, und wieso unser Fotograf unbedingt im Wasser fotografieren möchte auch. Wer ihm denn den Zweitnamen “Amon” gegeben hätte und wieso wir zum Surfen überhaupt nach Israel fliegen? Wo genau wir uns aufhalten werden und welche Erwartungen wir an diese Reise hegen? Weshalb Leon Glatzer dafür gerade aus Lissabon anreist und wir uns in unseren Antworten nicht besser abgesprochen hätten, kann ich drei Stunden vor Abflug auch noch nicht genau sagen. Dafür aber, dass Israel am Check-in beginnt. Dort, wo deine Urlaubsstimmung unter Aufsicht von Maschinengewehren gewogen wird und sich die Menschen in weißen Räumen noch für dich und die Herkunft deiner intimsten Pflegeprodukte interessieren.

Bar Refaeli, heiliges Land und Jahrtausende alte Konflikte. Mehr Fragen als Antworten und Religion als unüberwindbarer Schatten extremer Gefühle. Was man eben so weiß über dieses Land. Aber Israel ist für uns mehr als nur vorgefertigte Antworten auf hermetisch abgeriegelten Kontrollzwang. Mehr als Stereotype und viel mehr als nur reine Surfdestination. Ein Ziel, das mehr als nur Meer fordert und sich durch eine Sportart Zugang zu Räumen verschafft, die wir unbedingt betreten möchten. Ob leichtfüßig in weltoffenem Wahnsinn oder tonnenschwer unter religiösem Dogma, erfährt Kontrast zwischen Tel Aviv und Jerusalem (besser noch Hebron) ganz neue Dimensionen, die weniger als eine Stunde voneinander entfernt liegen.

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Tel Aviv (Foto: Konstantin Arnold)

Wenn Israel bereits am Check-in beginnt, hört es in Tel Aviv direkt wieder auf. Weltoffen bis in jeden einzelnen Backstein und ein internationaler Schmelztiegel, der nur das Beste aller Mentalitäten in sich vereint. Die Schönheit Brasiliens, den Stil der Franzosen, die Ausgelassenheit Australiens, die Offenheit der Italiener und sogar der Tiefgang der Deutschen vermengen sich zu einem Szenario, das etwas in uns auslöst. Dass jeden Barbesuch im „Rotschild 12″ zu einer bewusstseinserweiternden Lehrstunde macht, in der jede Barbesucherin mindestens zwei Jahre langen Militärdienst geleistet hat. In der du jedes Gespräch führst, als wäre es dein letztes, in der du den nächsten Gin Tonic bestellst, als wäre es dein erster und alles zusammen in Freiheit genießt, als gäbe es in der Tat keinen Morgen mehr. Keine sittliche Gesinnung, keine befohlene Moral, außer der deiner eigenen und der, dass man Falafel wirklich nur zur Wochenmitte und um die Mittagszeit essen sollte. Nach einer Woche in dieser Stadt willst du dein Leben ändern, deine Beziehung beenden, alles Bestehende in Frage stellen und deine Koffer von nun an nur noch hier auspacken, weil es sich wie Verschwendung anfühlt, nur eine Minute ohne dieses Pulsieren verbringen zu müssen.

Tel Aviv ist ein Staat im Staat, der den Nahen Osten noch näher bringt und Grund dafür ist, dass wir, und das-permanente-Gefühl-etwas-zu-verpassen, in den vergangenen Nächten so wenig geschlafen haben. Es ist eine Überlastung an Möglichkeiten, die über die „Purim”-Feiertage ihren alljährlichen Höhepunkt findet, weil es direkt zum Start unserer Reise alle Juden dazu auffordert, verkleidet richtig viel Wein zu trinken. Eine ganze Stadt heißt uns willkommen. Sogar die Humusverkäuferin an der Ecke beteuert Morgen für Morgen, dass sie deutsche Touristen von allen am allerliebsten hat. Weil wir mit einem professionellen Surfer unterwegs sind und verdammt viele Kameras tragen oder solche Komplimente das Geschäft einfach zum Florieren bringen, ist uns egal. Wir fühlen uns aufgenommen, angekommen und verzaubert, wenn osmanische, arabische und israelische Tradition im Altstadtteil „Jaffa” aufeinandertreffen. Wenn nach acht nur noch Anzügliches durch die Vokabeln einer heiligen Sprache dringt oder sich braun brennende Badenixen an der Promenade klarstellen, warum „Tel Aviv eine einzige Blase ist, in der man nichts, absolut nichts von Mauern, Gewehren und Konflikten” mitbekommt und „einfach nicht über Politik reden möchte”. Fakt ist, die Wellen des Tiefdruckgebiets im Mittelmeer haben gerade erst Griechenland erreicht. Das gibt uns hier noch zwei Tage!

Leon Glatzer am Strand von Tel Aviv (Foto: Louis Josek)

Israel gibt es seit 1948. Surfing in Israel seit 1957, als Dorian „Doc” Paskowitz den „Endless Summer” in das Heilige Land brachte. Der ewig reisende Amerikaner starb vor wenigen Jahren und wurde bereits zu Lebzeiten wie ein Heilsbringer verehrt. Im authentischsten Surfshop der Stadt, der „Klinika”, direkt am „Hilton Beach”, hängt heute ein Gemälde des Vorreiters mit dem Zitat: „Menschen, die miteinander surfen, können auch miteinander leben”. So wie in Haifa, einer nördlichen Küstenmetropole, die einen Großteil von Bewohnern und Surfern arabischer Herkunft beherbergt und von Stränden umzingelt ist, die anders als im quirligen Tel Aviv auch mal weniger Surfer im Wasser zulassen. Spricht man Arthur Rashkovan oder Shachar Aharoni, die Mitbegründer von „Surfing For Peace”, auf die Legende Paskowitz’ an, wird die harte Schale gestandener Männer schnell zur sensiblen Gänsehaut, denn Surfing ist nicht nur im Gazastreifen, sondern ganz Israel von hoher emotionaler Bedeutung.

Tel Aviv; Foto: Louis Josek

Seit 2016 ist die „World Surf League” erstmals wieder mit einem Qualifiying-Event, dem „Seat Pro Netanya”, vertreten und gibt nationalen Stars wie Yoni Klein oder den Lilior-Schwestern wieder eine heimatliche Bühne des internationalen Wettkampfs. Auch David Noy und Ely Cassirer, zwei junge Talente, die gerade mit einem Sixpack Bier (immer noch Purim) in unserem Hotel aufgekreuzt sind, würden in diesem Jahr gerne alles in den Traum des Profisurfens stecken und wieder an internationalen Wettkämpfen teilnehmen, müssen jedoch unmittelbar nach den Feiertagen ihren dreijährigen Wehrdienst antreten. Danach ist man entweder zu alt, zu geschädigt oder verdammt in Eile, wenn man den sportlichen Karrierezug noch erwischen möchte. Indonesien, das Land, in dem Milch und Honig in perfekten Wellen fließen, darf man mit israelischem Pass auch nicht besuchen, was für die Launen des Mittelmeeres natürlich ein optionaler Segen wäre. Eine Politik, die ziemlich sportliche Hürden baut, durch die eine nachhaltige Entwicklung israelischer Surftalente mehr als nur beeinträchtigt wird.

Leon Glatzer (Foto: Konstantin Arnold)

Umso mehr feiert Israels Surfszene unseren Besuch und internationale Surfstars wie Leon Glatzer. Sohn deutscher Eltern, geboren auf Hawaii und aufgewachsen in Costa Rica, zählt der 20-Jährige zu den international erfolgreichsten Surfern mit deutschem Pass überhaupt. Sogar einen Geheimtipp, eine Riffplatte nördlich von Netanya, dürfen wir surfen. Und in dem Ruinenpanorama südlich von Haifa dürfen wir sogar Bilder machen – nur nicht von den angrenzenden Militärstützpunkten, wohlgleich die Soldaten hinter dem Stacheldrahtzaun jedes einzelne Manöver unseres Goldjungen mit Getöse verfolgen. Sie wollen, dass wir der Welt erzählen, wie weit sich Israel bereits zu einer ernst zu nehmenden Surfing-Nation entwickelt hat.

Mittlerweile hatten wir jeden Tag Wellen, ohne das überhaupt gewollt zu haben. Sogar in Tel Aviv, zwischen den Molen. Wir sehnen uns nach Ruhe, die wir an einem Ort finden, der dem Filmset einer Bond-Verfilmung gleicht. Der Kunstschätze im Wert von über 600 Millionen Euro beherbergt und durch die vielen weißen Bademäntel wie eine Entzugsklinik wirkt, in Wahrheit und Vergangenheit aber als Sanatorium für psychisch geschädigte Soldaten diente. Dieses Hotel ist der unbestreitbar beste Ort auf der Welt, um sich verzehrt und gezeichnet den eigenen Altlasten hinzugeben. Auf dem Weg dorthin sprechen wir über Tunnel, Grenzen und den wahren Vitamingehalt von Trockenfrüchten. Shachar erzählt uns, dass sein Vater ein hoher Sicherheitsbeamter war und sie den Gazastreifen seit Jahren mit Neoprenanzügen und Surfboards versorgen möchten, doch immer wieder an der wahllosen Willkür der Hamas-Regierung scheitern. Eingesperrt am Meer? Surfen als wahre Flucht begreifen? Vorstellungen, die unser Interesse an diesem gesellschaftlichen Schockfrost noch vor dem Aussteigen keimen lassen.

Foto: Louis Josek

Aber wie wir jetzt an diesem Ort gelandet sind, an dem man originale Picassos vom Esstisch aus bewundern oder mit einem Glas Rotwein im Bademantel durch teure Kunst flanieren kann, vermag ich mir immer noch nicht zu sagen. Wir haben ohne Budget einfach ahnungslos Hotels angeschrieben und ihnen gesagt, dass wir zusammen mit Leon Glatzer kommen. Dass wir am Ende in Israels Topunterbringung landen und einen Ort kennenlernen, der so abwegig wie einmalig ist, hätte nun wirklich niemand ahnen können. Trotzdem haben wir schnell genug von wohltuendem Thermalbad ab 40 und umso entzückterem Hotelpersonal. Wir wollen mehr! Endlich Gegensätze erfahren. Blasen verlassen, uns irgendwie bedroht und demütig fühlen. Also wieder wenig Schlaf und um sechs Uhr morgens nach Jerusalem!

Vor der Klagemauer in Jerusalem (Foto: Louis Josek)

Jerusalem ist ein wunderbarer Ort, um Atheist zu werden oder sich in unzähligen Touristenshops bis auf die Socken völlig neu einzukleiden. Ein Ausverkauf von Religion, der nicht einmal vor den Ritualen der Klagemauer haltmacht. Fotowütige Abenteuertouristen inmitten Jahrtausende alter Gassen und Gartenstühle, die vor Heiligkeit und Abnutzung strotzen. Wie wir zum Felsendom kommen, will uns auf jüdisch-orthodoxer Seite niemand sagen. Und dass man diesen Ort nur noch zu bestimmten Zeiten besuchen darf, weil sich Terroristen, als Touristen verkleidet, immer wieder in die Luft zu sprengen versuchen, erfahren wir auch erst von unserem Taxifahrer, mit dem wir gerade auf dem Weg nach Hebron sind. Erst gestern wurde am Löwentor, dem Eingang zum muslimischen Viertel der ummauerten Altstadt, ein Fundamentalist von Soldaten erschossen. „Ein Muslim, auf dem Weg zu seinem Mittagsgebet”, beteuert unser Taxifahrer. „Ein bewaffneter Terrorist”, schreiben die israelischen Zeitungen.

Wir passieren Checkpoints und unwirklich wirkende Siedlergebiete. Eine zerfetzte Landschaft ohne Grenzen, in der sich Menschen schuldig und bedroht zugleich fühlen. Die Geisterstadt Hebron ist eine der heiligsten Stätten für gottesfürchtige Juden und gläubige Palästinenser und gilt als Eingang zum Garten Eden, als Verbindung zum Himmel oder besser gesagt als Schauplatz eines der größten Konflikte unserer Zeit. Die „Höhle Machpela”, Ruhestätte der Erzväter Abraham, Issak und Jakob, wurde 1994 zur Hölle, als Baruch Goldstein 50 betende Muslime tötete und 150 weitere schwer verletzte. Unser Guide erklärt uns, dass eine fast 20 Zentimeter dicke Metalltür heute beide Weltreligionen voneinander trennt. Amin ist wie viele junge Palästinenser gut gebildet und so voller Freude, seine 16 Semester Geschichtswissenschaften endlich auf einige verirrte Touristen loslassen zu können.

Einschussloch in Hebron (Foto: Konstantin Arnold)

Wir aber wollen wissen, wie es sich an diesem Ort lebt? Doch Politik ist nicht Teil seines Lehrplans und Amin blockt ab. Wo wir gerade herkämen, will er wissen? Tel Aviv. Und plötzlich beginnt seine innere Haltung in Tränen auszubrechen. „Der Tod ist besser als dieses Leben. Es gibt keine Hoffnung, keine Perspektive und keine Chance diesen Ort jemals zu verlassen!” Amin verliert seine gut gekleidete Fassung, kommt in Fahrt, zeigt auf die laufenden Sicherheitskameras der Israelis und ruft: „Sie nehmen uns die Luft zum Atmen, die Würde, das Leben. Auf meinem Weg zur Arbeit passiere ich 18 Checkpoints, zum Einkaufen muss ich durch drei. In Palästina gibt es keine Flughäfen und wenn ich fliehe, verrate ich mein Land. Sie kontrollieren alles, unsere Grenzen, die Währung und Bilder, die von der Welt gesehen werden”, und schlagartig spüren wir, dass unsere Beine wackelig werden. Ob wegen des permanenten Schlafmangels oder des Gefühls, langsam die Kontrolle zu verlieren, können wir bis heute immer noch nicht sagen. Einschusslöcher, Spannung und militärische Präsenz sind vielleicht zu viel für das Gemüt eines Surf-Trips und doch immer noch zu wenig, um zu verstehen, was diese Unwirklichkeit ausmacht. Diese Bilder sind jedoch vor allem eins: Unumgänglich, wenn man versuchen möchte Israel, Palästina oder wie auch immer man diese Region nennen möchte, im Ansatz zu erfassen.

Israelische Sperranlage in Betlehem (Foto: Konstantin Arnold)

Trotz erheblicher Unterschiede in der Lebensqualität beider Regionen sind die Menschen im Westjordanland nicht weniger aufgeweckt. Immerhin darf man laut Koran vier Frauen heiraten, wenn man sie nur alle gleiche behandele. Viele interpretieren die Glaubenslehre zum Wohlfühlen und ein Zigarettenverkäufer erklärt uns, dass wir beim Über-die-Straße-gehen einfach die Augen schließen sollten. Im scheinbar hoffnungslosen Gazastreifen hat sich das Surfen zu einer ganz eigenen Form des Protests entwickelt und steht für den zurückgewonnenen Spaß am Leben, für ein Stück Selbstbestimmung und die Flucht aus einer Welt voller Krieg und Gewalt. Der 2008 gegründete „Gaza Surf Club” bietet den Menschen einen wirklichen Alltagsausbruch, der mit westlichen Surfslogans nichts mehr gemein hat. Wer in diesem Konflikt gut und wer schlecht ist, müssen an dieser Stelle andere entscheiden, denn wir haben uns in Bethlehem gerade von unserem palästinensischen Taxifahrer auf backfrisches „Kanafa” einladen lassen.

Am Abend sind wir zurück in Tel Aviv. Zurück in der Leichtigkeit des Lebens. In einer Bar in Herzlia, Israels Malibu, werden heute Abend die israelischen „Surfing Awards” vergeben. Es gibt Sekt und Plastikpokale für die besten Surferinnen und Surfer des Jahres. Es wird gefeiert, als ob es kein Palästina gäbe. Auch mit uns. Wir reden mit Yossi Zamir, dem Präsidenten der „Israel Surfing Association”, über die Potenziale unserer Kokosnusssportart innerhalb dieses Konflikts, bis wir an diesem Morgen fast unseren Rückflug verpassen.

Nachdem Grenzbeamte diesmal wissen möchten, warum ich mein weißes Hemd nicht gebügelt hätte und Leon Glatzer nicht mit uns nach Frankfurt, sondern Lissabon fliege. Ob wir im Wasser fotografiert und unsere Tasche selbst gepackt hätten und wieso wir überhaupt so verdammt spät dran wären? Weil Israel eines der spannendsten Länder unserer Erde ist und wir erst einmal herausfinden mussten, wie wir so viele Surfboards auf dem Dach eines „Kia Picanto” ohne Spanngurte vom Hotel bis zum Flughafen bekämen. Weil es hier die besten Croissants gibt, die schärfsten (weiblichen) Sicherheitskontrollen und die ältesten Städte der Erde. Weil wir diesen Flug vielleicht einfach gar nicht erreichen wollten.

Alle Fotos: Konstantin Arnold