Wir als VICE-Redaktion begreifen es als unsere ureigene Aufgabe, den gesellschaftlichen Diskurs zu gestalten und voranzubringen. Auch durch Gastbeiträge prominenter Stimmen. Die Ästhetik deutscher Bahnhöfe ist ein Thema, das unser Land bewegt, das wissen wir spätestens seit “Deutsche Bahnhöfe nach Hässlichkeit sortiert – Teil 1” und “Deutsche Bahnhöfe nach Hässlichkeit sortiert – Teil 2“. Deshalb freut es uns, dass wir für Teil 3 einen bekannten Vielfahrer gewinnen konnten. Bahnsteig frei für Kevin Kühnert, bitteschön:
5: Braunschweig Hauptbahnhof
Der Braunschweiger Hauptbahnhof besticht mit dem Antlitz einer reduzierten Variante des Hotel Uzbekistan in der dortigen Hauptstadt Taschkent. Und das ist für beide Städte wahrlich kein Kompliment.
Videos by VICE
Die drei markantesten Eigenschaften des 60 Jahre alten niedersächsischen Kloppers sind:
- Leider
- Nicht
- Vorhanden
Bahnhof und Bahnhofsumfeld zeichnen sich einzig und allein durch etwas
aus, das die Älteren unter uns noch von Raumschiff Enterprise kennen: unendliche Weiten. Besonders hervorstechend sind dabei der Parkplatz Süd, der Parkplatz West, das Betriebsgelände einer Siemens-Tochter und der entgegen aller geltenden Gesetze einzige Bahnhofsvorplatz in Deutschland, der nicht nach Willy Brandt benannt ist: der Berliner Platz. In Braunschweig müssen sie Willy Brandt sehr lieb haben und Berlin sehr hassen. Anders ist diese ästhetische Fallkonstellation nicht zu erklären.
Beachtenswert ist auch der benachbarte Nahverkehrsbahnhof, dessen Bauweise an eine in der Höhe halbierte Variante des an anderer Stelle bereits besprochenen ÖPNV-Carports in Kassel-Wilhelmshöhe erinnert.
Der seelenlose Berliner Platz geht daneben fließend in die seelenlose Empfangshalle des Bahnhofs über, die sich in ulkig-gezackter Bauweise trichterartig zur nicht weniger seelenlosen Unterführung verengt. Hat man es bis hierhin geschafft, dann folgen zahlreiche Bahnsteige, auf denen alle Züge nur ein Ziel kennen: Erlösung.
Auch bei VICE: Deutschlands einziger Grillz-Hersteller
4: Bahnhof Büchen
Harry Potter mag regelmäßig auf Gleis 9 ¾ in Richtung Hogwarts abgefahren sein, geschenkt. Aber wenn ihr euch auch mal fancy fühlen und dafür nicht gegen eine Klinkersäule laufen wollt, dann fahrt doch einfach mal von Büchen nach – sagen wir – Ratzeburg! Dann wird euch der DB-Navigator nämlich bitten, euch pünktlich an Gleis 140 (!!!) einzufinden, um den RE83 zu nehmen. Ja, richtig verstanden: an Gleis 140.
Warum der Bahnhof einer Ortschaft, von deren Existenz die meisten Menschen noch nie etwas gehört haben dürften, 140 Gleise benötigt, ist insbesondere in den einschlägigen Onlineforen für penibel ihre Reisen planende Menschen ein großes Thema. Wie sie denn in sechs Minuten Umsteigezeit den Weg von Gleis 1 zu Gleis 140 schaffen sollen, wird dort mit einer Mischung aus deutscher Gründlichkeit und passiv-aggressiver Schlaumeierei gefragt. Anschließend erklärt einer der etwa 328 Einheimischen dann geduldig, dass es nur fünf Gleise gebe. Ihre intuitiv verständliche Nummerierung: 1, 4, 40, 41, 140. Alles klar?
Ein netter Marketing-Gag, um darüber hinwegzutäuschen, dass dieser Bahnhof natürlich ein einziger Skandal ist. Ein ICE-Haltepunkt am Feldrand für eine Ortschaft, deren Existenz nicht wenige Menschen für ein Gerücht halten. Nie hat jemand Büchen aus dem Zugfenster zwischen Berlin und Hamburg erspähen können. Alles, was es hier gibt, sind ein Kuddelmuddel von Bahnsteigen, unbefestigte Wege, ein zugiger Unterstand und viel zu lange Wartezeiten für den Rückweg in die Zivilisation – sofern man den Aufenthalt in der Wildnis überlebt hat.
3: Bahnhof Lüneburg
Der Bahnhof Lüneburg liegt an der Bahnhofstraße und da geht die ganze Lüge auch schon los. Die Straße müsste eigentlich Bahnhöfestraße heißen, trennt sie doch die ehemaligen Bahnhöfe Lüneburg Ost und Lüneburg West, die heute von einer kriminellen Vereinigung namens Deutsche Bahn als ein gemeinsamer Bahnhof betrachtet werden.
Die beiden Bahnhofsteile trennen etwa 100 Meter und es gibt keinen, wirklich gar keinen zulässigen Grund, warum diese absurde Konstruktion jemals notwendig gewesen sein könnte und dann auch noch beibehalten wurde. Sicherlich gab es da mal irgendeinen hochemotionalen Konflikt innerhalb der Stadtgesellschaft, aber den hätte man ja bestimmt auch mit einem Heidschnuckenweitwerfen oder einem vergleichbar gut die regionalen kulturellen Eigenheiten berücksichtigenden Wettbewerb lösen können.
Stattdessen müssen nun Kurzzeitbesucher wie ich frierend und
desorientiert über Bahnsteige irren, nicht wissend, dass das gesuchte Gleis auf der anderen Straßenseite zu finden ist. Verpasst man dabei den Zug, darf man mehrere Eiszeiten lang warten, bevor einen die Alternativverbindung über Büchen (siehe oben) Stunden später zurück nach Berlin führt. Wer dabei nicht aufgetakelten Schauspielern der in Lüneburg gedrehten ARD-Seifenoper Rote Rosen in die Arme laufen möchte, muss sich zudem hinter einem einer Grundschul-Turnhalle gleichenden Betonklotz verstecken, der als Fahrradparkhaus herhalten muss. Alles daran ist eine skandalöse Zumutung.
2: Heidelberg Hauptbahnhof
Als Fred Raymond 1925 das populäre Marschlied “Ich hab‘ mein Herz in Heidelberg verloren” schrieb, da stand das 1955 eröffnete und bis heute genutzte Empfangsgebäude des Heidelberger Hauptbahnhofs noch nicht. Glück für Heidelberg! Denn hätte es bereits gestanden, dann könnten Rentner aus der gesamten Republik das Lied heute nicht bei der Querung des Neckars auf der Alten Brücke im Bus ihres Kaffeefahrtenanbieters summen. Weder Raymond noch sonst irgendjemand mit menschlichen Regungen wäre schließlich dazu in der Lage gewesen, sein Herz an eine Stadt zu verlieren, die ihre Gäste so empfängt, wie es Heidelberg seit 65 Jahren macht.
Das Hauptgebäude des Heidelberger Hauptbahnhofs wurde seinerzeit von Bundespräsident Theodor Heuss so feierlich eröffnet, wie man diesen Klotz halt feiern konnte. Und würde Heuss heute im Alter von 136 Jahren hinterm DB-Servicepoint sitzen – es würde in dieser fürchterlich verstaubten Umgebung vermutlich gar nicht auffallen. Selbst das Graffito an der Wand der Schalterhalle sieht eher nach Kandinsky auf Valium aus.
Das Gebäude ähnelt in seiner erschlagenden Schuhkartonigkeit der alten Haupthalle des Flughafen Berlin-Tempelhof und sollte sich dringend Gedanken machen, ob es nicht in gleicher Weise langsam mal seinen Lebensabend ohne Publikum genießen möchte. Beide zusammen würden notfalls ob ihrer vollkommen unnötigen Höhe auch noch prima Giraffenhäuser für den nächstbesten Zoo abgeben. Die Bahnsteige jedenfalls, die sich seit jeher in ihrer der Größe der Stadt angemessenen Schlichtheit im angewiderten 50-Grad-Winkel von ihrem Appendix abwenden, würden das Teil sicherlich nicht vermissen.
1: Wuppertal Hauptbahnhof
Apropos Zoo, den gibt’s ja bekanntlich auch in Wuppertal, womit wir auch schon beim nächsten Thema wären.
Mit Blick auf den Wuppertaler Hauptbahnhof lässt sich im Wesentlichen zwischen zwei Gruppen von Menschen unterscheiden: diejenigen, die vor oder während der Sanierungsmaßnahmen das letzte Mal dort waren, und diejenigen, die kürzlich dort waren. Ein Gesprächsthema teilen sie jedoch miteinander: Es war, ist und bleibt alles eine große Katastrophe.
Nun kann man mit Fug und Recht fragen, warum überhaupt jemand auf die Idee kommt, eine Großstadt mitten ins rechtsrheinische Schiefergebirge reinzukloppen. Aber der Drops ist angesichts von 350.000 Einwohnern nun vermutlich gelutscht und daher zurück zu Wuppertals Hauptbahnhof als zweiter zweifelhafter Berühmtheit nach Elefantenkalb Tuffi, die 1950 beherzt aus der Schwebebahn sprang – vermutlich, um einem Ausstieg am Hauptbahnhof noch rechtzeitig zu entgehen.
Machen wir es kurz. Am Wuppertaler Hauptbahnhof wurde jetzt gut sechs Jahre lang irgendwas gebaut und ja, irgendwelche Straßen und Tunnel sind da jetzt auch anders als vorher, mag sein. Aber das interessiert ja uns Bahnfahrer nicht.
Vorm Bahnhof, wo uns eigentlich mal ein Glaskubus empfangen sollte,
grüßt nun stattdessen ein bronzener Klotz mit integrierter Primark-Filiale als erstes Haus am Platz. Die Gleise 4 und 5 sind nicht durch den länglich in Sanierung befindlichen Fußgängertunnel, sondern nur über eine Brücke zu erreichen. Die Bahnsteige reinigt ein armer Mann tagein, tagaus mit einem Kärcher von Quadrillionen Tonnen Taubenscheiße, weil vorne schon wieder alles vollgekackt ist, wenn er hinten fertig ist. Und dann ist aktuell auch noch die Schwebebahn kaputt …
Doch am ultimativ schlimmsten ist das “Spiel mit mir”-Klavier in der neuen Bahnhofshalle. Anderswo treffen sich Jugendliche standesgemäß zum Kiffen, in Wuppertal jedoch wird geduldet, dass heranwachsende Emos mitten im Bahnhof versuchen, Coldplay zu spielen. Falls es noch eines Beweises bedurfte: Die Schwerpunktsetzung deutscher Sicherheitsbehörden geht an der Gefahrenlage vorbei. Sie sind auf dem bahnhofsmusikalischen Ohr leider taub.