Eine zentrale Frage, die sich Journalistinnen und Journalisten jeden Tag stellen ist diese: Was bewegt unser Land? Eine der Antworten überraschte uns in der VICE-Redaktion dann neulich doch: “Bahnhöfe.” Nur so können wir uns erklären, wie leidenschaftlich viele von euch diskutiert haben, als wir kürzlich Deutschlands Bahnhöfe nach Hässlichkeit sortiert haben.
Berechtigterweise vermissten einige User die architektonischen Wunderwerke des Ruhrpotts ebenso wie die Reisetempel Ostdeutschlands. Und wer in so einer Liste Heidelberg nicht erwähne, schrieb einer, habe seinen letzten Rest journalistischer Würde verloren. Wir haben Heidelberg auch in dieser Liste nicht aufgenommen (wir planen natürlich schon Teil 3). Aber dafür einige andere Bahnhöfe, zu denen uns dringende Hinweise aus der Bevölkerung, schockierende Augenzeugen- und Erfahrungsberichte erreicht haben.
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5: Hagen Hauptbahnhof
Wir geben es direkt zu: Es war noch keiner von uns je in Hagen, wir haben diesen Bahnhof nie gesehen. Aber weil wirklich sehr viele Menschen ihn zu hassen scheinen, haben wir uns entschlossen, den Bahnhof Hagen einfach aus der Ferne, anhand von Fotos aus dem Internet, fertig zu machen. Früher hätte man das “niedrigsten Schreibtisch-Journalismus” genannt, mittlerweile heißt das aber “Open Source Investigation” und gilt als richtig modern! Cool, oder?
Also los, schauen wir uns das Teil mal an. Tja, und was soll man sagen: Der Bahnhof ist gar nicht hässlich, ganz im Gegenteil! Das Empfangsgebäude besteht aus einem hübschen Barock-Gebäude mit einem schicken Turm, der so auch in der Münchner Innenstadt stehen könnte. Ärgerlich, sehr ärgerlich.
Aber so schnell gibt der Open-Source-Journalist nicht auf! Und nach ein paar energischen Suchanfragen kommt schnell heraus: Von der Substanz her war der Hagener Bahnhof wohl mal in Ordnung, die Hagener haben ihn dann einfach nur mit Hingabe vergammeln lassen. “Schmutzigster Bahnhof im ganzen Land”, schimpfte ihn ein Lokalzeitung, “Symbol für verrottende Bahn-Infrastruktur” eine andere. Die Bahnhofshalle galt lange Zeit offenbar als geradezu legendär grindig, grau und deprimierend .
Aktuell wird der Bahnhof aber liebevoll saniert, es gibt also Aussicht auf bessere Zeiten. Wer weiß, vielleicht fahren wir sogar mal hin. Oder steigen mal da um. Man weiß ja nie!
4: Halle (Saale) Hauptbahnhof
Obwohl es aus den ostdeutschen Bundesländern architektonisch doch einiges Positives zu berichten gibt, überwiegt im Westen bis heute oft das Bild vom trostlosen Plattenbau. Da hilft es nicht, wenn Städte ihre schönen Gebäude konsequent verstecken. Beim Hauptbahnhof Halle ist das zum Beispiel der Fall. Der Kuppelbau aus dem Ende des 19. Jahrhunderts ist eigentlich solide preußische Bahnhofsarchitektur. Was ihn hässlich macht, ist die Umgebung, die man lustlos an ihn rangeklatscht hat, um ihn optisch zu verschlucken.
Der Hauptbahnhof Halle ist ein sogenannter Inselbahnhof. Das heißt, man muss erst mal durch diverse Unterführungen, um ihn zu erreichen. Wenn man dann aus dem Dunkel ans Licht tritt, sieht man, was hier schiefgelaufen ist: Das filigrane Empfangsgebäude erstickt im Würgegriff von praktischgrauen Bahnsteigüberdachungen, einem Parkplatz und einem Glasvorbau. Als würde man ein Fabergé-Ei im Klostein-Regal einer Penny-Filiale ausstellen. In der DDR hatte irgendein Wahnsinniger eine Aluminiumfassade vor das Hauptgebäude hängen lassen. Zwar wurde die 1984 wieder entfernt, aber in ihrem Vorhaben, den Hallensern einfach keinen schönen Bahnhof zu gönnen, war das wenigstens konsequent.
3: Dortmund Hauptbahnhof
Ein Hauptbahnhof ohne Aufzüge zu allen Gleisen? Warum nicht! Lautet doch die alte Dortmunder Volksweisheit: Kannste keine 50 Treppen laufen, biste selber schuld. Wer an Deutschlands größtem nicht-barrierefreien Bahnhof mit einem Rollstuhl oder Kinderwagen anreist, darf sich unter Umständen auf eine Fahrt im Lastenaufzug und eine exklusive Tour durch die Lagerhallen freuen, um sich überhaupt irgendwie auf den unbeleuchteten Park & Ride-Parkplatz zu retten.
Warum das Geld nicht mal reicht, um ein paar Rolltreppen in Gang zu halten, ist eindeutig belegt: Angemessen größenwahnsinnig plante Deutschlands Crackhauptstadt hier noch bis ins neue Jahrtausend deriliös den Neubau eines “überdimensionierten Ufos” mit acht Stockwerken. Selbstverständlich fand sich dafür und auch für den nächsten völlig verkackten Neubauplan kein Investor.
Übrig blieb ein überdimensionierter Umschlagplatz für grölende BVB-Fans mit einer Wandverkleidung aus recycelten Fliesentischen, Alibi-Bauzäunen und völlig sinnbefreiter Gleisnummerierung. Damit haben Reisende gute Chancen, länger als sie wollen, in den Tunneln von Europas dreckigstem Bahnhof herumzuirren. Vielleicht können sie zumindest in der Wartezeit die ein oder andere verzweifelte Omi an ihren Bahnsteig tragen.
2: Duisburg Hauptbahnhof
Duisburg ist der fertige Kollege unter den Bahnhöfen, dem man sofort ansieht, dass er ein paar beschissene Tage hinter sich hat. Da hält man sich mit Gemeinheiten eigentlich zurück. Klebeband hält die Fensterscheiben notdürftig zusammen, die braune Fassade wirkt so einladend wie ein Krematorium. Würde man das Gebäude über Nacht zu einer Frikadellenfabrik umwidmen, hätte ästhetisch endlich alles einen Sinn. Aber nachdem uns so viele von euch auf diese Rumpelkammer mit Gleisanschluss hingewiesen haben, mussten wir sie erwähnen. Duisburg Hbf beschäftigt viele Menschen – auch dort, wo heutzutage die Philosophen der Gegenwart ihre messerscharfen Analysen präsentieren: in Google-Rezensionen.
Dort findet sich ein Erklärungsansatz für den deprimierenden Zustand des Duisburger Hauptbahnhofs. “Wer wissen möchte, wie die schwarze Null auch zustande kommt, der fahre hierher. Kaputte Scheiben, Böden und Dächer. Überall regnet es rein”, schreibt der User “Native Travel”. “Ed Ce” merkt an: “Man würde fast denken, dass man irgendwo in Tschernobyl angekommen ist. Das ist kein Bahnhof, sondern ein Abrissgelände.”
Andere dagegen erteilen uns, den zynischen Betrachtern, eine Lektion in positivem Denken: “Duisburg ist für mich der Schandfleck von NRW! Der Bahnhof geht aber noch”, schreibt “Marco P”. Vielleicht ja auch wegen dem, was ein “Lukas Müller” hervorhebt: “Man kommt von dort aus gut weg.” Fünf Sterne. Auch richtige Duisburg-Hbf-Fans gibt es, zum Beispiel “Hurensohn Oglum”. Der findet: “Bei Gott, Feier ich! wie die Bulgaren mich da antanzen und nach Geld fragen. Ein Typ hat mir mal deinen [sic!] Hut in die fresse gehaun, super Bahnhof!” Vier Sterne. Es besteht also noch Hoffnung.
1: Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe
Der ICE-Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe, der kalte, nordhessische Transit-Albtraum aus den frühen 90ern, der Palast der Winde, wie ihn Einheimische offenbar wirklich nennen, als würde hier der Bösewicht eines Kinderbuchs leben, sieht aus der Luft aus, als habe man ein einzelnes Parkdeck auf spargeligen Stelzen in die Stadt gestellt. Man sieht vor allem das berühmte Vordach, das so unverständlich hoch ist, dass jedes Wetter problemlos Limbo tanzt. Der damalige Bürgermeister, Hans Eichel, sagte zur Eröffnung, unter eben jenem absurd hohen Vordach stehend, dass die Menschen in Kassel den Bahnhof bald finden würden wie die documenta, die weltberühmte Ausstellung für zeitgenössische Kunst: scheußlich aber sehenswert.
Wenn man ins Internet hineinfragt, was gerade diesen Bahnhof so hässlich macht, dann rufen die Menschen: Kalt! Verbaut! Langwegig! Bunkerhaft! Tiefgaragenartig! Vollgepisst! Düster! Verrampt! Tot! Zubetoniert! Und dass die Toiletten beim Bau vergessen wurden (stimmt tatsächlich, später hat man dann aus Gnade noch welche eingebaut). Und dass der Brezelverkäufer absichtlich hier zusteigt, damit sich Reisende nichts an diesem grauenhaften Ort kaufen müssen. Hans Eichel sagt im Rückblick: “Ich denke schon, wir würden uns heute mehr Gedanken über die Aufenthaltsqualität machen, als es damals der Fall war.” Ja, so klingt sie auf sanftesten Hessisch: die Reue nach der Bausünde. Für Paderborner ist Kassel-Wilhelmshöhe, so hört man aus Paderborn, allerdings das Tor zur Welt. Na immerhin.