Eine verrauchte Bar, zwei Dragqueens auf der Bühne, etwa 50 queere Männer und ein paar Frauen im Publikum. Alle schauen auf eine Leinwand. In den vorderen Reihen wird Sekt getrunken, an der Bar werden Longdrinks serviert. Die Gastgeberinnen des Abends, die Berliner Dragqueens Destiny Drescher und Stella deStroy, geben Schnaps aus. Klingt nach einem Public-Viewing-Event zum Eurovision Song Contest, ist aber eine Casting-Show-Premiere: ProSieben sucht die Queen of Drags.
In der Sendung treten zehn Dragqueens gegeneinander an. Jede hat eine andere Hintergrundstory, einen anderen Stil und eine andere Message. Das Format ist eine absolute Neuheit im deutschen Fernsehen.
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Vor dem Start sorgte Heidi Klum, die Chef-Jurorin der Show, bereits für Schlagzeilen. Der Germany’s next Topmodel-Star, der mit Tokio Hotels Tom Kaulitz verheiratet ist, sei zu weiß, zu hetero, zu … na ja, zu Klum eben. Sie würde die Szene nicht repräsentieren, sie würde das Format nur zum Geldverdienen nutzen. Dass der sehr queere Bill Kaulitz und die sehr queere Conchita Wurst auch in der Jury sitzen, war fast schon egal. Aber wie ist es nun, die Klum in einem solchen Format zu sehen?
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Im Rauschgold, der Berliner Bar, wo an diesem Abend das Public Viewing stattfindet, sind die Reaktionen auf Klum erst einmal gemischt. In den ersten Szenen von Queen of Drags wirkt die Moderatorin etwas verloren in ihrem kanariengelben Fummel. Wie eine überdrehte Schwulenmutti, die Halloween spielt und “Queeeeeeeeeeeensss jaaaaaaaaa!” schreit. Germany’s next Topmodel auf Koks. Dieses ungute Gefühl legt sich jedoch, als Klum das Thema selbst anspricht und sagt, dass sie die Berichterstattung nicht fair fand. Sie liebe Dragqueens, sie wolle die Ästhetik auch in Deutschland in den Mainstream bringen.
Die Moderatorinnen in der Rauschgold-Bar sind froh über Klum. “Ich bin sehr dankbar für das Format. Es ist sehr wohlwollend und gut produziert”, erklärt Stella deStroy. Damit hat sie Recht, wobei sich Queen of Drags nicht den castingshow-typischen Strategien entziehen kann: Es gibt die Zicke (Katy), die Mutti (Candy), die Nette (Bambi), die Schüchterne (Samantha), die Alte (Catherine) und so weiter. Es wird in der ersten Folge gestritten, geweint – TV-Drama eben.
Mit den Themen der Community, dem Anderssein, wird hingegen sehr zurückhaltend umgegangen. Es geht um religiöse Hintergründe, um Coming-outs, um Ängste und all die Hoffnungen, die mit der Kunst des Drags zusammenhängen. Damit erklärt Queen of Drags einem breiten Publikum die Probleme, die man als queerer Mensch hat. Und wieso man sich als Mann in Frauenklamotten schmeißt.
Larry Tee ist Musikproduzent, Wegbegleiter von RuPaul, Moderator von RuPaul’s Drag Race, und an diesem Abend ebenfalls beim Public Viewing in Berlin: “Ich habe die Show genossen, weil sie anders ist als RuPaul’s Drag Race. Es sollte eher Germany’s next Dragqueen heißen.” Und nicht nur das, Queen of Drags stellt etwas her, was bei RuPaul zu kurz kommt: Emotionalität. “Bei Bambis Auftritt musste ich fast weinen, das hat RuPaul bei mir noch nicht geschafft in all den Staffeln.” Larry Tee findet, es gehe in dem ProSieben-Format weniger um einen Wettkampf als um den Zusammenhalt in der Community. Etwas, das von Germany’s next Topmodel nicht behauptet werden kann.
All der Zusammenhalt bringt jedoch nichts, wenn die Kunst auf der Strecke bleibt. Und das ist Drag nun einmal: Kunst.
Dragqueen Morgæn Wood Callisto, die in Amsterdam, Berlin und London auftritt, findet die Performances in Folge eins noch nicht überzeugend: “Mich hat nichts wirklich überrascht. Die, die was zu sagen haben, fand ich interessant – Bambi zum Beispiel. Wenn es nur um den Look geht, bin ich gelangweilt, siehe Katy und Candy.”
Morgæn selbst versuche immer wieder, mit ihren Performances eine Geschichte zu erzählen, sich politisch zu positionieren – all das habe sie in der ersten Folge vermisst. “Ich vergleiche die Sendung mit den Drag Shows, die ich aus Berlin kenne. Hier sind die Performances immer sehr unterschiedlich, in der Sendung ist das nicht der Fall.”
Larry Tee sieht das anders, ihn hätten die Auftritte überzeugt. Neben Tränen vor Rührung gab es auch viel zu lachen: “Ich hatte Angst, dass es nicht lustig werden würde, aber manche Queens haben abgeliefert. Candy Crash zum Beispiel, als sie zum Ende die ausgeschiedene Queen von ihrem T-Shirt gestrichen hat. Das war TV-Magie!”
Während andere Teilnehmer der Sendung sich mit fiesen Kommentaren und Arroganz auszeichnen, ist es Candy Crash, die mit ihrer Fairness, ihrem Krisenmanagement und prägnant fiesen Kommentaren zur guten Fee der ersten Folge wird. Ihre sozialen Kompetenzen helfen jedoch nicht auf der Bühne – von Heidi Klum wird ihr ausdrucksloses Gesicht kritisiert. Candy bekommt am wenigsten Punkte von Klum und steht kurz vor dem Aus.
Heidi Klum sorgt für mehr Sichtbarkeit der Szene
Die Sendung ist also unterhaltsam, die Performances kommen nicht zu kurz – aber was bewegt eine Dragqueen zur Teilnahme an diesem Format? Candy zu VICE: “Zuerst war ich skeptisch, doch durch viele lange Gespräche wurde mir klar, dass die Produktion ein sehr queeres Format mit uns produzieren wollte, um uns und unserer Message eine Plattform zu bieten.”
Genau dieses Gefühl entstehe beim Zuschauen, meint Larry Tee. Er finde verschiedene Dragqueens in dem Format wieder. Und auch Candy Crash sei froh, dass eine Bandbreite an Queens repräsentiert wird: “Die Show zeigt ein großes Spektrum an queeren Persönlichkeiten. Menschen, die ihre Boy- und Drag-Persona strikt trennen, und Menschen wie mich, bei denen die Grenzen mehr verschwimmen.”
Ohne Heidi Klum wäre dieses Format nicht ins deutsche Fernsehen gekommen. Larry Tee kennt die Hintergründe: “Sie wollten die Show ohne Klum pitchen. Dafür haben sie aber keine Sponsoren bekommen. Heidi Klum ist fantastisch, um Dragqueens zu promoten.” Alles andere ist Nebensache. Hauptsache, Drag-Künstlerinnen würden im Fernsehen gezeigt, findet Larry. “Das ist ein Durchbruch für uns. Ich liebe Heidi Klum. Wo RuPaul ein Bösewicht ist, ist Heidi eine Cruella De Vil. Sie hat den Ruf, die Mädels in ihrer Show zum Zittern zu bringen. Sie ist verdammt witzig.”
Die Kraft der Inszenierung, der Überzeichnung – davon lebt Drag. Und darauf setzt auch Heidi Klum. Deshalb passt die Model-Mutti perfekt zu diesem Format. Die Szene kämpft seit Jahrzehnten für mehr Akzeptanz und Sichtbarkeit. Nun ist sie da, dank Heidi Klum. Wie sagte die Berliner Dragqueen Destiny Drescher am Donnerstag auf der Bühne: “Ich fand es toll, ich war sehr überrascht.”
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