Hinter Stacheldraht und 24 Zentimeter dickem Stahlbeton wachsen in einer riesigen Halle in Norddeutschland Cannabis-Pflanzen. Hier, im schleswig-holsteinischen Neumünster, betreibt Aphria RX, eine Tochter des kanadischen Pharmaunternehmens Tilray, Deutschlands größte legale Grasplantage. Im Auftrag des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte werden hier jährlich 1,1 Tonnen Marihuana für den medizinischen Gebrauch produziert.
General Manager Thorsten Kolisch steht in einem Korridor der Anlage. Er trägt Brille und einen blütenweißen Overall. “Warten Sie, bis Sie das gesehen haben”, sagt er, grinst und drückt auf einen Knopf. “Es ist, als würde man ein Halluzinogen nehmen.”
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Die Fensterblenden gehen hoch und dahinter kommt ein gigantisches Labor zum Vorschein: Hunderte Cannabis-Pflanzen getaucht in grell-violettes Licht. Die Luft ist klebrig-süß. “Jetzt schauen Sie dorthin und wieder zurück”, sagt Kolisch.
Die ehemals weißen Wände der Korridore sind jetzt grün, das Labor dafür strahlend weiß, die Hanfpflanzen leuchten in einem satten Grün. “Ihre Augen passen sich an unser spezielles Beleuchtungsrezept an”, erklärt Kolisch.
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Im vergangenen Juli hat Aphria RX die erste legale Cannabis-Ernte Deutschlands eingefahren. Wenn es nach der Ampel-Koalition geht, sollen noch viele weitere folgen. Die Cannabis-Legalisierung wurde im Koalitionsvertrag festgehalten. Durch sie “wird die Qualität kontrolliert, die Weitergabe verunreinigter Substanzen verhindert und der Jugendschutz gewährleistet”, heißt es dort.
Wie genau die Legalisierungspläne in die Praxis umgesetzt werden sollen, ist noch kaum bekannt. Wer wird Cannabis anbauen, verarbeiten und verkaufen dürfen? Unter welchen Auflagen? Wieviel wird ein Gramm kosten? Wird nur in Deutschland angebautes Gras verkauft, oder darf auch welches aus Ländern mit mehr Sonne importiert werden? Wird es vorgerollte Joints geben, Flaschen mit flüssigen Cannabis-Produkten oder THC-Gummibärchen?
Expertinnen sagen, dass Deutschlands legale Cannabis-Industrie schnell zu einem Milliardengeschäft heranwachsen werde – zu einem der größten Märkte weltweit. Im November kam eine Studie des Ökonomen Justus Haucap der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zu dem Ergebnis, dass der jährliche Bedarf in Deutschland bei rund 400 Tonnen pro Jahr liegen würde. Bei einem Verkaufspreis von durchschnittlich zehn Euro pro Gramm hätte der Markt einen Wert von rund vier Milliarden Euro. Außerdem würde die Legalisierung rund 27.000 neue Arbeitsplätze schaffen. Der aktuelle Markt für medizinisches Cannabis in Deutschland hat ein Volumen von etwas über zehn Tonnen.
Mehrere Unternehmen sagen gegenüber VICE, dass sie sich trotz aller Unklarheiten schon auf die bevorstehende Legalisierung vorbereiten. Demecan, neben Aurora Cannabis und Aphria RX eines der drei Unternehmen, die bereits heute Cannabis für den medizinischen Markt produzieren, teilt mit, dass man sich auf die “gigantische Wachstumsgelegenheit” freue. Man könne schnell die Produktion der eigenen Plantagenanlage in der Nähe von Dresden ankurbeln.
Das in München ansässige Unternehmen SynBiotic erklärt, dass es “schnell Cannabis-Produkte für den Freizeitgebrauch auf den Markt bringen kann”. Man prüfe momentan, ob sich Coffee-Shops nach niederländischem Vorbild auch in Deutschland eröffnen lassen. Das Berliner Unternehmen Cantourage, das Gras importiert und zum medizinischen Gebrauch weiterverarbeitet, sagt, dass es seit der Ankündigung der Legalisierung erhebliches Interesse von Investoren wahrnehme. Der in Frankfurt am Main ansässige Vertrieb für medizinischen Cannabis Cansativa fordert einen “barriere- und stigmafreien Zugang zu Cannabis”.
Jürgen Neumeyer, Vorsitzender des Branchenverbands Cannabiswirtschaft e.V., sagt gegenüber VICE, dass die meisten der 50 Unternehmen für medizinisches Cannabis, die seine Organisation vertritt, “sehr großes Interesse am Freizeitbereich haben” und er “täglich 20, 30 oder 40 Anfragen” zu Lizenzen erhalte.
“Wir begrüßen die Ankündigung der Legalisierung”, sagt er. “Aber es gibt viele Details, die wir noch nicht wissen. Wir werden der Politik in den kommenden Jahren dabei helfen, einen guten Umgang mit der Szene zu finden. Es könnte noch ein oder zwei Jahre dauern, bis der Anbau beginnt.”
In Neumeyers Vision für den deutschen Cannabis-Markt schwebt ihm ein hybrides Vertriebsmodell für Konsumentinnen und Konsumenten vor, welches lizensierte Läden, Apotheken und Abgabestellen umfasst. Im Gegensatz zu den Niederlanden, wo lediglich der Konsum legal, der Anbau aber weiterhin illegal ist, müssen laut Neumeyer in Deutschland alle Bereiche legalisiert werden. “Vernünftige Werbevorschriften” seien nötig, sagt er, und die Einschränkungen für Import und Export “sollten gelockert werden”.
Befürworter der Legalisierung sagen, dass diese den Schwarzmarkt verkleinern, die Qualität verbessern, Polizeiressourcen freimachen und zusätzliche Steuereinnahmen einbringen werde. Die Mehreinnahmen könnten wiederum für Aufklärungs- und Beratungsprogramme ausgegeben werden. Die Gegenseite argumentiert, dass Cannabis eine Einstiegsdroge sei, nach der Legalisierung noch mehr Menschen kiffen würden und der illegale Markt nicht verschwinden werde. Für Expertinnen und Experten ist die Legalisierung vor allem ein komplexer Prozess, der sich in verschiedenste Richtung entwickeln könnte, wie die USA, Kanada und Uruguay in der Vergangenheit gezeigt haben.
“Die Katze ist aus dem Sack”, sagt Alfredo Pascual, ein Analyst der Investmentfirma Seed Innovations. “Aber noch ist alles unklar. In Kanada sind medizinische Züchter auf den legalen Markt übergegangen. In den Niederlanden sind der medizinische und der für den Freizeitkonsum gedachte Anbau streng getrennt. Wer weiß, wie das in Deutschland gehandhabt wird. Es wird auf jeden Fall gigantische Konsequenzen haben.”
Das betrifft auch den Schwarzmarkt. Dealer fühlen sich durch das Legalisierungsvorhaben einerseits ermutigt, machen sich aber gleichzeitig Sorgen über die längerfristigen Auswirkungen auf ihr Geschäft. André, ein 27-Jähriger, dessen vollen Namen wir hier nicht nennen, dealt seit 2015 in Berlin. Er hofft, dass seine Kunden durch die bevorstehende Legalisierung entspannter werden. “Das ist eine gute Sache. Cannabis macht Menschen glücklich, und ich finde, dass mehr Leute es probieren sollten. Die Regierung könnte die Legalisierung allerdings zum Anlass nehmen, super streng gegen uns und unsere Quellen vorzugehen.”
Constantine, ein 28 Jahre alter Musiker aus Berlin, der hier ebenfalls nicht seinen vollen Namen nennen möchte, kifft täglich. Er hofft, dass die Legalisierung die Qualität steigern wird und die Menschen dann endlich wissen, was man genau konsumiert. “Ich bin sehr froh darüber”, sagt er. “Es wird sauberer sein, und es ist so viel besser, über die enthaltenen Terpene Bescheid zu wissen.” Terpene sind die chemischen Bestandteile, die verschiedene Highs verursachen.
Ein liberales Modell nach kalifornischem Vorbild sei laut Constantine am besten, aber er ist strikt dagegen, dass sich Freizeitkonsumentinnen und -konsumenten für den Cannabis-Kauf registrieren lassen müssen. “Es wird mein Leben so viel einfacher machen”, sagt Constantine, der mit Cannabis auch seine Rückenschmerzen behandelt, die er seit einer alten Sportverletzung hat. “Ich bin immer etwas ängstlich gewesen. Sobald ich rauche, werde ich viel entspannter.”
Legalisierungsbefürworter sehen im Erfolg des medizinischen Cannabis in Deutschland bereits ein gutes Vorzeichen für den Freizeitmarkt. Schon jetzt haben wir hier den größten und profitabelsten Cannabis-Markt in ganz Europa. Bis 2028 soll das Geschäft 7,7 Milliarden Euro wert sein. Der Freizeitkonsum von Cannabis in Kanada, das eine Bevölkerung von 38 Millionen hat, ist seit Oktober 2018 legal, und seitdem ist der dortige Markt bereits zwei Milliarden Euro wert. Zum Vergleich: In Deutschland leben 83 Millionen Menschen.
Die Branche erhält ohnehin gerade global großen Aufwind. Mexiko, Malta, der Libanon und Luxemburg haben entweder gerade Cannabis legalisiert oder stehen kurz davor.
Bei Aphria RX arbeitet man derweil weiter daran, Feuchtigkeit, Düngemittel und Beleuchtung zu optimieren, um für das neue Zeitalter des Cannabis-Konsums gewappnet zu sein. “Es wird uns sehr leicht fallen, die Produktion hochzufahren”, sagt Sascha Mielcarek, Leitender Direktor für ganz Europa. “Mit unserer Expertise und Innovationskraft können wir die beste Qualität der Welt liefern.”