Homofeindlicher Angriff oder Zoff um Rettich? Wie ein Streit in einem Berliner Imbiss eskalierte

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Das Maroush in Kreuzberg ist eine Institution. Fast jeder Berliner und jede Berlinerin hat wohl in dem kleinen gekachelten Laden unweit von unzähligen Kneipen und Clubs schon mal zu später Stunde ein arabisches Sandwich verdrückt. Umso alarmierender wirkt die Nachricht aus der vergangenen Woche:

Ein queerer Ägypter soll am 15. Juni von einem Mitarbeiter des arabischen Falafel-Ladens homofeindlich beleidigt und geschlagen worden sein. Davon berichtet das mutmaßliche Opfer auf Facebook – und fügt Fotos von blauen Flecken bei, die ihm der Mitarbeiter des Imbiss verpasst haben soll.

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“Ich wurde beleidigt, attackiert, verletzt und geschlagen”, schreibt der 37-jährige Choreograf Adham F. – und das nur wenige hundert Meter von etablierten LGBTQ-Kneipen wie dem Möbel-Olfe oder dem Südblock entfernt. Zunächst habe ihm der Imbiss-Mitarbeiter das Sandwich mit Zutaten belegt, die er ausdrücklich nicht haben wollte. Dann wurde es hässlich: “Der Mitarbeiter sagte mir, er fände mich verweiblicht und nuttig”, schreibt F. Draußen vor der Tür habe ihn der Mann weiter beleidigt, und letztlich gepackt und gekratzt.

Vonseiten des Restaurants klingt die Geschichte anders. “Jeder war, ist und bleibt willkommen im Maroush”, schreibt der Besitzer auf Facebook. “Viele unserer Kunden sind homosexuell und wir pflegen eine enge Beziehung mit ihnen.” Was stimmt nun?

“Die Kripo war da. Es gab eine Demo. Und alles wegen einem Stück Rettich.”

Vier Tage nach dem Vorfall hat VICE zwei am Samstag anwesende Mitarbeiter des Restaurants in der Adalbertstraße mit den Vorwürfen aus dem Facebook-Post konfrontiert. Sie erklärten, die Sache habe nichts mit der Sexualität des Kunden zu tun gehabt – sondern nur mit einer unabsichtlich falsch zubereiteten Bestellung.

“Heute war der RBB hier, zwei weitere Kamerateams und ein Journalist vom Tagesspiegel“, sagt ein Mitarbeiter und schüttelt etwas resigniert den Kopf. “Dann gabs vorhin so eine Demo. Einen Flashmob. Die Kripo war da. Und das alles wegen einem Stück Rettich.”

Schaut man auf die Facebookseite des Berliner Imbiss, wird klar, dass sich die Empörung nicht nur in der Adalbertstraße entlädt.

“Ihr seid eine Schande für den Kiez. Für ganz Berlin. Was ist kaputt bei euch?”

“Das ist das Ende. Macht am besten gleich zu!”

“Sagt mal Maroush, bekommt man bei euch das Essen auch ohne Körperverletzung oder ist das so eure ‘geheime Zutat’?”

Der Maroush-Mitarbeiter, der F. an diesem Abend bedient hat, zeigt VICE den Mitschnitt der Überwachungskamera im Restaurant

Auch auf Yelp und Tripadvisor werten Hunderte den Laden mit einem Stern ab – und die Menschen darin gleich mit, als “homophobe Arschlöcher, die unschuldige Kunden zusammenschlagen” und Schlimmeres.

Der Maroush-Mitarbeiter, der F. an diesem Abend bedient hat, zeigt VICE den Mitschnitt der Überwachungskamera im Restaurant, der die Bestellung des Kunden zeigt. Er nimmt sich Zeit, zu erklären und ist sich keiner Schuld bewusst.

Die Aufnahmen der Überwachungskamera zeigen in sehr guter Qualität – jetzt wird es etwas kleinlich –, dass der Maroush-Mitarbeiter ein ganz normales Falafel zubereitet, und eben nicht, wie Adham geschrieben hat, eins, in dem absichtlich nur Rettich drin ist. Anschließend sieht man eine Auseinandersetzung über die Theke hinweg, wobei die Körpersprache des Mitarbeiters beschwichtigend und abwehrend wirkt, bis er dem Kunden auf dessen Wunsch (er zeigt zur Kasse) sein Geld zurückgibt.

“Der Kunde hat ein Falafel ohne Rettich bestellt. Ich hab’s zusammengestellt, auf den Grill gelegt und wusste nicht mehr: Hab ich jetzt den Rettich reingemacht oder nicht? Also bat ich den Kunden, das bitte selbst zu checken. Das hat er schon als Beleidigung verstanden”, sagt er. “Hier siehst du, wie er das Falafel minutenlang auseinandernimmt und sich dann aufregt, weil er ein Stückchen Rettich ganz unten gefunden hat.”

Den weiteren Verlauf schildert der Mitarbeiter wie folgt: Er bietet dem Kunden ein neues Sandwich an, doch dieser will sein Geld zurück und fängt an, die Mutter des Mitarbeiters zu beleidigen. Der Streit verlagert sich auf die Straße, wo sich die beiden Männer anbrüllen, bevor schließlich Dritte dazwischengehen.

Was tatsächlich außerhalb des Ladens passiert ist, lässt sich nicht feststellen, da die Kamera aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht auf die Straße filmen kann. Außerdem nimmt sie keinen Ton auf; die Inhalte der Gespräche sind also nicht bekannt. Klarheit können hier nur Zeugen schaffen.

Wir werden wohl nie erfahren, wer wessen Mutter zuerst beleidigt hat

Was ist mit den homophoben Beleidigungen? Wir sagen den Mitarbeitern des Maroush, dass der Kunde behauptet, homofeindlich beschimpft worden zu sein. Dass man ihm gesagt hätte, dass er zu feminin sei und ihm die Beine abschneiden würde, wenn er hier nochmal auftaucht – alles auf Arabisch. Und dass es eben der Mitarbeiter gewesen sei, der geschworen habe, die Mutter des Kunden zu ficken.

“Das ist Quatsch. Er war ja auch mit einer Frau da. Woher soll ich das denn wissen, ob er schwul ist? Wir haben nichts darüber gesagt!”, sagt der Mitarbeiter. Wir haken nach: Hat Maroush wirklich kein Problem mit Schwulen? Er winkt ab und zeigt auf die Straße. “Hier kommen so viele Kunden rein, schwul, nicht schwul, ist mir doch egal. Sind doch alles nur Menschen.” Woher die blauen Flecken und die Kratzer auf der Brust des Ägypters kommen könnten? Der Mann wirft die Hände in die Luft: “Keine Ahnung.”

Mittlerweile ermittelt der Staatsschutz wegen Hasskriminalität

Die Ermittlungen in dem Fall hat mittlerweile der Staatsschutz übernommen, erklärte eine Sprecherin der Polizei Berlin am vergangenen Freitag gegenüber VICE. Der werde prüfen, ob der Mann aus einem homofeindlichen Hintergrund heraus angegriffen wurde – oder ob es wirklich nur eine hitzige Auseinandersetzung über eine späte Mahlzeit war.


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“Dazu wird der Staatsschutz sicher nochmal zwei Zeugen von Samstag befragen und mit allen Beteiligten reden”, so die Sprecherin. “Ansonsten haben wir zwei Anzeigen vorliegen: Einmal wegen Körperverletzung gegen den Mitarbeiter und einmal eine wegen Beleidigung gegen den Kunden.” Eine Zeugin, die mit dem Ägypter unterwegs war, sagte aus, sie habe gesehen, wie ihr Freund von dem Mitarbeiter geschlagen worden sei. Ein anderer Zeuge, der die Szene auf der Straße mitbekam, wollte anonym bleiben. Er habe nur gesehen, wie der Kunde von dem Mitarbeiter am Arm festgehalten wurde. Die Polizeisprecherin sagte, man habe dem Mann vor Ort einen Rettungswagen zur Behandlung der Wunden angeboten. “Das hat er aber abgelehnt.”

VICE hat den Kunden kontaktiert, um seine Seite der Geschichte zu hören. “Es war eine schwierige und überwältigende Zeit, auch medizinisch gesehen, mit all meinen Verletzungen”, schreibt er VICE sechs Tage nach dem Vorfall über Facebook. Er erklärte sich in einer weiteren Nachricht gesprächsbereit, reagierte jedoch auf weitere Fragen bislang nicht.

Empörungswellen statt Nachfragen: Kein gutes Zeichen für die Gesprächskultur

Einerseits zeigt der Fall: Ungebremste Empörung verbreitet sich schnell. Viele Berliner und Berlinerinnen haben schon Public Shaming auf Facebook betrieben, bevor sie wissen konnten, was wirklich passiert war. Andererseits: Sollte sich der Angriff aus homofeindlichen Gründen als erwiesen herausstellen, wäre es ein schockierendes Anzeichen für Hass und Intoleranz mitten in einem Berlin, das sich nicht nur im Pride-Monat gern als Hauptstadt der Freiheit vermarktet.

Bis der genaue Hergang geklärt ist, bleiben zwei sehr widersprüchliche Darstellungen, Fotos von Wunden und gegenseitige Schuldzuweisungen. Und es ist ungeklärt, ob es an diesem Samstagabend in Kreuzberg um Schwulenhass ging – oder um eingelegtes Gemüse.

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