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Ein Fass und ein Baseballschläger: So begann die neue Ära der politischen Jugendbewegungen im 21. Jahrhundert. Im Jahr 1998 schränkte ein neues Universitätsgesetz die Autonomie der Hochschulen in Serbien ein. Der jugoslawische Präsident Slobodan Milošević ersetzte unliebsame Dozierende mit Loyalisten – um so die freie Meinungsäußerung in Serbien einzuschränken. Studierende der Universität Belgrad gründeten als Reaktion darauf die Protestgruppe Otpor! (Serbisch für “Widerstand”). Eines ihrer wichtigsten Werkzeuge: Spott. Die Regierung sammelte im Zuge ihrer Kampagne “Ein Dinar für die Aussaat” an öffentlichen Plätzen Geld für Bauern. Otpor starteten daraufhin “Ein Dinar für die Rente”: Die Gruppe klebte Miloševićs Gesicht auf ein Ölfass und stellte es mitten im größten Einkaufsviertel Belgrads auf, daneben lag ein Baseballschläger. Ein Schild erklärte Passanten, sie dürften für eine kleine Spende auf das Fass eindreschen.
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Die Studierenden beobachteten, wie Menschen ihren Gefühlen für den Präsidenten freien Lauf ließen – und die Behörden vor ein Dilemma stellten: Nichts tun und schwach wirken? Oder das Fass abtransportieren und sich lächerlich machen? Am Folgetag zeigte ein Oppositionssender Bilder von Polizisten, die das Fass “verhafteten”. Otpor waren landesweit bekannt geworden. Innerhalb von nur zwei Jahren wuchs die Gruppe zu einer Bewegung mit 70.000 Mitgliedern heran, die mit ihrer Strategie aus Humor, gewaltlosem Widerstand und Popkultur den Kampf gegen Miloševićs Regime anführte. Milošević wurde 2000 durch einen Volksaufstand gestürzt, 2001 festgenommen und musste sich bis zu seinem Tod 2006 vor einem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verantworten.
Otpors Vorbilder waren Gandhi, Martin Luther King Jr. und Gene Sharp, ein US-Politikwissenschaftler, der gewaltfreie Aktionen erforschte. Sie verpassten dem politischen Aktivismus ein neues Image, um die desillusionierte Jugend zu erreichen. Statt mit Waffen kämpften sie mit Logos, Slogans und Straßentheater. Mithilfe von Humor machten sie Widerstand zum Spaß, mit Branding-Strategien machten sie ihn attraktiv und mit Technologie verbreiteten sie Informationen und organisierten Proteste.
In den Nachbarländern der ehemaligen Sowjetunion sowie im Rest der Welt lösten Otpor einen Dominoeffekt aus. Die Gruppe lieferte eine Blaupause für Jugendbewegungen, die sich viele noch heute zunutze machen.
Im Jahr 2003 starteten die Otpor-Mitgründer Srđa Popović und Slobodan Dinović eine NGO namens Center for Applied Nonviolent Action and Strategies (CANVAS), die demokratische Aktivisten weltweit berät. Im selben Jahr nutzte die georgische Jugendbewegung Kmara! (“Genug!”) das von CANVAS vermittelte Wissen und trug maßgeblich zum gewaltlosen Machtwechsel in ihrem Land bei. In der Ukraine organisierte die Bewegung Pora! (“Es ist Zeit!”) die Jugend des Landes 2004 zum Protest gegen Wahlbetrug und verhalf der Orangen Revolution zum Erfolg. Die Strategien und Angebote von CANVAS halfen auch 2005 beim Regimewechsel im Libanon und 2008 bei der Einführung demokratischer Wahlen in den Malediven. Ihr Handbuch Nonviolent Struggle: 50 Crucial Points wurde 2009 während der Proteste nach den iranischen Präsidentschaftswahlen 17.000 Mal heruntergeladen. Eineinhalb Jahre vor Beginn des Arabischen Frühlings besuchten Blogger und Aktivistinnen aus Ägypten, die Jugendbewegung des 6. April, eine CANVAS-Trainingssession in Belgrad. Die Gruppe wurde zu einem integralen Bestandteil der Proteste gegen Präsident Mubarak. Das Logo von Otpor, eine stilisierte Faust, entwickelte sich zum weltweiten Widerstandssymbol, vom Zucotti Park in New York bis zum Tahrir-Platz in Kairo.
Die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei CANVAS-Trainings seien jung, sagt
Srđa Popović gegenüber VICE. Dass junge Menschen oft die Speerspitze des sozialen Wandels bilden, habe mehrere Gründe: “In den 20ern sind Menschen von ihrem Recht auf eine gute Zukunft überzeugt. Junge Menschen können auch mehr Zeit in Protest investieren, denn sie haben noch keine Karrieren und Familien.” Jugendliche seien mutiger, weil sie nicht so viel zu verlieren hätten. “Wenn die Familie von deinem Einkommen abhängt, bist du erpressbar. Für die eigenen Überzeugungen das Studium zu riskieren, ist dagegen einfacher,” sagt Popović.
Historische Forschung belegt, dass gewaltloser Widerstand mehr als doppelt so effektiv ist wie sein gewaltsames Gegenstück.
Der Erfolg einer Revolution hängt von ihrer Massentauglichkeit ab. “Für eine erfolgreiche Bewegung braucht es junge Menschen”, sagt Bryan Farrell, Journalist, Aktivist und Redakteur der Website WagingNonviolence.org. “Durch ihre Energie macht das Ganze Spaß. Sie sorgen dafür, dass Protest attraktiv wirkt.” Das Geniale an Otpor und anderen Jugendbewegungen sind die Methoden, mit denen sie Menschen anlocken.
Anfangs hielten sich Otpor fern von herkömmlichen Protesttaktiken wie Märschen und Kundgebungen – dazu fehlten ihnen die Menschenmassen. Stattdessen machte die Gruppe Revolution zu etwas Coolem. “Unser Produkt ist ein Lifestyle”, erklärte Mitgründer
Ivan Marović 2011 gegenüber Foreign Policy. “Bei der Bewegung geht es nicht um Probleme, sondern um eine Identität. Wir wollen Politik sexy machen.”
Witzige Logos, Slogans und irritierende Aktionen waren für Otpor also nicht nur Demo-Taktiken. Sie waren eine Branding-Strategie, mit der sich eine kritische Masse erreichen ließ, die wiederum traditionelle Protestformen wie Streiks effektiv machte.
Die thailändische Politikwissenschaftlerin Janjira Sombatpoonsiri hat in ihrer Doktorarbeit untersucht, weshalb Otpor für junge Menschen so attraktiv war. “Sie traten der Bewegung bei, weil sie arbeitslos waren und Milošević für ihre Probleme verantwortlich machten“, erklärt sie. Zwar hätten sie klare Zielvorstellungen gehabt, der “Spaßfaktor” sei allerdings ebenfalls ausschlaggebend für den Beitritt gewesen.
Die sozialen Medien haben das Vorgehen von Jugendbewegungen grundlegend verändert. In den digitalen Netzwerken können Bewegungen schnell auf ein Vielfaches anwachsen. Hashtag- Kampagnen etwa machen Widerstand für jede Person zugänglich und können große Wellen schlagen. Die Jugendbewegung des 6. April begann als Facebook-Gruppe, die einen Arbeiterstreik unterstützte. Als Einwohner Hongkongs 2014 ihre “Regenschirm-Proteste” für freie Wahlen abhielten, umgingen Unterstützerinnen und Unterstützer in Festlandchina die Onlinezensur, indem sie Bilder statt Texte posteten. Auf Plattformen wie Twitter können Demonstrierende ihre Geschichte ungefiltert mit der Welt teilen, selbst wenn die regionalen Medien korrupt sind oder staatlich zensiert werden.
Die Otpor-Taktiken, von Straßentheater bis hin zu provokanten Streichen, haben auch außerhalb der digitalen Welt Spuren hinterlassen. Jugendbewegungen setzen zunehmend darauf, öffentliche Räume einzunehmen. Die Occupy-Bewegung beanspruchte in New York und weltweit Parks und Straßen. Der Tahrir-Platz wurde zum Brennpunkt des Arabischen Frühlings. Die Regenschirm-Demonstranten brachten in Hongkong 79 Tage lang Schulen und ganze Stadtteile zum Stillstand. All das ist eine natürliche Weiterentwicklung von Otpors Strategie, das eigene Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen, bis sich niemand mehr der Frage entziehen kann: “Auf wessen Seite stehst du?”
Die politischen Klüfte sind 2018 so groß und deutlich wie selten zuvor. Es liegt weiterhin an der Jugend, umfassende und nachhaltige Veränderung herbeizuführen.
Historische Forschung belegt, dass gewaltloser Widerstand mehr als doppelt so effektiv ist wie sein gewaltsames Gegenstück. Für ihr Buch Why Civil Resistance Works erforschten die Politikexpertinnen Erica Chenoweth und Maria J. Stephan Bewegungen von 1900 bis 2006. Dabei stellten sie fest, dass Gewaltlosigkeit mehr Menschen zum Mitmachen bewegt, weil “die Hürden für die Teilnahme nicht so groß sind”. So werde die Bewegung gestärkt und könne mit größerer Wahrscheinlichkeit eine stabile Demokratie herbeiführen. Chenoweth und Stephan fanden außerdem heraus, dass keine Kampagne versagte, sobald sie nur 3,5 Prozent der Bevölkerung nachhaltig mobilisiert hatte – und alle Bewegungen, die diese Schwelle überschritten, waren gewaltlos. “Wenn die Menschen hinter den Kampagnen vernünftig planen, sich beraten lassen und stark bleiben”, schreibt Chenoweth, “dann haben viele von ihnen Erfolg, selbst wenn die Regierung Gewalt gegen sie einsetzt.”
Gewaltlose Widerstandsaktionen haben in den vergangenen Jahren unter anderem deshalb versagt, weil die Proteste nicht groß genug waren, wie etwa bei der weißrussischen “Jeans-Revolution” 2006, oder weil ihre zentrale Organisation zerfiel, wie im Arabischen Frühling. Die Jugendbewegung des 6. April zerbrach in zwei Gruppen, beide wurden vom ägyptischen Staat 2014 mittels Spionagevorwürfen verboten. Die Regenschirm-Proteste in Hongkong hatten nicht den erhofften Einfluss auf die Wirtschaft, die chinesische Regierung blieb unbeugsam und inhaftierte die Studierenden, die die Bewegung angeführt hatten.
Die Euromaidan-Proteste gegen die Korruption der Janukowytsch-Regierung in Kiew begannen 2013 ähnlich wie die erfolgreiche Orange Revolution von 2004: Musik, Ansprachen, Performance-Kunst. Als die Regierung allerdings versuchte, die Proteste gewaltsam niederzuschlagen, setzten sich Protestierende zur Wehr. Mehr als 100 Regierungsgegner wurden getötet, Tausende verletzt. Janukowytsch floh ins Exil und es kam tatsächlich zu einem Regierungswechsel. Einige Ämter gingen jedoch an rechtsextreme Politiker – wohl kaum die Veränderung, die die Demonstrierenden angestrebt hatten.
Auch reaktionäre Bewegungen machen sich die Otpor-Formel zunutze, allen voran die Alt-Right-Bewegung in den USA und die Identitäre Bewegung in Deutschland und Österreich. Mit Störaktionen, technischem Know-how und starkem Branding – Pepe, der Frosch, Logo-Flaggen und Hipster-Frisuren – verkaufen Anhänger ihre konservativen Haltungen als modern und cool. Hinter dieser Fassade sind rechtsextreme Bewegungen allerdings weiterhin darauf aus, Gewalt anzudeuten und letztlich auch auszuüben. “Alle können unsere Taktiken in einem frei verfügbaren Buch nachlesen”, sagt Popović. “Leider heißt das, dass sie bei genügend Massen-Appeal jeder einsetzen kann – lediglich für allzu extreme Absichten sind die Strategien nicht geeignet.”
Jugendbewegungen sind meist kurzlebig, doch ihr Einfluss ist oft noch lange zu spüren. Inzwischen nutzen nicht nur Studierende Otpor-Strategien, sondern sogar Parteien. Als Sersch Sargsjan im Frühling 2018 zum Ministerpräsidenten von Armenien wurde, rief der Oppositionsführer Nikol Paschinjan zu einem 14-tätigen Marsch von der Stadt Gjumri in die Hauptstadt Jerewan auf. Sargsjan hatte zuvor zwei Amtsperioden als Staatspräsident gedient und stand im Verdacht der Korruption und Vetternwirtschaft – kurz vor seinem Amtswechsel hatte die Regierung die Befugnisse des Ministerpräsidenten ausgeweitet und das Staatspräsidentenamt größtenteils entmachtet. Als der Marsch am 13. April am Friedensplatz von Jerewan eintraf, hießen ihn Tausende Demonstrierende mit der Parole “Sersch ablehnen!” willkommen. Die Bewegung wuchs an zu einer landesweiten Kampagne des zivilen Ungehorsams, mit Streiks, Straßensperren und Störungen im Nahverkehr. Wer zu Hause bleiben musste, beteiligte sich anderweitig – und schlug jeden Abend um 23 Uhr für eine Viertelstunde Töpfe und Pfannen aneinander.
Dass die friedliche Kampagne in Armenien so groß wurde, lag auch an ihrem Auslöser: Popović nennt Korruption ein “alltägliches, unpolitisches Thema”. Wenn Politiker die Steuergelder der Bevölkerung missbrauchen, fühlen sich davon mehr Menschen betroffen, als wenn es um abstraktere Themen wie Demokratie oder Menschenrechte geht. Die armenischen Demonstrierenden hatten ein klares Ziel, das sie gewaltfrei erreichten: Am elften Tag der Proteste trat Sargsjan zurück. Doch wie in Ägypten und Syrien ist damit noch lange nicht das gesamte System erneuert – die Hydra hat nur einen Kopf weniger.
Die politischen Klüfte sind 2018 so groß und deutlich wie selten zuvor. Es liegt weiterhin an der Jugend, umfassende und nachhaltige Veränderung herbeizuführen. Doch Popović betont, die junge Generation stehe nicht allein da.
Als wir Otpor gründeten, waren unsere wichtigsten Mitglieder nach den Studierenden und Schülern die ‘Widerstandsmütter’”, sagt Popović. “Die Mütter der Aktivistinnen und Aktivisten unterstützten Veranstaltungen, stellten sich der Polizei in den Weg und backten Kuchen – all so was.” Studierende, das ist Popović wichtig, hätten noch nie allein Veränderungen herbeigeführt, nicht einmal in der 68er-Bewegung. Eine erfolgreiche Bewegung benötige Vielfalt und Brücken unter den Bevölkerungsgruppen. Sein Rat an alle, die die Welt gewaltlos verändern wollen: “Sucht euch Taktiken und Ziele, die eure Bewegung von der Randgruppe zum Mainstream machen.”