Hunderte indigener Frauen werden in Kanada ermordet und niemand weiß warum

Foto von Nicky Young

Im Februar wurde die Leiche der 26-jährigen Loretta Saunders, einer schwangeren Inuit aus der kanadischen Provinz Neufundland, am Rande eines Highways in New Brunswick gefunden. Saunders, eine Studentin an der Saint Mary’s University in Halifax, schrieb gerade an ihrer Doktorarbeit über vermisste und ermordete indigene Frauen in Kanada—und wurde so in einer tragischen Wendung Gegenstand ihrer eigenen Forschungsarbeit, in der es um die neuesten Erkenntnisse zu der mutmaßlichen Ermordung und dem Verschwinden Hunderter indigener kanadischer Frauen geht.

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Die kanadische Regierung führt eigentlich keine nationale Statistik über verschwundene Personen, aber in einer Datenbank, die von der unabhängigen Forscherin Maryanne Pearce angelegt wurde, sind seit den 1950ern 4.035 Fälle ermordeter Frauen und Mädchen dokumentiert, 883—also fast 25 Prozent—davon Indigene. Eine schockierende Statistik, wenn man bedenkt, dass indigene Frauen nur drei Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen.

Welche Gründe hinter all diesen Fällen von toten und verschwundenen Frauen stecken, bleibt unklar. Laut David Langtry, dem Leiter der kanadischen Menschenrechtskommission, lässt sich das Problem der Gewalt gegen indigene Frauen in Kanada zumindest teilweise auf das historische Verhältnis des Landes zu seiner indigenen Bevölkerung zurückführen. Jahrzehntelanger systematischer Missbrauch und ein von der Regierung geduldeter Rassismus haben bei der indigenen Bevölkerung—insbesondere bei Frauen und Mädchen—zu einer höheren Anfälligkeit für Gewaltverbrechen, Obdachlosigkeit und Drogenmissbrauch, sowie anderen sozialen Missständen geführt.

Die Zahlen bestätigen dies: 2006 besaßen 35 Prozent der indigenen Frauen über 25 keinen Highschool-Abschluss und 30 Prozent der indigenen Frauen bezogen ein als niedrig geltendes Einkommen. Trotz der eindeutigen Zahlen hat die kanadische Regierung nur zögerlich auf das Problem reagiert und sich Forderungen nach einer landesweiten Untersuchung bisher widersetzt.

Nach einer Studie von Human Rights Watch aus dem Vorjahr geht das Problem zumindest teilweise auch auf das zerstörte Vertrauen der indigenen Frauen und Mädchen in die kanadische Justiz zurück. Dem Bericht zufolge wurden zahlreiche indigene Frauen Opfer von Misshandlung und Missbrauch durch die Vollzugsbehörden.

„Man kann durchaus sagen, dass die Regierung bemüht ist, die Wahrheit über das, was indigenen Frauen geschieht, zu verschleiern“, sagt Shawn Brant, ein Aktivist der First Nations. „Ich denke, wenn die Wahrheit über das, was den Frauen der First Nations angetan wird, bekannt würde, gäbe es auf indianischem Land einen Aufstand. Ich glaube, es würde die Angehörigen der First Nations zutiefst erschüttern.“