Ich bin Autistin und das ist auch gut so

Jeder kennt aus der eigenen Kindheit diesen einen Mitschüler, der „irgendwie komisch” war, dieses eine Mädchen in der Kindergartengruppe, das „nicht so richtig reingepasst” hat, den schrulligen Außenseiter, der bei keiner Maturaparty dabei war. Das kann natürlich viele Gründe haben. Vielleicht war Johannes in der siebten Klasse einfach scheu oder Hannah fand Züge spannender als alles andere, weil sie erst vier war und nicht wusste, was „wirklich spannend” eigentlich bedeutet. Aber eventuell hat dieses Anderssein einen Namen und ist, in meinen Augen, ziemlich cool. Autistisch zu sein, ist nicht immer einfach, insbesondere weil unsere Welt für Nichtautisten gebaut ist. Trotzdem würde ich meinen Autismus nicht wegtherapieren, selbst wenn es ginge.

Autisten werden oft als Sonderlinge abgestempelt und belächelt. Oder als irre Massenmörder dargestellt. Und wenn sich mal jemand ganz weltoffen geben will, betont er, dass Autisten ja total faszinierende Inselbegabungen haben. Gesund ist das alles nicht. Die wenigsten von uns sind komplett sozial inkompetent und Inselbegabungen sind extrem selten und nicht auf Autisten beschränkt. Wir sind, im Großen und Ganzen, stinknormale Menschen mit Partnern, Kindern und Jobs. Trotzdem sind wir anders und das ist, um den Berliner Bürgermeister a.D. Wowereit zu zitieren, gut so. Unsere Wahrnehmung und unser Sozialverhalten unterscheiden sich in der Tat von dem, was neurotypische Menschen so kennen. Wir gehen so durch die Welt, wie sich NTs (das sind wohl die meisten von euch, die neurologisch Typischen) auf Instagram nur an ihren besten Tagen präsentieren: #nofilter.

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Mit mir zu flirten, ist dementsprechend schwierig bis unmöglich, weil ich Mimiktopfschlagen spiele.

Alles ist immer gleich laut, gleich hell, gleich anstrengend. Das Gespräch am Nebentisch, die Musik im Café, das Aufschäumen der Milch, alles wird mir in der gleichen Lautstärke ins Ohr gedrückt wie das, was meine Begleitung mir zu erzählen versucht. Abgesehen davon kommt bei mir nur das an, was mein Gegenüber direkt verbal ausdrückt. Gesichtsausdrücke gehen an mir vorüber wie die erste Fußballbundesliga. Ich weiß, dass es sie gibt, aber ich verstehe das System nicht. Mit mir zu flirten, ist dementsprechend schwierig bis unmöglich, weil ich Mimiktopfschlagen spiele.

Einkaufszentren sind die Hölle. Aus nahezu jedem Geschäft dröhnt Musik, die Musik der Malls selbst kann davon aber nicht übertönt werden. Menschen drängeln, rempeln mich an, riechen, als hätten sie im Douglas oder im 17. Jahrhundert gebadet. Touristengruppen brüllen sich auf kleine und große Entfernungen Dinge in Sprachen zu, die ich unglücklicherweise verstehe, weil Sprachen eines meiner Spezialinteressengebiete sind. Wenn ich sie nicht verstehe, ist das Ganze erträglicher, weil mein Gehirn das Gesagte dann nicht automatisch verarbeiten muss. Meine beste Freundin musste mich beim letzten Besuch durch einen Seitenausgang ins Freie lotsen, weil ich nach einer Stunde Kaufhaus derart überwältigt war, dass ich weder richtig sehen, noch stolperfrei laufen konnte.

Die Autorin als Kind

Mimik ist schwierig, weil zu viel passiert. Das menschliche Gesicht hat extrem viele Muskeln, die jederzeit extrem viel tun. Autisten neigen dazu, nicht das big picture, sondern sämtliche Details zu erfassen. Ich sehe also, anders als NTs, nicht die Gesamtkomposition des Gesichtsausdrucks, sondern alle Einzelteile. Menschen halten aber nicht still, bis man Stirn, Augenbrauen, Mundwinkel und das ganze andere Zeug einzeln beobachtet und dann zusammengestückelt hat. Sie schauen Sekunden später schon wieder anders.

Über meine eigene Mimik habe ich relativ wenig Kontrolle, weil ich nicht verstehe, wie sich Bewegungen anfühlen und wie man dabei aussieht. Ich bin schon genug damit beschäftigt, mich auf das Gespräch zu konzentrieren und die Small-Talk-Vokabeln aufzusagen. In meiner Kindheit und Jugend hieß es deswegen, ich sei arrogant. Später einigte mein Umfeld sich auf das resting bitchface.

Das ist auch einer der Gründe dafür, dass ich als „socially awkward” wahrgenommen werde. Alles, was nicht direkt gesagt wird, zieht ungesehen an mir vorbei. Ironie und Sarkasmus nehme ich ebenso wörtlich wie sämtliche Sprichwörter und Wortspiele. Das führt zu Missverständnissen, bis ich mein Gehirn dazu animieren kann, eine Floskel abzuspeichern. Und selbst dann stelle ich es mir noch bildlich vor, weil ich nahezu ausschließlich in Bildern denke. Wenn zum Beispiel jemand „Wien” sagt funktioniert mein Gehirn wie Google Images. Innerhalb von Sekunden ruft es alle Bilder ab, die in meinem Kopf etwas mit Wien zu tun haben. Das ist viel witziger, als man denken mag. Die meisten Redewendungen sehen, wenn man sie wörtlich nimmt, extrem komisch aus. In meinem Kopf läuft praktisch 24/7 ein Tim-Burton-Film. Mir ist natürlich klar, dass Frauen keinen richtigen Pferdeschwanz, sondern einen Zopf haben. Und dass „so klein mit Hut” nicht bedeutet, dass jemand wirklich winzig klein ist und einen Zylinder trägt. Vor meinem geistigen Auge (auch eine sehr schöne Metapher) ist es trotzdem so.

Dennoch werden Autisten missverstanden. Das liegt nicht zuletzt an dem verschrobenen Bild, das viele Medien so von uns zeichnen. In den vergangenen Monaten wurde „Autismus” immer mehr zu einer Metapher. Früher fand man Sachen „schwul” und Leute, die man nicht mochte, waren „Spastis”. Heute ist alles „autistisch”, was nicht niet- und nagelfest ist. Der Harlem Shake ist „ eine kollektive Antwort auf den sexuellen Autismus“, „architektonische Autisten” machen unsere Städte kaputt, Putins Politik ist so autistisch, dass auch „keine therapeutischen Telefongespräche mit Frau Merkel” helfen, ein Hund bewegt sich „autistisch in der Welt seiner erotischen Fantasien” und das moderne Kino ist der „Autismus der Pixelwelten“. Damit meinen die Kollegen von der FAZ, der ZEIT und Co nicht autistisch im medizinischen Sinne, sondern eben das, was man damit heute so verbindet. Mangelnde Kommunikation, Empathielosigkeit und Gefühlskälte. Das kann man so machen, Sprache entwickelt sich bekanntermaßen, aber es schadet real existierenden Menschen. Autisten sind keine Einhörner. Sind Einhörner nicht die Einzelgänger unter den Fabelwesen? Einhornmetaphern wären doch vielleicht auch schick.

Die zweite Ausgabe von N#MMER erscheint Anfang Mai und ihr könnt sie hier bestellen.

Weil wir die Welt ungefiltert wahrnehmen und nonverbale Kommunikation ohne Simultanübersetzung nicht entziffern können, ist unser Alltag manchmal anders als der von NTs. Das kann furchtbar nerven oder extrem bereichernd sein, das ist von Autist zu Autist und von Erfahrung zu Erfahrung unterschiedlich. Um das wenigstens halbwegs verständlich zu machen, habe ich ein Magazin gegründet.

N#MMER heißt es, und zwar weil wir Autisten angeblich so gut mit Zahlen können und im Internet leben. In den meisten Fällen (zum Beispiel in meinem) stimmt das nicht. Deswegen ist es witzig. Ja, wir können auch witzig sein und wir können sogar mit Worten und Bedeutungen spielen. Dass man es bei anderen nicht versteht, heißt nicht automatisch, dass man es selbst nicht kann.

Mit N#MMER will ich drei Zielgruppen vereinen. Autisten, die über sich und andere Autisten lesen können, AD(H)Sler, um die es im Magazin ebenfalls geht, weil Autismus und AD(H)S sich gar nicht so unähnlich sind, und Astronauten. Natürlich keine richtigen Astronauten (obwohl ich da niemanden ausschließen will, echte Astronauten dürfen uns natürlich lesen), sondern die Menschen, die uns mit der Lektüre auf unserem Planeten besuchen. Autismus wird auch oft als „Wrong Planet Syndrome” bezeichnet, weil wir uns des Öfteren fühlen, als wären wir von unseren Leuten auf dem falschen Planeten abgesetzt worden. Die Sprache ist komisch, es riecht merkwürdig und die Helligkeit ist ständig aufgedreht. Ich hege die tapfere Hoffnung, dass es dem gegenseitigen Verständnis zuträglich ist, wenn wir darüber sprechen, wie das #nofilter-Leben so ist. Eben genauso, wenn man ungeschönt lebt. Und vielleicht werden Spezialinteressen dann in Zukunft nicht mehr so häufig mit dem Savant-Syndrom verwechselt.

Es stimmt, dass Autisten häufig ausgeprägte Begeisterung für ganz spezielle Themen entwickeln. Wir lesen und lernen dann solange alles über eine Sache, bis wir kleine Spezialisten sind, ob es nun ums Kochen, Fotografie oder Sportstatistiken geht. Mit den Inselbegabungen eines „Rain Man” hat das nicht das Geringste zu tun, abgesehen davon, das Kim Peek, das Vorbild für Rain Man, eben gar kein Autist, sondern Savant war. Es ist eine Gratwanderung für unsere Autoren, die Artikel im Heft nicht zu spezialisiert, aber auch nicht zu oberflächlich zu schreiben. Ein Autist kennt sich mit ABA (Applied Behavior Analysis), einer fragwürdigen Therapie für Autisten, aller Wahrscheinlichkeit nach besser aus als jemand, der sich mit Klickertraining für Menschen noch nie beschäftigen musste. Die Kunst ist, es so zu schreiben, dass sich keine Zielgruppe langweilt, man aber auch niemanden verliert, weil ihm Hintergrundwissen fehlt.

Menschen sind komisch. Diagnose: Homo sapiens ist, denke ich, eine valide Formulierung.

Meine „ mental health” ist also ziemlich in Ordnung, auch wenn ich, den Diagnosehandbüchern zufolge, sowohl eine tiefgreifende Entwicklungsstörung (Autismus) als auch ein hyperkinetisches Syndrom (ADHS) habe. Mir wird ja auch von jedem, den ich nicht frage, unter die Nase gerieben, dass wir doch alle irgendwas haben und im Laufe der Zeit alle einen Platz im Karussell der psychischen Wehwehchen finden. Das mag sogar sein. Menschen sind komisch. Diagnose: Homo sapiens ist, denke ich, eine valide Formulierung. Überhaupt keinen Sinn ergibt dann allerdings die Ausgrenzung von Menschen mit neurologischen special effects in der Schule oder in der Arbeitswelt. Es mag naiv sein, von einer Welt zu träumen, in der wir nicht mehr an unserer körperlichen oder geistigen Gesundheit gemessen werden. Man kann aber versuchen, den anderen zuzuhören. Dann leben wir zwar immer noch nicht in einem Bob-Ross-Gemälde, aber wenn uns irgendetwas wenigstens in die Richtung bringt, dann sind es Inklusion und Neurodiversität.