Ich bin die 87 Prozent—barrierefreies Einkaufen

Ich bin die 87 Prozent. Ich muss mir keine Gedanken um Stufen machen, nehme aus Faulheit grundsätzlich den Aufzug und fahre lieber mit alten Straßenbahnen, einfach weil ich sie schöner finde. Mobilität ist ein Privileg, über das wir uns selten Gedanken machen, über Probleme von alten und/oder behinderten Menschen wird großteils geschwiegen. Wem fällt schon die kleine Stufe vor dem Blumengeschäft auf?

Ungefähr eine Million Menschen in Österreich haben dauerhafte Bewegungsbeeinträchtigungen, das sind 13 Prozent der Gesamtbevölkerung. 0,6 Prozent, das sind 50.000 Personen, sind auf einen Rollstuhl angewiesen. Außerdem leben 3,9 Prozent, also 318.000 Menschen, mit dauerhaften Sehproblemen. Diese bestehen trotz Sehhilfen. 2,5 Prozent (202.000 Menschen) sind von dauerhaften Hörproblemen betroffen. Alle Behinderungen werden in leichtes, mittleres und schweres Ausmaß unterteilt (Stand 2008).

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Um Diskriminierung zu minimieren und allen Menschen einen gleichen Zugang zu Ressourcen zu ermöglichen, wurde 2006 das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz beschlossen. Dieses verpflichtet Unternehmen zur Barrierefreiheit. Das bedeutet, dass beispielsweise Menschen mit Rollstuhl Zugang zu Geschäften haben müssen, aber auch, dass Webseiten so programmiert sind, dass Sehbehinderte sie anhören können. Bis Ende 2015 müssen also alle Unternehmen im Rahmen der sogenannten Zumutbarkeit barrierefrei zugänglich sein. Diese Zumutbarkeit wird aus dem Umsatz des Unternehmens und den Kosten für den etwaigen Umbau ermittelt. In jedem Fall müssen alle „zumutbaren” Konsequenzen gezogen werden, um behinderte Personen nicht zu diskriminieren. Öffentliche Gebäude genießen teils eine verlängerte Frist bis 2019.

Der Wirtschaftsbund fordert deswegen auch für private Unternehmen eine Verlängerung der Frist. Journalist und Behinderten-Aktivist Manfred Fischer argumentiert hingegen, dass die Umbauten sowohl Bauaufträge, als auch neue Kundinnen und Kunden bringen, sich also positiv auf die Wirtschaft auswirken werden. Überhaupt stößt die Verlängerung einer 10-jährigen Frist auf Unverständnis bei den Betroffenen. In ganz Österreich gibt es keine Kontrollbehörden—daher gibt es bei Nichteinhaltung keine Strafen.

Eine individuelle Person kann das Unternehmen allerdings auf Schadensersatz klagen, dann wird ein Schlichtungsverfahren eingeleitet. Obwohl Neubauten seit 2006 barrierefrei sein müssen, gibt es auch hier keine Kontrollen, das Gesetz kann also extrem leicht übergangen werden.

Es fehlt noch viel, um in Wien problemlos alltägliche Dinge barrierefrei erledingen zu können. Die grundlegendsten Einkäufe sind durch fehlende Rampen oft nicht machbar. Ich bin also mit einem einfachen Einkaufszettel auf die Mariahilfer Straße gefahren und habe so gut es mir möglich ist versucht, nachzuvollziehen, wie sich bewegungsbeeinträchtigte Personen beim Einkaufen tun. Die Mahü wird schon fortschrittlich sein—habe ich mir gedacht.

Einkauf

Gleich am Anfang strahlt mich ein barrierefrei zugänglicher Bäcker an, in dem ich Weckerl besorge. Als nächstes möchte ich meine moderate Nikotinsucht befriedigen. Leider ist die Trafik rampenlos und auch die Tür kommt mir für Rollstühle zu schmal vor.

Punkt zwei auf der Liste, Shampoo, kann ich wohl auch vergessen. Sowohl der nächste Bipa als auch der dm ein Stückchen weiter, haben Stufen vor der Eingangstür und keine Rampen.

Obwohl ich nicht gerade viel Geld ausgegeben habe, möchte ich, des Experimentes wegen, meinen Kontostand checken. Beide Banken haben mehrere Stufen vor dem Eingang. Der Bankomat ist bei einer der Banken zugänglich, wenn er auch sehr hoch ist.

Wenigstens meine Sojamilch bekomme ich.

Fazit

Viele Sachen sind auf der Mariahilfer Straße nicht zu bekommen, wenn man mit einem Rollstuhl unterwegs ist. Abgesehen von den oben gezeigten Läden, bin ich kaum an Geschäften vorbeigekommen, die keine Stufen vor der Eingangstür hatten. Das süße, winzige Café: nicht betretbar. Vapiano: leider auch nicht. Nicht mal McDonald’s bietet barrierefrei zugängliche Toiletten. Ich beginne zu verstehen, warum der Wirtschaftsbund verlängerte Fristen möchte. Fast kein Unternehmen hat sich bis dato um die Umbauten gekümmert und ohne Vorbereitung ist ein Jahr wohl kaum genügend Zeit, um dies nachzuholen. Die meisten großen Ketten sind dabei genauso hinterher, wie die kleinen Geschäfte.

Das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz besteht nun seit fast zehn Jahren und es gibt keinen sichtbaren Fortschritt. Ich kann den Frust der Betroffenen nicht ansatzweise erahnen. Denn ich gehe nach dem Einkaufsversuch nach Hause, muss keine Aufzüge suchen oder auf eine neue Straßenbahn warten. Das Shampoo kaufe ich beim Bipa nebenan, der genauso wenig barrierefrei ist, wie der auf der Mariahilfer Straße.

Jeder Mensch hat das Recht, und sollte daher die Möglichkeit haben, sich frei zu bewegen. Dass der Wirtschaftsbund darüber diskutiert und die Unternehmen bis jetzt keinen Finger gerührt haben, zeigt, welche Prioritäten in Österreich herrschen. Behinderte Menschen werden systematisch benachteiligt und keinen scheint es etwas anzugehen. Nicht mal die Gesundheitsversorgung ist gesichert. Um zu meiner Apotheke zu kommen, müssen erstmal einige hohe Stufen überwunden werden. Meine Hausärztin ist auch nicht barrierefrei zu erreichen.

Gehbehinderte, gehörlose und blinde Menschen müssen unglaublich viel Organisation und Planung in ihren Alltag stecken, für Dinge, die für den Rest der Bevölkerung selbstverständlich sind. Auch Schulen sind unter anderem total rückschrittlich. So wird verhindert, dass sich Kinder die Schule aussuchen können, die ihnen am meisten zuspricht. Sie müssen nämlich darauf achten, ob sie überhaupt betretbar ist und ob sie innerhalb des Gebäudes von Klasse zu Klasse kommen. Die Universität Wien ist nur wenig besser. Alles ist erreichbar, aber nur mit Umwegen.

Was könnt ihr tun?

Ein Bewusstsein entwickeln, Barrieren melden, vielleicht sogar die Inhaberinnen und Inhaber des Lieblingscafés auf fehlende Barrierefreiheit aufmerksam machen. Wien präsentiert sich als weltoffene, soziale Stadt. Es wird Zeit, auch endlich danach zu handeln.