Ich bin durch ein Teenie-Feriencamp vorübergehend zum Christen geworden

Zwei Wochen Feriencamp machten mich zum ultimativen W.W.J.D. (What would Jesus do)-Armband tragenden, Jesus-Superstar liebenden Mega-Christen. Meinem 14-jährigen Ich fehlte lediglich ein übergrosses Kruzifix und ich hätte aus religiösem Fanatismus die nächsten Kreuzzüge eingeleitet. Ich, der Christ.

Im Grunde bin ich kein besonders gottesfürchtiger Mensch. Meine Eltern haben mich ohne sonntägliche Kirchgänge oder Gebete vor dem Abendessen erzogen. Ich wurde zwar getauft, doch eher infolge kultureller Tradition als wegen religiöser Ansichten. Sie „glauben” zwar, sind aber nicht gläubig—das trifft heute vermutlich auch auf mich zu. Darum war diese unerwartete Bekehrung im christlichen Feriencamp ein echter Schreck. Als ich vom Feriencamp zurückkam, begrüsste ich meine Eltern mit den Worten: „Hallo Mutter. Hallo Vater. Gott liebt uns.”

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Foto: glasseyes view | Flickr | CC BY-SA 2.0

Des einen Freud, des anderen Leid: So könnte man wohl den Beginn aller Schulferien zusammenfassen. Kids, die am letzten Schultag auf Endorphinen galoppierend nach Hause kommen, um den bemitleidenswerten Eltern im Minutentakt auf die Nüsse zu gehen. Diese müssen wiederum plötzlich ein tägliches Unterhaltungsprogramm für ihre Lieblinge auf die Beine stellen. Vermutlich willigten meine Eltern deshalb so schnell ein, als mein Klassenkamerad Roger fragte, ob ich in ein Feriencamp mitkommen wolle.

Das Angebot war unschlagbar günstig und von der Schule bewilligt. Alles in Begleitung erwachsener Aufsichtspersonen natürlich. Keine mühsames Online-Bewertungen checken oder stundenlanges recherchieren, man traute damals noch dem gesagten Wort des Gegenübers. Mit Snowboard und Winterausrüstung im Gepäck setzten uns meine Eltern am Zürcher Hauptbahnhof ab und wir machten uns auf den Weg.

Am Anfang schien mir alles ganz normal. Mich erwartete das typische Camp-Ambiente, wie es nur ein Schweizer Bergdorf im Winter bieten kann. Eine idyllische Hütte mit genügend Raum für die 50 Teilnehmer. Nachdem sich alle in den zugewiesenen Zimmern einquartiert hatten—ich teilte mein Zimmer mit Roger und sechs anderen Jungen—wurden wir zum gemeinsamen Abendessen gerufen. Da kam mir das erste Mal etwas nicht ganz koscher vor (sorry, ich konnte es einfach nicht lassen).

Bevor sich irgendjemand vorstellte oder sonst was geschah, wurde gebetet. Also so richtig, mit geschlossenen Augen und den Händen gläubiger Apostel. Für die Anwesenden schien es das Selbstverständlichste der Welt zu sein. Nur mein Kumpel spielte neben mir völlig unbeeindruckt mit seiner Serviette. Zurück in unserem Zimmer konfrontierte ich ihn direkt: „Was war das mit dem Beten vorhin?” Er zuckte bloss mit den Schultern und antwortete: „Das sind hier alles so Christen. Keine Ahnung, mich interessiert es nicht, solange sie mich in Ruhe lassen. Sollen die nur beten.” In diesem Moment hätte ich ihm am liebsten mein Snowboard über den Schädel gezogen. Er hatte mich wissentlich in ein christliches Camp eingeladen, ohne es zuvor auch nur mit einem Wort zu erwähnen.

Foto: Dennis Skley | Flickr | CC BY-ND 2.0

Es dürfte keine Überraschung sein, dass ich den sozialen Anschluss verpasste. In den ersten Tagen fühlte ich mich oft einsam und wäre am liebsten wieder nach Hause gefahren. Roger liess das ganze total kalt. Während sich nach einem Tag im Schnee alle zum gemeinsamen Gebet einfanden, gammelten wir in unserem Zimmer vor uns hin. Er an seinem Gameboy oder in ein Heft vertieft, ich an die Decke starrend. Ich kannte ausser ihm niemanden und wusste mir nicht wirklich zu helfen: Jung-Ivan fiel durch den Kaninchenbau ins Christenwunderland. Auf der anderen Seite erwartete mich keine grinsende Katze, sondern ein kettenrauchender Ex-Heroin-Junkie. Er war ganz nett.

Max—nennen wir ihn mal so—war jung, Anfang 20, und gehörte zu den Leitern. Doch mir schien es, als ob die anderen Leiter stets Abstand zu ihm hielten. Während einer meiner einsamen Fahrten auf dem Skilift gesellte er sich zu mir und zündete sich eine seiner zahlreichen Zigaretten an. Unaufgefordert begann er aus seinem Leben zu erzählen. Er hatte beide Eltern verloren und seinen Kummer mit Drogen betäubt. Irgendwann landete er auf der Strasse und lebte nur noch für den nächsten Schuss. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, welches Ereignis für ihn die Erlösung darstellte—doch kurzgefasst: Er fand zu Gott. Mit einem Lächeln, das seine kaputten Zähne zeigte, sagte er oft: „Das Rauchen werde ich nicht los, aber vom Rest hat Gott mich erlöst.” Er glaubte, was er sagte und ich glaubte ihm.

Foto: Janine Pusa | Flickr | CC BY-ND 2.0

Max nahm mich zur ersten Gruppenbeichte mit. Es würde mir gut tun und ich könne auch nur zuhören. Was sich vor meinen Augen abspielte, faszinierte und verstörte mich gleichermassen. Im Kreis sitzend wurde vor wildfremden Leuten gebeichtet. Ein Mädchen, das über ihren aggressiven Vater erzählte, brach zusammen und gab sich einem Heulkrampf hin. Sie wurde getröstet, während die Anwesenden ebenfalls in Tränen ausbrachen und Händchen hielten. Nachdem sich alle beruhigten, folgte zum Schluss stets das obligatorische Amen. Da ich dazu tendiere, es meinen Mitmenschen immer recht machen zu wollen, gab es keine andere Alternative, als die komplette Kapitulation meinerseits: Ich machte mit, denn ich wollte nicht allein sein.

Durch meine Teilnahme an den Gruppenbeichten wurde ich ins kollektive Dasein aufgenommen. Ich durfte dieser exklusiven Gemeinschaft angehören. Eine heile Welt, in der abends mit den magischen vier Akkorden auf der akustische Gitarre die Lagerfeuer-Hits „Knockin’ On Heaven’s Door” und „Sweet Home Alabama” gesungen wurden. Ich verstand den Sinn dieser Gemeinschaft und war froh dazuzugehören. Dafür musste ich bloss Gott in mein Herz lassen, wie mir alle immer wieder versicherten. Schlagartig wurden Gott und ich BFFs und teilten einen Haufen High-Fives untereinander aus.

Es ist interessant, wie schnell so etwas passieren kann. Wenn man in einer Gruppe die nötige Bestätigung bekommt, ist man beinahe zu allem fähig. Das Buch Die Welle las ich erst ein Jahr später im Unterricht und verstand das Prinzip davon nur zu gut. So fühlte sich also ein Brainwash an.

Foto: Michael Pollak | Flickr | CC BY 2.0

Wieder zuhause angekommen, verstand ich die Welt nicht mehr. Meine Familie musste ich beinahe zum Gebet prügeln und die vertraute Zusammengehörigkeit des Camps vermisste ich enorm. Plötzlich war ich der Einzige mit einem W.W.J.D.-Armband—nicht einer von vielen. Meine Mutter erklärte mir: „Du musst wieder für dich selbst denken. Du kannst nicht erwarten, dass Gott—falls es ihn gibt—alles für dich regelt.” Ich brauchte ein paar Wochen, bis ich mich von meinem leichten religiösen Fanatismus befreien konnte.

Es wundert mich nicht, dass sich die Teenies im Feriencamp—ausser meinem Freund Roger natürlich, dem das ganze Getue eiskalt am Arsch vorbei ging—ebenfalls dieser Ohnmacht hingegeben hatten. Im Nachhinein überrascht mich bloss, wie schnell alles ging. Vom Ungläubigen zum Gottesfürchtigen in zwei Wochen. Die Vergangenheit hat schon mehrfach bewiesen, dass die wenigsten dagegen immun sind—vor allem im Teenie-Alter. Aber es am eigenen Leib zu erfahren, ist nochmals eine eigene Geschichte. Glücklicherweise haben meine Alarmglocken inzwischen eine gewisse Affinität entwickelt und warnen mich heute rechtzeitig vor ähnlichen Situationen.

Und es stimmt: Fast wie Sex gibt es einem ein schönes warmes Gefühl, sich Gott hinzugeben. Zu akzeptieren. Es ist einfacher, passiv statt aktiv durchs Leben zu gehen. Zu reden, statt zu handeln. Ich verstehe auch die Sehnsucht nach einem Gemeinschaftssinn: Nie mehr allein sein, zu etwas Grösserem dazugehören. Doch man gehört halt nur dazu, solange man mitspielt und sich der totalen Machtlosigkeit hingibt.

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Titelfoto: Bad Kleinkirchheim | Flickr | CC BY 2.0