Liebe auf den ersten Blick war es nicht. Eigentlich warst du mir sogar ein bisschen peinlich, anfangs, als wir uns noch nicht kannten. So manche Touristin stand schon auf dir. So mancher Hedgefond-Manager jagte schon mit dir und seinem Manager-Rudel durch die Stadt und feierte diese perverse Verkehrsorgie dann als “Team-Building-Event“. Nein, eigentlich warst du nicht mein Typ.
Trotzdem stehst du an diesem rauen Sonntagmittag vor mir. Von allein und ausbalanciert. Links der Checkpoint Charlie, rechts hämmern Touris auf Kameraauslöser. Aber ich habe nur Augen für dich: zwei Lithium-Akkus, Rückleuchte, schwarze Felgen, schwarze Klingel, 47 Kilo schwer, Kennzeichen 609 0S0. Du gehst mir nur bis zur Brust, aber hey, Size doesn’t matter, oder? Der Typ, der dich vermietet hat, gab dir die Nummer 18 und sagte, dass du bereits auseinanderfällst. Du bräuchtest eine neue Frontleuchte und dein linkes Rad eiere ein bisschen rum. Aber ich wollte mal was Neues ausprobieren.
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Eine Woche will ich deshalb jeden Weg mit dem Segway fahren. Bei jedem Wetter, zu jeder Tageszeit, auch im Büro. Vielleicht klappt es ja mit uns.
Warum ich mir das antue, fragt ihr euch wahrscheinlich.
Segway-Fahren ist ein bisschen wie Sex mit Socken. Peinlich, wenn man es macht. Noch peinlicher, sobald man es zugibt. Die meisten haben Segway-Fahrer und Fahrerinnen sicher mal fremdschämend angelächelt, wenn sie mit der Körperhaltung einer trockenen Spaghetti über die Straße rattern. Aber irgendwann siegt Neugier über Romantik, das Verlangen steigt, die metaphorischen Socken anzubehalten und das Selbstwertgefühl abzulegen und man fragt sich: Wie ist das denn eigentlich so? Ist es wirklich so idiotisch wie es aussieht?
Tag 1: Annäherung
Der erste Fuß auf einem Segway ist wie der erste Schritt auf der fast 60 Meter hohen Glasplattform des Eiffelturms. “Ist doch, ähm, stabil!”, denkt man, rührt sich aber nicht. Der Segway-Mann erzählt von Gleichgewichtssensoren und dynamischer Stabilisierung, alles sei perfekt ausbalanciert. “Aha, so ‘ne Art Anti-auf-die-Fresse-System!”, scherze ich, rühre mich aber nicht. Zwischen meinen Knöcheln blinken fünf grüne Lämpchen hypnotisierend im Kreis. “Wenn sie gleichmäßig aufleuchten kannste drauf”, sagt der Typ, aber ich kann mich nur auf den Sticker darüber konzentrieren: ein nach hinten stürzendes Strichmännchen und die Aufschrift “Warning! Risk of death”.
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Zehn Minuten später rolle ich durch Berlin-Mitte. Die Steuerung ist ziemlich einfach: Lehnt man die Hüfte nach vorne, fährt man vorwärts, umgekehrt bremst man oder fährt rückwärts. Am Checkpoint Charlie schwinge ich mich in Slaloms durch die Touristenmengen. Eigentlich schafft der Segway bis zu 20 km/h, aber da es sich immer noch sehr schräg anfühlt, ein Fahrzeug nicht mit einem Gaspedal, sondern galanten Hüftschwüngen zu steuern, schleiche ich im Schritttempo Richtung Ostberlin. Dabei starren mich immer wieder Leute an. Rentnerpärchen, Eltern, Kinder. An der Warschauer Straße schaue ich in die kalten, fiesen Augen einer französischen Bulldogge, die gerade gegen einen Hydranten kackt. Sein Besitzer hockt daneben, in der Hand eine braune Plastiktüte, und ist mitten in der Bewegung erstarrt.
So schnell man lernt, wie man einen Segway fährt, so schnell checkt man, wieso es so affig wirkt. Die steife Roboter-Haltung. Der Hüftschwung. Das ratternde Fahrgeräusch, das sich anhört als würde man ein Rollo zu schnell runterlassen. Die Werbung für “Seg-Touren, mehrfach täglich”. Der Helm. Die fast schon schmerzhafte Ähnlichkeit mit einem Handrasenmäher. 2001 wurde der erste Segway in den USA präsentiert, erst acht Jahre später waren sie auf deutschen Straße erlaubt. Und seitdem tragen Segways im Juristendeutsch den sexy Namen “elektrische Mobilitätshilfe“, was ein bisschen wie die aufgearbeitete und zugleich künstlich-beatmete Elon-Musk-Version eines Rollators klingt.
Tag 2: Zwiespalt
Montag, acht Uhr morgens. Der Fernsehturm ist in Nebel getaucht und die Karl-Marx-Allee voller Fahrradpendler. Normalerweise bin ich einer dieser verwöhnten BVG-Sklaven, die nur mit den Öffis unterwegs sind. Der Segway soll das ändern. Dabei habe ich keinen Schimmer, wie ich überirdisch zur Arbeit fahren muss. Ich gebe die Adresse in mein Handy-Navi ein, stecke es in die Jackentasche und fahre los. Das Problem dabei: Ich bin zu schnell für einen Fußgänger und zu langsam für ein Auto. Und mein Navi ist völlig überfordert.
“Nach 50 Metern, biegen Sie rechts ab.”
“Nach 200 Metern, biegen Sie rechts ab.”
“Bei der nächstmöglichen Gelegenheit, bitte wenden.”
Zehn Minuten irre ich am Strausberger Platz rum, auf der Suche nach der richtigen Ausfahrt. Fahrradfahrerinnen klingeln mich wütend an, weil ich im Tempo einer angeschossenen Schildkröte über den Radweg schleiche. Nach weiteren zehn Minuten verzweifeln Handy und Besitzer völlig. Es sind Minus zwei Grad, mein Gehirn verwandelt sich in ein breiiges Slush-Getränk, ich stehe auf einem verdammten Segway und der Segway steht still. Ein in die Höhe gestreckter, menschgewordener Mittelfinger aus Eis. Ich möchte vor Verzweiflung lachen, habe aber keine Kontrolle mehr über meine Gesichtsmuskulatur.
Da ich sowieso zu spät zur Arbeit komme, fahre ich stattdessen an die Spree. Mittlerweile ist auch das Wetter aufgetaut. Pärchen und Touristen flanieren am Ufer entlang. Ich nutze den spontanen freien Tag und teste die Grenzen des Segways aus. Kann man ein Wettrennen gegen eine Möwe gewinnen? (Nein, kann man nicht.) Kotzt man, wenn man sich zu schnell im Kreis dreht? (Nein, tut man nicht. Erstaunlicherweise.) Wie sicher fliegt man auf die Fresse beim blinden Rückwärtsfahren? (Aus Präventionsgründen: Nicht ausprobieren. Es ist SEHR gefährlich!) Der einzige bekannte Todesfall mit einem Segway ist der des Firmenbesitzers James Heselden. Er verunglückte vor fast zehn Jahren und stürzte von einer Klippe in Yorkshire. Und ja, er fuhr dabei einen Segway.
Tag 3: Vertrauen
So langsam bauen wir eine intime Beziehung auf. Als Hommage an seine touristischen Wurzeln, klappern wir nun Berliner Sehenswürdigkeiten ab. Unsere erste Station ist die East Side Gallery. In Schrittgeschwindigkeit rolle ich die Berliner Mauer entlang. Da der Segway keine Dämpfung hat, stirbt mit jedem Schlagloch ein Teil meines Nervensystems. Vor dem Bruderkuss halte ich, weil hier jeder hält und für ein Foto ansteht. Etwa 20 Menschen warten bereits, Spanier, Italiener, Chinesen. Dass ich eine Touri-Ikone fahre, beeindruckt die Wenigsten. Noch weniger akzeptieren sie, dass ich mich langsam Richtung Bildmitte dränge. “Ich bin Berliner und ganz schnell wieder weg”, hauche ich schwach. Die Touristen bilden einen Halbkreis um mich, Hass funkelt in ihren Augen. “Mein Gott, hilf mir, diese tödliche Liebe zu überleben”, steht hinter mir auf dem Kunstwerk. Wie wahr. Ich fuchtele ein paar “Peeeace!”-Posen in die Kamera und hoffe, dass der Segway genügend Antrieb hat, um einem wütenden Mob zu entkommen.
Mein nächstes Ziel ist es, durchs Brandenburger Tor zu fahren. Tatsächlich war ich noch nie dort, obwohl ich seit mehreren Jahren in Berlin wohne. Kleiner als auf den Bildern, denke ich, als ich davorstehe, aber so ist es ja oft in der Realität. Vor dem Tor spricht eine russische Journalistin in eine Kamera. Ich versuche so unauffällig wie möglich durchs Bild zu rollen, was leider mit einer Segway-bedingten Körpergröße von zwei Metern nicht so einfach ist. Der Kameramann winkt mich zornig beiseite, aber zu spät, ich bin wahrscheinlich längst im russischen Fernsehen.
Ich fühle mich wohl hier, weil niemand mich beobachtet. Vielleicht ist das Brandenburger Tor eine Art Safe-Space für Segways.
Auf dem Pariser Platz steht ein nackter Mann auf seinem Fahrrad, lange Haare, schlanker Körper, Arme mit Peace-Zeichen in den Himmel gereckt, und brüllt: “Ich ernenne mich zum deutschen Kaiser! Deutschland den Deutschen!” Ganz nackt ist er nicht, er trägt Bergsteigerschuhe und eine blaue Socke in Form eines glubschäugigen Elefanten um seinen Penis. Eine Art Reichsbürger-Adonis. Neben dem Fahrrad steht ein großes Schild mit der Aufschrift “Strich die DDR VOT7e”, flankiert von zwei Deutschlandflaggen und einer selbstgebastelten Friedenstaube aus Pappe. Etwa 30 Schaulustige bilden eine Arena um ihn. Touristen, Rikscha-Fahrer, ein kleiner Asiate im Zebra-Anzug und Elvis-Perücke. Ich fühle mich wohl hier, weil niemand mich beobachtet, sondern alle nur den Rüssel anstarren. Vielleicht ist das Brandenburger Tor eine Art Safe-Space für Segways. Solange jemand noch freakiger ist als du.
Tag 4: Verliebtheit
Letzte Nacht habe ich von Segways geträumt. Ich brettere einen Berg runter, aber die Bremse funktioniert nicht. Als ich fast über eine Klippe stürze, wache ich auf. Beim Frühstück denke ich an Segways. Beim Sitzen hallt noch dieses schwingende Fahrgefühl des Segways nach, wie wenn man zu lange Trampolin gesprungen ist. Ist das dieses … Verliebtsein?
Ich muss den Kopf freibekommen, ziehe meine Sportklamotten an und fahre zum Volkspark Friedrichshain. Auf dem Weg laufen Jogger an mir vorbei, ihr Schnauben und Keuchen ist fast lauter als mein Elektromotor. Seit ein paar Jahren gibt es Fahrrad-Yoga, habe ich gelesen. Radfahrer, die auf dem Sattel einen Lotussitz machen, zum Beispiel. Ein Berliner Team bietet sogar ausschließlich solche Kurse an. Weil es (noch) kein Segway-Yoga gibt, muss ich meine Übungen improvisieren. Echte Pionierarbeit! Ich fahre freihändig (inneres Gleichgewicht), stemme meine Arme gegen den Lenker (Kraft) und dehne meine Hände beim Fahren (Gelenkigkeit).
Durch das Segway-Yoga (bereits patentiert!) spüre ich eine stärkere Energie zu meinem Fahrzeug. Ich möchte mich selbst und den Segway besser kennenlernen und beschließe, heute einen Pärchentag zu machen.
Zu meinem neuen Ich gehört auch ausgewogene Ernährung. Nach dem Sport fahre ich zu einem Wochenmarkt am Wittenbergplatz. Bunte gestreifte Zelte und frierende Gemüseverkäuferinnen. Rentner schauen mich neugierig an und grüßen freundlich.
“Na, das ist ja was, wieso fallen Sie denn nicht um auf dem Teil?”
“Das, äh, balanciert sich von selbst aus. Automatisch!”
“Aha, na sowas! Toll, was es heute so gibt!”
Bei einem Gemüsestand treffe ich Deniz, einen rundlichen Mittzwanziger mit Vollbart und Bomberjacke. “Boah, geil, ich wollte schon immer so’n Ding fahr’n!”, ruft er und haut seinem Kollegen gegen die Brust. Dass ich sein Traumgefährt fahre, bringt ihn aber nicht davon ab, seine harten Preise zu behalten. Ich kaufe zwei Zucchinis, einen Römersalat, Koriander, Petersilie und eine Gurke. Bei sechs Clementinen frage ich, ob er mit dem Preis runtergehen kann. Aber Deniz bleibt stur, auch als ich ihm anbiete, eine Runde mit dem Segway über den Markt zu drehen.
Tag 5: Eifersucht
Als ich an diesem Donnerstagmorgen ins Büro fahre, spüre ich ihre Blicke. Sie checken dich aus, starren dir auf deine Räder, wenn sie denken, dass ich es nicht merke. “Was hast du da denn angeschleppt”, fragt ein Kollege. Ich fahre mit dem Segway in die Morgenkonferenz, ein enger Raum mit Glaswänden und acht sprachlosen Redakteurinnen und Redakteuren. Reifen quietschen auf dem Boden. Während wir über Pitches und die Themen des Tages diskutieren, rauscht der Motor, gerade laut genug, um alle in den Wahnsinn zu treiben. “Ist das … Teil des Artikels?”, fragt unser Chef vom Dienst. “Können wir den sonst ausmachen? BITTE?!”
Nach der Konferenz kommt der Chefredakteur auf mich zu. “Unter normalen Umständen, wärst du längst aus der Konferenz geflogen”, sagt er. “Aber, ähm, kann ich den auch mal ausprobieren?”
Fünf Minuten später rast er durch die Redaktion. Er lehnt sich nach vorn und jagt vorbei an Tischen und Kollegen, 40 Meter durchs Büro, reißt beinahe Regale und Bierkästen um, “BIST DU SCHON MAL RÜCKWÄRTS GEFAHREN!?” 20 Minuten geht das so. Dann testet er die Feinmotorik. Der Mann, der normalerweise Texte und Themen innerhalb von Sekunden zerreißt, mein Chef, ein 2-Meter-Hüne, dreht sich nun im Kreis, auf einem Segway, und haucht: “Huiii, auch wenn man’s langsam macht, wird mir richtig schwindlig.”
Jetzt will die ganze Redaktion fahren. Die Social-Media-Redakteurin fragt, ob wir draußen in den Hof können. Ein anderer Kollege, der normalerweise über Clan-Kriminalität in Berlin schreibt, schunkelt mit rudernden Hüftschwüngen über den Platz, die man normalerweise nur bei sehr erfahrenen Pornodarstellern sieht. Er dreht mehrere Runden und wird von den Kollegen angefeuert. “Wenn ich so damit fahre, find ich’s gar nicht mehr idiotisch”, sagt er. Mittlerweile kommen auch Leute aus den benachbarten Büros und fragen, ob das “für einen Artikel ist” oder ob wir einfach nur verrückt sind. Der Innenhof mutiert zum Segway-Stadion, Zigaretten werden angeboten, Handys gezückt. Ist das einer dieser vermeintlich unschuldigen Momente, die in einer dystopischen Blackmirror-Folge enden?
Tag 6: Kontrollverlust
Ich breche aus. “Es heißt, eine freie Straße hilft einem beim Nachdenken”, sagte mal Dominic Toretto in Fast and Furious. “Darüber wo man war, wo man hin will.” Wo in Berlin ich eine freie Straße finden soll, weiß ich noch nicht. Aber ich muss hier raus. Ich brettere auf dem Seitenstreifen durch die Stadt, auf diesem schmalen Fleck Asphalt, wo man entweder wegen eines toten Winkels drauf geht oder einer sich öffnenden Autotür. Im Vorbeifahren klingle ich einen Typen weg, der eine Kinderbox vor seinem Fahrrad herschiebt, zu langsam! Je weiter ich die Stadt hinter mir lasse, desto freier fühle ich mich. Der Fahrtwind fühlt sich großartig an. Ob sich Niki Lauda auch so gefühlt hat, als er 1975 zum ersten Mal die Formel-1-Weltmeisterschaft gewann?
Ich halte erst an, als ich den Sonnenuntergang in Brandenburg sehe. Siedlung Wartenberg, Bushaltestelle 256, der vorletzte Stopp vor der großen unbekannten Freiheit. Plattenbaus reihen sich neben Bungalows, die Straße ist nur breit genug für ein Auto. Oder ein Segway. Straßennamen gibt es hier nicht, nur Nummern. Auch ich lege meine persönliche Vergangenheit ab und nehme eine neue Gestalt an. Ein ACDC-ballernder Segway-Biker, eine Verschmelzung von Mensch und Maschine.
“Ist das Magie?”
“Nein, Schatz, das ist ein Segway. Wenn du größer bist, darfst du so einen vielleicht auch mal fahren.”
Aus der Straße 6 kommt eine Mutter und ein kleiner Junge im blauen Daunenmantel. Er zeigt auf mich und fragt: “Ist das Magie?” Seine Mutter zerrt ihn weiter. “Nein, Schatz”, sagt sie. “Das ist ein Segway. Wenn du größer bist, darfst du so einen vielleicht auch mal fahren.” Eigentlich wäre ich gerührt. Aber mein neues Ich als Mobilitätshilfen-Outlaw lässt keine Emotionen zu.
Ich will dich nicht zurückgeben. Ich will auch nicht zurückkehren. Die Woche mit dir hat mir gezeigt, was Freiheit eigentlich bedeutet. Auf dem Gehweg fahren, auch wenn es nicht erlaubt ist. Sich gegen penetrante Radfahrerinnen und Chefredakteure durchsetzen. Zu etwas stehen, auch wenn es peinlich ist. Dabei bist du wunderbar, wenn man dich nur kennenlernt. Ich halte meine Hand gegen den Wind und stecke mir eine Zigarette an. “Komm Baby, lass uns durchbrennen”, flüstere ich. 40 Kilometer schafft der Akku. Und vielleicht kommen wir damit an den Ort, wo der Sonnenuntergang anfängt. Oder zumindest bis nach Mecklenburg-Vorpommern.
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