Jedes Mal, wenn eine Verhandlung in einem Fall von häuslicher Gewalt bevorstand, habe ich versucht, mich zu übergeben. Ich dachte, dass ich mich dadurch besser fühlen würde.
Meist begann dieses Gefühl schon Tage zuvor—ganz langsam und schubweise. Manchmal saß ich an meinem Schreibtisch oder ich aß zu Mittag oder ich föhnte gerade meinte Haare, als mir plötzlich schlagartig übel wurde, weil ich mich wieder daran erinnerte, dass ein Prozess bevorstand. Dass ich das Gesicht des Opfers sehen würde und es sich wie ein Tritt in die Magengrube anfühlen würde. Dann verging es wieder. Am Abend vor dem Prozess, wenn ich die letzten Änderungen an meinen Fragen vornahm, mein Eröffnungsplädoyer übte und zum siebten Mal durch die Akten ging, wurde es dann meist richtig schlimm. Ich habe dann immer versucht, etwas zu finden, womit ich mich von dem bevorstehenden Prozess ablenken konnte, aber da überkam mich meist schon wieder dieses Gefühl—dieses kleine, hartnäckige Gefühl, direkt hinter meinem Bauchnabel. Am Morgen des Prozesstags ging ich duschen, zog meinen Anzug an und stieg ins Auto, während das Gefühl die ganze Zeit über stärker wurde und immer weiter nach oben wanderte. Es war eine Mischung aus Angst, schlimmen Erwartungen und Magenverstimmungen. Es füllte meinen gesamten Brustkorb, verschlang mein Herz und krallte sich schließlich in meiner Kehle fest. Es war dieses ganz bestimmte Gefühl, das man hat, wenn einen der eigene Kopf krank macht.
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Bei Fällen von häuslicher Gewalt geht man als Staatsanwalt—im Gegensatz zu anderen Fällen—bereits mit der Erwartung hinein, dass man verlieren wird. In der Regel begleitet einen dabei allerdings eine gesunde Portion Verleugnung. Niemand möchte einen verlorenen Kampf kämpfen. Die Wahrheit ist aber, dass es ein absolutes Wunder ist, einen Fall von häuslicher Gewalt zu gewinnen—eine Verkettung glücklicher Umstände von guter Polizeiarbeit, einem entschlossenen Opfer, einem fairen Richter, einem moralischen Verteidiger, einer halbwegs intelligenten Jury und einem kompetenten Staatsanwalt. Viele Fälle gewinnt man bereits mit zwei oder drei dieser Punkte. Bei Fällen von häuslicher Gewalt braucht man alle und selbst dann ist es noch möglich, dass man den Fall verliert.
Das erste Mal, als ich den Vorsitzenden der Jury sagen hörte „Nicht schuldig”, hatte ich bereits vergessen, was das heißt. Ich musste mich selbst daran erinnern, was „schuldig” überhaupt bedeutete, was dumm ist, weil jeder, der schon mal eine dieser Gerichtssendungen im Fernsehen gesehen hat, weiß, was es bedeutet. Als mir klar wurde, was das heißt—und zwar, dass ich verloren hatte—, fühlte ich mich, als würde jemand meine Dünndarm schnappen und fest zudrücken. Und als wäre das nicht eigentlich schon schlimm genug gewesen, musste ich in diesem Fall anschließend auch noch in einen kleinen fensterlosen Raum, in dem das Opfer seit mehr als fünf Stunden wartete, um ihm zu erklären, dass ich versagt hatte. Trotz aller Bemühungen konnte ich die Jury nicht davon überzeugen, ihr zu glauben. Während sie weinte und sich die Tränen an den Ärmeln abwischte, weil sie all ihre Taschentücher schon aufgebraucht hatte, sagte ich ihr, dass ihr Ehemann nicht ins Gefängnis kommen würde, weil er sie geschubst, gewürgt und festgehalten hatte und auch nicht, weil er für die Prellungen an ihren Beinen verantwortlich war.
Ich konnte die Jury nicht davon überzeugen, ihr zu glauben.
Vor zehn Jahre, als ich gerade frisch aus der High-School kam und ich mich verzweifelt von der Menge abheben wollte, habe ich mir den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen auf die Fahnen geschrieben. Daraus entwickelte ich mein Abschlussprojekt: ein Stück mit dem Titel Das Jane Doe Projekt, das die Geschichten von Opfern häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch erzählte. Es war ein Riesenerfolg. Es war sogar in der Zeitung. Und jemand von einem lokalen linkspolitischen Blog namens MediaMoouse berichtete darüber. Nach wie vor ist das das erste Ergebnis, auf das man stößt, wenn man bei Google nach meinem Mädchennamen sucht. Es sieht so aus, als wäre dies das Erlebnis, das meine Laufbahn geprägt hat.
Heute fühle ich mich wie eine Heuchlerin.
Nach meinem Studium wurde ich Staatsanwältin. Das war das Einzige, was ich mit meinem Jura-Abschluss machen wollte. Ich dachte, ich würde für das Gute kämpfen, den Stummen eine Stimme verleihen. Ich bekam eine Stelle in einem kleinen Bezirk im Herzen von Michigan. Doch schon etwas mehr als ein Jahr später kündigte ich wieder—aus verschiedenen Gründen. Einer davon war, dass ich nicht mehr wusste, wie ich meine Tätigkeit als Staatsanwältin weiter mit mir vereinbaren könnte, vor allem in Fällen von häuslicher Gewalt.
Mein erster Fall von häuslicher Gewalt wurde mir von meinen Kollegen bereitwillig überlassen, nachdem der Prozess durch das Opfer, das seine Aussagen immer wieder widerrief, verzögert wurde. Meine Kollegen konnten die Niederlage bereits wittern und reichten den Fall deshalb schon länger untereinander herum. Ich hingegen war die Neue. Ich musste mich beweisen. Und in gewisser Weise war ich davon überzeugt, ich könnte die Welt verändern, wenn ich in der Lage wäre, dieser Frau zu helfen.
Folgendes war passiert: Eine vierköpfige Familie—der Sohn, die kleine Tochter, die Mutter und der Stiefvater—gerieten in einen Streit. Der Grund für den Streit war egal, weil er sich sowieso jedes Mal änderte, je nachdem, mit wem man sprach. Vielleicht hatte der Sohn den Mund zu voll genommen. Vielleicht hatte jemand den Angeklagten (den Stiefvater) gegen eine Kiste geschubst. Einer hatte sich auf den anderen gestürzt. Die Mutter bekam Prellungen. Der Sohn hatte einige Rötungen. Der Vater wurde wegen Körperverletzung am Sohn und häuslicher Gewalt an der Mutter angeklagt. Jeder hatte etwas anderes beobachtet. Jeder hatte eine andere Sicht der Dinge und im Gegensatz zu all den Fernsehshows sind Verletzungen in der Realität auch sehr subjektiv.
Ich beschrieb die Vorfälle in meinem Eröffnungsplädoyer: Der Angeklagte hatte den Sohn am Handgelenk gepackt und ihn gegen die Wand geschleudert. Sie fingen an zu kämpfen. Der Angeklagte trat den Sohn in den Bauch. Die Mutter versuchte, ihren Sohn zu schützen. Dann legte der Angeklagte seine Hände an den Hals der Mutter.
Sie sahen aus wie eine nette Familie. Man hört immer davon, dass sich häusliche Gewalt nicht am Einkommen oder dem Wohnort festmachen lässt, aber daran glaubt eigentlich niemand. Ich wusste das nicht, beziehungsweise wollte es nicht glauben, bis ich diese dünne, weiße Mutter von drei Kindern, ungefähr Anfang 40, traf. Sie arbeitete als Massagetherapeutin. Sie waren gerade erst in das neue gemeinsame Haus gezogen. Kein Trailer, keine Bude mit einer Matratze auf dem Boden, sondern ein Haus mit mehreren Schlafzimmern, die sie selbst gestrichen und eingerichtet hatten. Ihren ältesten Sohn und ihre Tochter brachte sie aus einer früheren Beziehung mit, aber sie wirkte nicht so, als wäre sie verzweifelt auf der Suche nach Liebe. Ihre Kinder waren höflich und freundlich. Sie liebten Süßigkeiten und lachten, wenn die Lutscher, die ich in meinem Schreibtisch aufbewahrte, ihre Zungen in unnatürlich grellen Farben färbten. Der Angeklagte war ein breiter Kerl, aber nicht einschüchternd. Er trug eine Brille und einen getrimmten Ziegenbart. In all den Monaten, die ich mit diesen Leuten verbracht hatte, musste ich immer wieder daran denken, dass sie sich kein bisschen von den anderen Familien, mit denen ich aufgewachsen war, unterschied.
Sie waren ganz normal.
Wenige Wochen vor dem Prozess wurde die Mutter auf einmal extrem unkooperativ. Ihre Geschichte veränderte sich und sie sagte dem Verteidiger, dass sie nicht als Zeugin aussagen wolle. Sie wollte einfach nur, dass ihr Mann zurück nach Hause kommt und war wütend, dass sie ihn aufgrund der Kontaktsperre, die unser Büro durch einen Richter veranlasst hatte, nicht sehen durfte. Zurückblickend habe ich getan, was wohl am Schlimmsten für sie gewesen war: Ich hatte sie davon überzeugt, mit uns zusammenzuarbeiten.
Sie kam in mein kleines, beengtes Büro, das ich mir mit einem anderen Bezirksstaatsanwalt teilte. Der Raum wurden von diesen typischen halbhohen Trennwänden unterteilt. Während ihre Kinder vor der Tür warteten, starrte sie regungslos vor sich hin. Ihr Gesicht sah aus, als wäre es aus bebendem Stein. Ihr Kiefer war verkrampft und ihre Hände lagen regungslos auf ihrem Schoß, während sie zur Seite auf den Boden sah. Sie war angezogen wie jede andere Mutter—mit Jeans und einem Oberteil. Ihre Haare waren so gelockt, dass sie nass und zugleich strohig aussahen.
Mit zitternder Stimme begann ich, ihr zu erklären, warum ich mit ihr sprechen wollte und dass ich ihre Zeugenaussage durchgehen wollte. Während ich sprach, starrte sie an die Wand und schüttelte immer wieder ruckartig und brummend den Kopf. Sie wollte, dass das alles aufhört. Sie wollte keinen Prozess. Sie liebte ihren Mann. Während sie das sagte, sah sie mir nicht länger als ein paar Sekunden direkt in die Augen. Ich holte tief Luft und sagte ihr, was ich am Morgen bereits immer und immer wieder in meinem Kopf geübt hatte: „Was er getan hat, war nicht in Ordnung.” Ich versuchte, nicht so zu klingen, als würde ich sie anflehen. Ich sagte ihr, dass sie etwas Besseres verdient hätte als das. Dass er niemals seine Hand gegen sie hätte erheben dürfen. Sie blieb resolut. Sie wollte nicht nachgeben. Sie ließ ihren Blick durch den Raum wandern und vermied weiterhin jeglichen Blickkontakt mit mir.
Sie wollte, dass das alles aufhört. Sie wollte keinen Prozess. Sie liebte ihren Mann.
Vielleicht hätte ich an dieser Stelle einfach aufgeben sollen. Aber das tat ich nicht. Ich dachte wirklich, dass das, was ich tat, das Beste für sie wäre, aber gleichzeitig wollte ich den anderen auch etwas beweisen und ich wollte die Verteidigerin schlagen, die ich schon jetzt hasste. Ich handelte also nicht ganz uneigennützig.
Ich sprach von ihren Kindern, sagte ihr, dass auch sie etwas Besseres verdient hätten. Ich sagte ihr, dass sie ihrer Mutter etwas anderes wünschen würden und dass sie ihre Mutter so nicht sehen sollten. Endlich sah sie mich an. Ihr kamen die Tränen—erst aus Frustration, dann aus Scham. Weit nach Feierabend gestand sie mir dann, dass ihr Mann auch in der Vergangenheit bereits gewalttätig geworden sei, dass er derjenige sei, der gewalttätig war und dass sie versucht hatte, ihren Sohn zu schützen. Sie wollte ein neuer Mensch werden. Sie wollte ihn verlassen.
Doch das war vollkommen belanglos. Während dem Prozess ließ der Verteidiger Freunde und Familie im Gerichtssaal erscheinen, die alle bezeugten: „Ich habe noch nie in meinem Leben erlebt, dass er irgendwie wütend geworden wäre.” Und nachdem ich mir Lüge um Lüge angehört hatte, wollte ich irgendwann nur noch aufstehen und schreien, dass sich der ganze Prozess in einen riesigen Haufen Bullshit verwandelt hat. Gemäß den bei Strafverfahren geltenden Regeln sind allerdings weder „Bullshit” noch „offensichtliche Lügen” Grund genug für Einwände. Also gingen die Lügen weiter—mit Freunden, die mehrmals behaupteten, dass der Sohn bereits in körperliche Auseinandersetzungen mit anderen Familienmitgliedern geraten war, was sie überhaupt nicht wissen konnten, selbst wenn es wahr gewesen wäre. Es war auf jeden Fall kein zulässiger Beweis. Aber der Zug war längst abgefahren. Der Richter kannte das Gesetz nicht und vertraute mir nicht, dass ich wusste, wovon ich sprach. Und die Verteidigerin war ausgebufft genug, um all das zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen.
Ich habe verloren. Und die Frau, die ich retten wollte, sah mich komplett verwirrt an. Ihre hohlen Augen verrieten, dass sie seit Wochen nicht gelacht hatte. Ihre dünnen, ausgehangenen Locken, umrahmten ihr Gesicht. Sie sah aus wie jede andere Kleinstadtmutter, mit der ich aufgewachsen war. Die Wände zwischen dem Gerichtssaal und dem Warteraum waren sehr dünn. Sie hatte also all die Lügen von den Menschen, die sie ihre Familie nannte, gehört. Sie wollte wissen, was sie jetzt tun sollte. Das Beste, was ich ihr raten konnte, war ihr zu sagen, wo sie Personenschutz beantragen konnte.
Meine 45-minütige Fahrt nach Hause verbrachte ich damit, zu weinen und niedergeschlagen, laut und eklig zu schluchzen. Als ich zu Hause ankam, konnte ich einfach nicht aus meinem Wagen aussteigen. Als mein Freund, mit dem ich mittlerweile verheiratet bin, in die Garage kam, war alles was ich tun konnte, zu schreien: „Ich habe verloren!” Dabei ließ ich die Stirn auf das Lenkrad fallen. Ich hatte mich voll und ganz in diesen Fall gestürzt. Ich wollte, dass sie in Sicherheit war. Ich glaubte ihr und ich glaubte ihr, dass sie diesen schändlichen Mann aus ihrem Leben haben wollte.
Das war vor drei Jahren. Vor einigen Tagen habe ich die Mutter auf Facebook gesucht. Sie war wieder mit dem Mann zusammen, der sie misshandelt und ihren Sohn angegriffen hatte. Auf ihrem Profil sieht man ein Foto, wie die ganze Familie Grimassen schneidet. Bilder vom Strand, Bilder vor dem Weihnachtsbaum aus dem Jahr nach dem Prozess. Ich kenne sie nicht und ich kenne ihre Geschichte nicht. Aber ich würde sagen, sie sieht gut aus. Es gibt hunderte Studien mit einem halben Dutzend Antworten auf die Frage, warum Frauen in Beziehungen bleiben, in denen der Partner Gewalt gegen den anderen ausübt, aber ich kann trotzdem nicht behaupten, dass ich mich damit besser auskenne, als irgendjemand sonst. Wenn man den Angaben auf Facebook vertraut, dann waren die Mutter und der Angeklagte schon zwei Monate nach dem Prozess wieder zusammen.
Als Staatsanwältin wurde ich oft angeschrien: Manchmal von den Verteidigern, manchmal auch von den Leuten, die ihre Strafzettel nicht bezahlen wollten. Aber die Opfer häuslicher Gewalt haben mich öfter angeschrien als alle anderen.
Wenn ich versuchen würde, mich daran zu erinnern, was genau sie mir gesagt haben, dann wäre das, als müsste ich mich an einen Songtext in einer anderen Sprache erinnern. Die Worte verschwimmen in einer riesigen Masse wie ein geheimnisvoller griechischer Choral. Ich weiß noch, wie einmal eine Frau zu mir meinte, dass sie wollte, dass die Anklage fallen gelassen wird, weil er die Schlüssel zu ihrem Wagen hatte und sie irgendwie zur Arbeit kommen musste—als wäre die gesamte Situation nur eine weitere Unannehmlichkeit und kein Verbrechen.
Ich bekam oft Sätze zu hören wie: „Das hat er wirklich nicht so gemeint”, „Ich hätte die Polizei nicht rufen sollten”, „Das ist nur ein wenig aus dem Ruder gelaufen—das ist nicht weiter schlimm.”
Ich zerstörte ihr Leben. Ich kannte ihre Partner nicht. Ich verstand nicht, was ihre Beziehungen ausmachte. Oft war ich froh, dass sie nicht ans Telefon gingen.
Ich verbrachte Wochen damit, ein Opfer ausfindig zu machen, nur damit die Polizei eine Adresse hatte, wo sie die Vorladung vorbeibringen konnte. Als ich die Frau dann doch irgendwann ans Telefon bekam, fing sie an, mich zu beschimpfen und endete damit, dass sie mir sagte, dass sich mein privilegierter Arsch besser um seinen eigenen Scheiß kümmern sollte.
Ich zerstörte ihr Leben. Ich kannte ihre Partner nicht. Ich verstand nicht, was ihre Beziehungen ausmachte.
Ihr Fall kam zwar trotzdem vor Gericht, sie erschien jedoch nie. Der Verteidiger ging mir so lange auf die Nerven, bis ich den Fall trotzdem annahm. Ich dachte sogar, ich hätte eine Chance. Zwei Tage zuvor sagte mir ein unabhängiger Zeuge, der besorgt genug gewesen war, um die Polizei zu rufen, dass er gesehen hatte, wie die Frau das Haus verlassen hatte. Er sagte, sie hätte ihm gesagt, dass sie Angst hätte und er meinte, dass sie erschrocken aussah. Ich dachte, damit könnte ich etwas anfangen. Aber als dieser Typ—Mitte Zwanzig, dünn und mit komplett tätowierten Armen—im Zeugenstand erschien, konnte er sich an nichts mehr erinnern. Er hatte eine Art selektive Amnesie entwickelt und meinte, dass er sie noch nie gesehen hatte.
Ich passte ihn in der Mittagspause ab. Er sagte mir, er hätte Angst, dass der Angeklagte einen gewissen Ruf hätte und dass er da nicht mit reingezogen werden wollte. Auch im 21. Jahrhundert glauben wir noch immer, dass uns die Beziehungen andere Leute nichts angehen und vielleicht tun sie das auch nicht. Wenn du keine Beziehung hast, wie sollst du es dann wissen? Wie willst du schon wissen, was da wirklich vor sich geht?
Als ich kündigte, war ich es nicht einfach nur leid, angeschrien zu werden—ich war es leid, eine gesamte Beziehung innerhalb der Zeit bewerten zu müssen, die man braucht, um einen Polizeibericht zu lesen. Durch all die Lügen von beiden Seiten war ich abgestumpft und versuchte nur noch zu entscheiden, ob eine Beziehung nun missbräuchlich war oder ob sich die Leute einfach nur gegenseitig vergifteten. Die Wahrheit ist, dass häusliche Gewalt genauso kompliziert und facettenreich ist, wie die Leute, die daran beteiligt sind.
Immer und immer wieder kamen Frauen in mein Büro oder riefen mich an. Die meist schreiten und weinten. Die Wände moralischer Entrüstung, die ich aufgebaut hatte, bröckelten. Was gab mir das Recht zu entscheiden, was das Beste für diese Person war? Woher nahm ich mir das Recht, sie vor Gericht zu zerren? Woher nahm ich mir das Recht, den einzigen Ernährer im Haushalt von der Polizei abholen zu lassen? Woher nahm ich mir das Recht, zu riskieren, dass mal wieder das Jugendamt vor der Tür stand? Es war leicht, über solche Beziehungen zu urteilen, solange ich nur ein „Bewusstsein schaffen” wollte. Es war eine ganz andere Sache, als mein Handeln plötzlich direkte Auswirkungen auf ihr Leben hatte.
Ich nahm das Jane Doe Projekt aus meinem Lebenslauf, bevor ich meine Arbeit als Staatsanwältin kündigte.
Letzten Ostersonntag fuhren wir von meinem Eltern zurück nach Hause. Wir waren auf einer zweispurigen Landstraße unterwegs, die von Farmen und einem daran anschließenden Trailerpark umgeben war. Da sah ich sie plötzlich am Straßenrand stehen: Einen Mann und eine Frau, beide ungefähr Anfang Zwanzig oder vielleicht sogar noch Teenager, die wild mit den Armen um sich schlugen. Ihre gedämpften Schreie konnte man durch die geschlossenen Fenster unseres Wagens hören.
„Whoa!”, entfuhr es mir, während ich auf das Paar zeigte. Mein Mann fuhr langsamer, hielt aber nicht an. Wir sahen ihnen einfach nur zu, während wir näher kamen.
Ich fragte ihn, ob wir anhalten sollten, aber wir fuhren weiter.
Dann holte der Typ zum Schlag aus. Mein Mann drückte auf die Hupe und machte auf der Stelle kehrt.
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Obwohl mein Mann derzeit als Staatsanwalt arbeitet und ich früher mal einer war, zögerten wir beide, als wir das streitende Pärchen sahen. War es ein beidseitiger Streit? Ist das überhaupt wichtig? Sollten wir uns einmischen? Wir riefen die Polizei, als wir klar sahen, dass jemand geschlagen wurde, aber selbst in dem Moment, zögerten wir noch irgendwie. Ich wusste schon, wie das enden würde: mit einem teilnahmslosen Polizeibericht und einem Mädchen, die keine Aussage machen wollten würde, weil sie den Typen liebte, wie sie sagte.
Wir warteten, bis die Polizei da war und beobachteten von unserem geparkten Wagen aus, wie sie sich stritten. Immer und immer wieder ging der Typ weg. Sie lief im nach. Er drehte sich um, schrie sie an und lief weg. Und sie lief ihm immer wieder nach. Ich drehte mich für einen Moment weg und als ich wieder hinsah, sah ich, wie sie auf dem Boden lag und er über ihr stand.
Dann hörte sie auf, ihm nachzulaufen und lief stattdessen in die andere Richtung. Ihre schwarze Leggings war voll hellbraunem Staub. Ihr Freund entfernte sich über das Feld. Wir warteten mit dem Mädchen am Straßenrand, bis ein desinteressierter Polizist kam, unsere Aussagen aufnahm und uns sagte, dass wir gehen konnten. Wir gingen jedoch erst, als die Mutter des Mädchens kam. Sie schrie sie an und meinte, dass sie ihr bereits gesagt hätte, dass der Junge nichts taugte.
Vor zehn Jahren hätte ich ohne zu zögern sofort die Polizei gerufen. Es war eine ganz simple Gleichung: Hitzige Auseinandersetzung plus irgendeine Form der körperlichen Aggression ergibt eine Beziehung, aus der man die Frau rausholen musste.
Doch an diesem Ostersonntag zögerte ich, weil ich so viele offene Fragen hatte. Alles was ich hörte, war ein Mädchen, das seine Mutter anschrie und rief: „Ich gehe deswegen nicht vor Gericht.”